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Juden in Goethes Werken

In seinen Gedichten und Schriften erwähnt Goethe Juden so oft, dass man unmöglich alle Stellen, die Juden betreffen erwähnen kann.

Zunächst hat der angehende Dichter in Rezensionen jüdische Probleme und Belange berührt. Am 1.September 1772 veröffentlichte die Zeitschrift"Frankfurter gelehrte Anzeigen"Goethes Rezension eines Bandes mit Gedichten des polnischen Juden Isachar Bär Falkensohn(1746-1817). Der Titel"Gedichte von einem polnischen Juden" habe auf ihn, den Rezensenten, versicherte der damals 23jährige Praktikant am Reichskammergericht in Wetzlar Johann Wolfgang Goethe,"einen sehr vorteilhaften Eindruck" gemacht. Doch die Lektüre hatte ihn dann dermaßen enttäuscht, dass er dem Autor "die Göttern und Menschen verhaßte Mittelmäßigkeit" vorwarf. Er bemängelte, dass die Gedichte nicht gehalten hätten, was der Titel zu versprechen schien. "Es ist recht löblich ein polnischer Jude sein, der Handelschaft entsagen, sich den Musen weihen, Deutsch lernen, Liederchen ründen; wenn man aber in allem zusammen nicht mehr leistet, als ein christlicher Etudiant en belles Lettres auch, so ist es, deucht uns, übel gethan, mit seiner Judenschaft ein Aufsehen zu machen." Am Ende wünschte sich der Rezensent, dass ihm der polnische Jude, "auf denen Wegen, wo wir unser Ideal suchen, einmal wieder und geistiger begegnen möge." Goethe lehnte die Gedichte ab, weil sie schlecht waren und nicht weil der Verfasser ein Jude war. Antisemitische Voreingenommenheit kann man ihm in diesem Fall nicht vorwerfen, wohl aber erwartete er, wie Philosemiten es auch oft tun, dass ein Jude etwas Besonderes leistet, zumindest mehr als ein Christ. Hatte der junge Goethe tatsächlich die Aufgabe und die Rolle der Juden in der deutschen Literatur und im literarischen Leben des deutschen Sprachraums vorausgeahnt, wie Marcel Reich-Ranicki vermutet, die darin bestanden habe, dass sie in hohem Maße einen relativierenden und irritierenden, einen par excellence provozierenden Einfluß ausübten, was ihnen viele Bewunderer und noch mehr Gegner und Feinde eingebracht habe. Auch in anderen Besprechungen, die man höchstwahrscheinlich als Goethes Eigentum beanspruchen kann, behandelte der Dichter jüdische Belange und prekäre Probleme,die Christen mit Juden zu haben glaubten. Eine Kritik,die sehr wahrscheinlich ebenfalls aus Goethes Feder stammte, wandte sich gegen eine Missionsschrift mit folgenden Sätze:"Herr Schulz ist einer der schlechtesten Missionaire, die jemals Völker verwirrt haben. Die Judenbekehrung ist sein Zweck,und das Talent, das ihn dazu beruft, seine Fähigkeit, Hebräisch zu sprechen und was dazu gehört. Übrigens ohne Gefühl, von dem was Menschen seien, was das Bedürfnis sei, das vor der Erweckung vorhergehen muß, woher es entspringe, wie ihm durch Religion abgeholfen werde. Er läuft durch die Welt, bellt die Juden an, die wenigstens gescheiter sind als er selbst, beißt sich mit ihnen herum,richtet nichts aus,erbaut die guten Leute, die ihn dagegen mit Essen und Trinken erquicken usw. Daß doch auch alle Missionsgeschichten Satiren auf sich selbst sein müssen." Ein anderer Text geht auf die Schmähschrift eines Antisemiten, eines gewissen Herrn J.B.Kölbele aus dem 18. Jahrhunderts ein. Hier die fragliche Stelle: "Nur ein Mann,bey dem der Religionshaß und die Disputiersucht Leidenschaft geworden ist, konnte schreiben:'Gemeine Journalisten können leichtlich den Juden schuldig sein, von reichen Juden Geschenke nehmen, bey reichen Juden schmarutzen, auch durch der Juden Vorschub ein Ämtchen bauen u.s.w.' Denkt der H.K. so unmenschlich, daß er gegen einen großen Teil der Menschen darum keine Pflichten zu haben glaubt, weil sie Juden sind? Liest er so ganz ohne Gefühl, ist er so ganz ausgestopft von Vorurteilen, daß er den Beyfall, den die Mendelsonschen Werke bey allen Vernünftigen erhalten haben wo anders suchen kann als in ihrem inneren Wert?" In einer anderen Rezension von Goethe aus der Frankfurter Zeit heißt es:"So haben die Juden Nation und Patriotismus, mehr als hundert leibeigene Geschlechter." Das Festhalten an der Überlieferung, betont Goethe, hätten die Juden, so fremd sie auch seien, den Deutschen voraus.

Der erste Band von "Des Knaben Wunderhorn"(erschienen 1805) enthielt das Gedicht"Die Juden von Passau", in dem davon erzählt wird, dass Juden angeblich Hostien geschändet haben, dass sie festgenommen und dem christlichen Gericht ausgeliefert worden seien. Goethe, der die Liedersammlung im Januar 1806 in der"Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" besprach, bemerkte zu dem Gedicht lakonisch: "Bänkelsängerisch, aber lobenswerth." Gewiß galt Goethes Lob nicht der Geschichte an sich, nicht dem Berichteten, sondern der Form des Berichts. Aber nicht weniger gewiß ist, dass es für Goethe an dem Inhalt des Gedichts selbst nichts zu tadeln gab. An dort geschilderte Straftaten der Juden wurde damals allgemein geglaubt, und die entsprechenden Strafexekutionen wurden daher als notwendige Folge der Verbrechen durchaus gebilligt. Goethes eigene Jugendwerke enthalten bis 1775 lediglich ein paar Verweise auf händlerische Fähigkeiten und Tätigkeiten von Juden ohne besondere Färbung. Viele recht ambivalente Aussagen über Juden finden sich dagegen in "Wilhelm Meister". Hier werden Geschichte und Religion der Juden zum unabdingbaren Bestandteil religiös-sittlicher Menschenbildung erklärt. Als Wilhelm seinen Sohn Felix der Obhut der "Pädagogischen Provinz" übergeben hat, lernt er auch die dortigen Heiligtümer kennen, sieht an den Wänden die erste echte Religion der Geschichte, der Griechen, die philosophische Religion, die der Weisen, die auch Christus lehrte. Auf Wilhelm Frage, warum zur Darstellung der "Religion der Völker" vorzüglich die israelitische Geschichte gewählt wurde, erhält er die Antwort:"Vor dem ethnischen Richterstuhle, vor dem Richterstuhl des Gottes der Völker, wird nicht gefragt, ob die beste, die vortrefflichste Nation sei, sondern nur, ob sie daure, ob sie sich erhalten habe. Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie es ihm seine Anführer,Richter, Vorsteher, Propheten tausendmal vorgeworfen haben; und besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker; aber an Selbständigkeit, Tapferkeit, Festigkeit, und wenn alles das nicht mehr gilt, an Zähigkeit sucht es seinesgleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehovah durch die Zeiten zu verherrlichen." In einem anderen Gespräch geht es über die Erziehung der Kinder zum Christentum und über die Vorzüge der Religion, "In diesem Sinne", lesen wir dort, "dulden wir keinen Juden unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet."

Es ist schwer abzuwägen, wie weit diese Äußerung ein Ausdruck Goethes ist oder wie weit sie mit künstlerischer Objektivität von Goethe einer vorgestellten Gestalt in den Mund gelegt ist, deren Wesen und Denken er von dem eigenen unterscheidet. Wenn auch die Schärfe dieser Konklusion nicht ohne weiteres gegen Goethe gewandt werden kann, so ist doch kaum zu bezweifeln, dass dem Diktum die Autorität des Dichters unterlegt ist. "Wanderjahre" ist zwar ein Kunstwerk, der Autor sagt hier nicht, sondern läßt sagen. Andererseits kann man heute schwerlich solche Sätze zur Disposition des Kunstcharakters stellen. Der Antisemitismus und seine Früchte entziehen sich nach Auschwitz nun einmal der ästhetischen Disposition. Die zuletzt zitierte Stelle ist freilich nicht von ungefähr von Antisemiten wie Houston Stewart Chamberlain immer wieder zur Stützung judenfeindlicher Vorschläge benutzt worden, die auf den Ausschluß der Juden aus dem öffentlichen Leben und insbesondere aus Deutschland zielten, obwohl sie sich offenbar allein und ausschließlich auf die besondere Stellung jenes religiös- humanitären Bundes auf christlich-freikonfessioneller Basis bezieht. Das meint jedenfalls Raimund Eberhard in "Goethe und das Alte Testament". Diese Ansicht wird auch durch folgendes Zitat gestützt: "Wir dürfen nichts Gutes noch Böses von ihnen sprechen; nichts Gutes, weil sich unser Bund vor ihnen hütet; nichts Böses, weil der Wanderer jeden Begegnenden freundlich zu behandeln, wechselseitigen Vorteils eingedenk, verpflichtet ist."

Aber es fehlt in Goethes Schriften auch nicht an negativen Aussagen über zeitgenössische Juden. Da ist die Rede von handeltreibenden Juden. Klischees von den schachernden, spionierenden oder auch nur komisch-seltsamen Juden tauchen auf. Goethe mag die Stereotypen bisweilen nur zitieren wollen, aber er distanziert sich auch nicht von ihnen. Dass er allerdings zuweilen ihm mißliebige Juden als"Juden" bezeichnete und so zu charakterisieren trachtete, zeigt, dass er mit bestehenden Vorurteilen umzugehen wußte.

Juden werden von Goethe als Wucherer, Händler, Wechsler, Betrüger wie selbstverständlich diskriminiert und werden mit Huren in einem Atemzug genannt, sowie mit Pfaffen, denen der Dichter bekanntlich ebenfalls nicht wohl gesonnen war, oder mit anderen "Bösewichtern". Keineswegs neutral gemeint ist der Zweizeiler "Jude" in den "Zahmen Xenien":"Sie machen immerfort Chausseen, Bis niemand vor Wegegeld reisen kann!"

Goethe war zudem durchaus empfänglich für Judenwitze. Das Tagebuch aus dem Sommer 1807 während des Karlsbader Aufenthalts nennt mehrere Judenspäße und Judenwitze. Sie müssen dort öfter Tischgespräche gewesen sein. Häufig bringt Goethe, wie viele seiner Zeitgenossen, Juden mit Geld in Verbindung. Bankiers und Finanziers waren ihm generell nicht sympathisch, doch scheint er den jüdischen eine gleichsam artistische Anerkennung entgegengebracht zu haben, wie ein nachgelassener Divan-Vers bekundet:

"Zu genießen weiß im Prachern/
Abrahams geweihtes Blut;/
Seh' ich sie im Bazar schachern/
Kaufen wohlfeil, kaufen gut."
Hier noch weitere Zitate, Zunächst eins aus den "Zahme Xenien" : "Ist der Vater auf Geld ersessen/
Und nutzt sogar die Lampenschnuppen/
Kriegen sie den Sohn in die Kluppen/
Juden und Huren, die werden's fressen"
und aus dem 1.Akt von Faust : "Nun soll ich zahlen, alle lohnen:/
Der Jude wird mich nicht verschonen:/
Der schafft Antizipationen,/
Die speisen Jahr um Jahr voraus./
Die Schweine kommen nicht zu Fette/
Verpfändet ist der Pfühl im Bette. /
Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot."

Der Faust, in dem das Mittelalter nun freilich bewußt getragenes Kostüm ist, unterstreicht den Sprachgebrauch seiner Zeit und die Denk-und Gewohnheiten seiner Jugend, wenn im ersten Teil beim Osterspaziergang Mephistos abfällig bemerkt, "die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen.." und Faust darauf erwidert:"Es ist ein allgemeiner Brauch, Ein Jud und König kann es auch." In einem Brief an Christiane schreibt Goethe am 3.Januar 1797 von einem Juden, der ihn hatte betrügen wollen, und meint, dieser habe "als ein wahrer Jude" gehandelt.

Offenbar war es ehrenrührig, ein Jude zu sein, oder wie ein Jude auszusehen. In "Wilhelm Meister" neckt man den Helden, weil er keinen Zopf trägt; man werde ihn für einen Juden halten. "Nun siehst du doch aus wie ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich deine Haare einzubinden bitte, sonst hält man dich denn doch einmal unterweges als Juden an und fordert Zoll und Geleite von dir." Und eben da gibt es beim Theater fertige Kostüme für "Pfaffen, Juden und Zauberer," und das Fach, in dem der "Pedant" exzellieren soll, wird umschrieben "als Juden, als Minister und überhaupt als Bösewicht". So unpersönlich fest waltet die alte Typologie.

In der "Theatralischen Sendung" beschreibt der Erzähler die von Direktor Serlo vorgespielte "Carricatur eines jüdischen Rabbinen" mit unverkennbaren Beifall:"die verrückten Gebärden, das verworrene Gemurmel, das scharftönende Geschrei, die weichlichen Bewegungen und augenblicklichen Anspannungen..hatte er fürtrefflich ergriffen."

In Clavigo ist die Rede von einem treulosen Geliebten, der zur verlassenen Geliebten wieder zurückkehren will:"Just als wäre diese vortreffliche Seele eine verdächtige Ware, die man am Ende dem Käufer noch nachwirft, wenn er euch schon durch die niedrigsten Gebote und jüdisches Ab- und Zulaufen bis auf Mark gequält hat." Wie verbreitet Vorurteile über Juden auch in Goethes Bekanntenkreis waren, zeigt ein Bericht von Lavater über eine gemeinsame Reise mit Goethe, in dem es heißt: "Eine sanfte, junge, knechtische Physiognomie eines Judensohnes,der neben dem Tisch feil hatte, frappierte uns."

Goethe hat den Kaiser Napoleon mitunter mit einem Juden verglichen, der wie mit einem Probiersteine durch die Welt geht, alle Menschen anstreicht und sodann gelassen nachsieht, ob es Gold, Silber oder Kupfer ist. "Bildet euch nur nicht ein, klüger zu sein als er, er verfolgt jedesmal einen Zweck; was ihm in den Weg tritt, wird niedergemacht, aus dem Wege geräumt, und wenn es sein leiblicher Sohn wäre."

"Sehen Sie, wenn Sie in einer Gesellschaft sind, in welcher ein alter Jude, ein Taschenspieler, seine Kunststücke macht und verkündiget, er wolle Ihre Uhr in einem Mörser zerstoßen und doch wieder heil machen, so werde ich wetten, daß er es fertig bringt. So habe ich auch bis jetzt auf Napoleon gewettet, er versteht es doch besser als die anderen."

Dass der Jude aber überhaupt als unterstes Glied der mittelalterlichen Hierarchie in Goethes Sprachgebrauch häufig funktioniert, sowie man nach indischem Sprachgebrauch "Paria" oder nach griechischem "Helot" sagen würde, das belegt uns am sichersten eine Stelle aus dem 17.Buch von "Dichtung und Wahrheit", in dem der deutsche Gesellschaftszustand geschildert wird mit den Worten: "Einem gewissen Behagen günstig war, dass von dem Höchsten bis zu den Tiefsten, von dem Kaiser bis zu dem Juden herunter, die mannigfaltige Abstufung aller Persönlichkeiten, anstatt sie zu trennen, zu verbinden schien."

Man darf indessen auch nicht verkennen, dass Goethe der christlich abendländischen Tradition verhaftet war und von ihr sein Judenbild bezogen hatte. In manchen Momenten blieb er im Denk- und Sprachgebrauch seiner Jugend. Wenn also ein Jude in seinen Reden und Briefen nicht selten auftaucht als der bestimmte, nicht sehr schätzbare, etwas groteske Typ - der Geldverleiher, der Pferdedieb, der Mann mit dem großen Bart -, wenn berichtet wird, einer habe sich benommen "wie ein rechter Jude", so ist das eben der Jargon des Mittelalters und hat, von Goethes Persönlichkeit aus gesehen, überwiegend eine rein konventionelle Bedeutung.

Wenn Goethe noch im Alter äußert:"Es sind närrische Spezifikationen: Heidentum, Judentum, Christentum! Juden gibt es unter den Heiden:die Wucherer; Christen unter den Heiden; die Stoiker; Heiden unter den Christen:die Lebemenschen", so zeigt das nichts als den mittelalterlich konventionellen Sprachgebrauch, dem man sich immer noch zuweilen ganz bedenkenlos überließ. Der Jude als Wucherer, das war eine stehende Figur in jener Zeit, da die Juden beinahe nur durch Geldgeschäfte mit den anderen in Berührung kommen konnten. Goethe arbeitet hier mit konventionellen Vorstellungen, und im Hinblick auf Juden hat er eben in vielen unbetonten und unkritischen Wendungen sich einfach dem mittelalterlichen Sprachgebrauch überlassen. Keinesfalls muß also hinter jeder Sprachwendung ein persönliches Goethesches Sentiment gesucht werden. Sogar die viel diskutierte Briefstelle an Knebel: "Es bedarf nur eines Betteljuden, um einen Gott am Kreuz zu verhöhnen", ist vielleicht nichts als eine typische Unwillensäußerung mittelalterlichen Gepräges."

Diese Stelle ist vom Herausgeber Guhrauer beim ersten Erscheinen des Briefwechsels sehr bedauerlicherweise weggelassen worden. Ein Musterbeispiel falscher Schonung, mit der man das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen will. Die Stelle ist später in der großen Ausgabe der Goetheschen Briefe mit abgedruckt worden, und dann hat Chamberlain in seinem Goethebuch einen großen Lärm erhoben über die jüdischen Verfälschungsversuche von Goethes wahrer antisemitischer Meinung..."Die ganze Goethesche Wendung klingt nach einer sprichwörtlichen Redensart, die besagen will, dass der beste Mensch wehrlos ist gegen Verdruß, den ihm der Dümmste und Gemeinste bereiten kann."

Dass Goethe das Wort"Betteljude"rein konventionell und ohne alle beschimpfende Absicht anwendet, beweist deutlich die Stelle im 16.Buch von "Dichtung und Wahrheit", wo keineswegs ohne Sympathie, von "einem alten blinden Betteljuden aus dem Ysenburgischen" berichtet wird, an dem Jung-Stilling eine erfolgreiche Augenoperation vorgenommen hat.

Es sei schon fast ein Verzweiflungsakt, meint hierzu Julius Bab, wenn man ihn für Rassentheorien späterer Generationen in Anspruch nehmen will, auf Grund eines heiteren Geplauders, von dem Eckermann berichtet:"Die Heilige Schrift redet allerdings nur von einem Menschenpaare, das Gott am sechsten Tag erschaffen. Allein die begabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke zu tun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, so wie auch die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind als wir alle, hatten gewiß auch andere Urväter; wie denn die werte Gesellschaft gewiß zugeben wird, dass wir uns von den echten Abkömmlingen Abrahams auf eine gar mannigfaltige Weise unterscheiden, und dass sie, besonders was das Geld betrifft, es uns allen zuvortun." "Wir lachten", so beschreibt Eckermann die Szene und berichtet weiter, daß sich dann das Gespräch anderen Dingen zugwandt habe.

Aus diesen Scherzen eine Gesinnung zu folgern, die die Minderwertigkeit bestimmter Menschen auf Grund ihrer Abstammung von vornherein für bewiesen hält, das sei denn doch wohl törichter, so Bab, als ein Mensch ehrlichen Willens sein kann. In den "Wanderjahren"hat Goethe auch hervorgehoben, dass der jüdische Glaube sich durch besondere Geistigkeit auszeichnet und dass sein"Du sollst dir kein Bildnis machen"bessere Voraussetzungen schafft als der Katholizismus mit seiner Kreuzverehrung und seinem Heiligenkult. So erachtet es auch die Pädagogische Provinz für "einen Vorteil der israelitischen Religion, daß sie ihren Gott in keine Gestalt verkörpert und uns also die Freiheit läßt, ihm eine würdige Menschengestalt zu geben, auch im Gegensatz die schlechte Abgötterei durch Tier- und Untiergestalten zu bezeichnen."

"Die jüdische Religion wird immer einen gewissen starren Eigensinn, dabei aber auch freien Klugsinn und lebendige Tüchtigkeit verbreiten" schreibt Goethe in den Noten zum Divan. Und:

"Wer nicht von dreitausend Jahren/
Sich weiß Rechenschaft zu geben,/
Bleib im Dunkeln unerfahren,/
Mag von Tag zu Tage leben."

Goethes Vorbehalte gegen das Judentum waren gelegentlich nicht frei von religiösen Motiven. Gleichwohl bemaß er doch keines Menschen Wert nach seiner Religionszugehörigkeit. Das friedliche Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Glaubensgemeinschaften war ihm, nicht anders als Lessing, ein Gebot der Humanität. Schillers Bekenntnis in seinem Ditichon "Mein Glaube" wurde nicht zufällig unter die "Tabulae votivae" aufgenommen, als deren Verfasser sich Goethe und Schiller gemeinsam bekannten:

"Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,/
Die du mir nennst! Und warum keine? Aus Religion."

In Goethes Sicht birgt die jüdische Sicht einen religiösen Überschuß, der von der christlichen Religion nicht abgegolten wurde und dem wohl nur eine höhere philosophische Religion gerecht zu werden vermag. Ein wenig scherzhaft hat er sich zur Sekte der Hysistarier gezählt, "welche zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt, sich erklärten, das Beste, Vollkommenste, was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren."

Da Goethe die trennende Kraft der verschiedenen Konfessionen entschieden ablehnt, schlug er 1817 vor, als die Vorbereitungen zur 300-Jahr-Feier der Reformation im Gange waren, die Feier auf den Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht, den 18.Oktober, zu legen-damit jeder in Deutschland daran teilnehmen könne:"Alle erheben den Geist, an jenem Tag gedenkend der seine Glorie nicht etwa nur Christen, sondern auch Juden, Mahommmetanern und Heiden zu danken hat." Das mag als Dokument "klassischer" Toleranz das Verständnis der Haltung Goethes befördern, ohne sie zu verfälschen. Mohammedaner und Heiden haben als russische Soldaten bei Leipzig mitgefochten, Juden als Deutsche, und Goethe hat das keineswegs so schnell vergessen wie andere Zeitgenossen.

Wenn er liebte - drauf machte Adolf Muschg in einem Aufsatz aufmerksam -,fließen ihm Bilder aus der jüdischen Selbsterfahrung in die Feder, wie hier an Frau von Stein am 12.März 1781:"Die Juden haben Schnüre, mit denen sie die Arme beim Gebet umwickeln, so wickle ich dein holdes Band um den Arm, wenn ich an dich mein Gebet richte und deiner Weisheit, Mässigkeit und Geduld theilhafft zu werden wünsche."

Goethe hat die Gelehrsamkeit vieler Juden durchaus anerkannt. In Reineke Fuchs ist die Rede von einem Ring, in dem Lettern eingegraben waren,die keiner entziffern konnte. Es waren"Drei hebräische Worte von ganz besonderer Deutung. Niemand erklärte so leicht in diesen Landen die Züge; Meister Abyron von Trier, der konnte sie lesen. Es ist ein Jude, gelehrt und alle Zungen und Sprachen kennt er, die von Poitou bis Lüneburg werden gesprochen; und auf Kräuter und Steine versteht sich der Jude besonders."

Goethes Beschäftigung mit dem Alten Testament und dem Judentum und seinen Widersachern kam auch einem kleinen Werkchen zustatten,das aus übermütiger Laune entstanden ist und in dem Goethe einen alttestamentlichen Stoff satirisch behandelt hat. Es ist das Anfang 1773 verfaßte und 1778 und 1779 mehrmals umgearbeitete Scherz-und Spottgedicht "Jahrmarktsfest zu Plundersweilern", das mit einigen Szenen an das Buch Esther anknüpft und im Grunde nur eine Aneinanderreihung von Bildern ist, wie sie jeder bewegte Jahrmarkt bietet.

Mit der Figur des Ministers Hamann kommt erstmals ein moderner, religiös und politisch-ökonomisch argumentierender Judenfeind auf die Bühne. Außerdem tritt Mardochai, ein Jude, auf, der einzige Jude, den Goethe je dargestellt hat - dieser soll ein gewisser Leuchsenring sein - und der Kaiser Ashasverus. In dieser Satire wird vor allem das hohle Pathos des klassizistisch französischen Theaters verhöhnt, wobei Haman ausführlich Gelegenheit bekommt, antisemitische Propaganda zu entfalten. Haman und sein Kaiser disputieren über Wert und Unwert der Juden. Jener erregt sich über Widersetzlichkeiten, Räubereien, Mordtaten, unlautere Handelsgeschäfte, aufrührerische Gesinnungen, Hochverrat und andere Schandtaten von Juden. Der Kaiser führt die allgemeinen Vorwürfe ad absurdum, indem er Fragen nach besonderen Untaten stellt, auf die er keine Antworten erhält. Darauf fällt die ironische Abfertigung des antisemitischen Ideologen nicht schwer, etwa auf Hamanns Warnung, der kaiserliche Thron wanke. "Der kann ganz sicher sein, so lang ich drauf sitze. Man weiß wie herab ich gar schrecklich blitze. Die Stufen sind von Gold, die Säulen Marmorstein, in hundert Jahren fällt solch Wunderwerk nicht ein."

Der junge Goethe hat sich hier in seiner vorklassischen Zeit mit dem ihm vertrauten Problem des Judentums auf poetische Weise auseinandergesetzt und sich der Platitüden der Judenfeinde bedient, um sie lächerlich zu machen. Er hat sich zwar hier nicht gerade zu einem entschiedenen Anwalt der Unterdrückten gemausert, bezeigte aber den Unterdrückern seinen Unwillen. Seine Haltung war-in Zeiten des Sturm und Drang,dem er das Gepräge gab-die eines aufgeklärten Humanisten.

Gleichwohl haben Maurenbrecher und andere antisemitische Schriftsteller verschiedene Szenen aus dem "Jahrmarktsfest" antisemitisch gedeutet, was Eberhard hinsichtlich der ursprünglichen Fassung von 1773 angesichts des eigenen Ausspruchs Goethes in "Dichtung und Wahrheit" mehr als fragwürdig dünkt. Bab sieht darin den "allerlustigsten Spott über alle Beteiligten" und insbesondere eine "lustige Karikatur antisemitischer Propaganda" und nicht "bitterernste Anklagen gegen das jüdische Volk", eine Annahme, die umso näher zu liegen scheint, als Goethe bei einer Aufführung der zweiten Fassung von 1778 in Weimar selbst den Marktschreier Haman spielte.

In seinen beiden theologisierenden Abhandlungen "Brief des Pastors zu...an den neuen Pastor zu ..."und "Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen, beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben"(beide erschienen 1773 )griff Goethe allgemeine Vorurteile gegenüber den Juden auf, um sie im Namen des Christentums zu präzisieren und zu entschärfen. An einer Stelle spricht der Pastor von seiner Toleranz, die er auch gegenüber den"Ungläubigen"hege und schreibt: "Welche Wonne ist es zu denken, sagt der Landgeistliche, daß der Türke, der mich für einen Hund, und der Jude, der mich für ein Schwein hält, sich einst freuen werden, meine Brüder zu seyn." Der junge Goethe war, hier allem Anschein nach, nicht weit davon entfernt, offen gegen den Antisemitismus Front zu machen.

In "Der Ewige Jude" greift Goethe die christliche eschatologische Legende vom Juden Ahasver auf, der Christus bei der Kreuzigung beschimpft und dafür bis zum Jüngsten Gericht durch die Jahrhunderte wandern muß. Wichtig ist in dieser Erzählung, dass Ahasver hier weder als Feind noch als Leugner Christi hingestellt wird, womit der christlichen Legende ihr antijüdisches Ursprungs- und Zentralmotiv genommen wurde.

In seinem 1797 begonnenen Aufsatz "Israel in der Wüste", der später Eingang in die "Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans"fand und in dem Goethe dasselbe Thema behandelte wie Schiller in "Die Sendung Moses", rekonstruiert er die Ereignisse um Knechtschaft und Rettung Israels, wie sie sich, seiner Ansicht nach, hätten begeben können. Obwohl Goethe den Wert des Alten Testaments in dem Aufsatz keineswegs schmälert, wurde er von Antisemiten besonders gerne ausgeschlachtet, wie etwa von Adolf Bartels in seinem Werk "Lessing und die Juden".(Eine Untersuchung Dresden und Leipzig, 1918, C.A.Kochs Verlagsbuchhandlung). Hier manifestiert sich deutlich sowohl Goethes Detailinteresse an der jüdischen Frühgeschichte ebenso wie die Verehrung der alten Tradition Israels, wobei auch aktuelle Motive aus seiner eigenen Zeit mithineinspielten.

Zu den wenigen Juden, denen Goethe einen Platz in seiner Poesie anwies, gehört der Weimarer Hofjude Jacob Elkan. Die kunstsinnige und menschenfreundliche Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte ihm als erstem Juden die "Niederlassungsgunst" gewährt und ihn 1770 zum Hofjuden ernannt. Goethe erwähnt ihn in seinem Gedicht "Auf Miedings Tod"(1782). Johann Martin Mieding war Hoftischler und Theatermeister der kleinen Weimarer Bühne gewesen. Goethe hatte seine handwerkliche Tüchtigkeit und biedere Charakterfestigkeit sehr geschätzt. Neben Hofmaler und Hofschneider kommt in dem Gedicht auch der schon erwähnte Hoffaktor Elkan vor, in der Zeile: "Der Jude Elkan läuft mit manchem Rest". Mit der späteren Kennzeichnung vom "tätigen Juden" wird pauschal auf das geschäftige Wesen der Juden verwiesen. An solchen Kennzeichnungen, die mit durchaus geläufigen Vorstellungen über Juden übereinstimmen, ist bei Goethe kein Mangel. Geiger sieht darin allerdings keine Verspottung, sondern nur die Charakterisierung eines untergeordneten Mannes, der wie der Zimmermann und andere Handwerker und Kunstgeübte mittätig waren bei den Theaterfreuden der Weimarer Hofgesellschaft. Der Jude Elkan war vermutlich ein Händler, der mit alten Kleidern handelte. Aber er stieg auf, wurde Hoffaktor, sein Sohn dann Hofbankier, seine Familie kam mit der Familie von Friedrich Schiller in Berührung, und wahrscheinlich haben dann die Nachkommen des Juden Elkan Goethe gebeten, vermutet Geiger, die ominöse Stelle zu ändern. Goethe strich den Namen, so dass es von nun an ganz neutral hieß "der tätige Jude läuft..". "Das menschliche Schöne aber ist", so Geigers Kommentar zu diesem Vorgang, dass der Dichter diesem Ansinnen bald entsprochen habe.


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