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Kant ging es vor allem um die Freiheit

Zum Freiheitshelden fehlte Kant zwar die Konstitution. Für einen Freiheitsdenker aber hatte er die besten Voraussetzungen: den Scharfsinn, den skeptischen Blick für die Menschenrealität - und die Courage. Nie zögerte er, die freiheitsverstopfenden Dogmen in Kirche, Politik und Philosophie aufzuspießen.

1781 gelang ihm der große Wurf mit seiner "Kritik der reinen Vernunft", einer Guillotine für Dogmatiker jeder Couleur. Es war eine "kopernikanische Wende" in der Geschichte des Denkens über das Denken. Sprachlich zählt das Werk allerdings zu den widerspenstigsten der Philosophiegeschichte.

Für Kant war das Werk sehr viel mehr als ein akademischer Diskurs. Hat er doch selbst am eigenen Leib erfahren, wie Religion - im Namen angeblich höherer Einsicht - Menschen den Verstand und mit ihm die Freiheit rauben kann. Er erlebte ferner, wie Politik - im Namen angeblich höherer Interessen - Kriege führt und tausende abschlachtet. Für ihn sind das alles "Krankheiten des Kopfes", "Verrücktheiten", die mit einer Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels bluffen. "Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk." Mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" entzog er dem Blendwerk den logischen Kredit und beschränkte die Vernunft auf überprüfbares Wissen. Wörtlich: "Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten."

Kants Zeitgenossen sahen in der "Kritik" das Werk eines Skeptikers. In einer Besprechung aus dem Jahr 1782 hieß es, Kants Buch gereiche "der deutschen Nation zur Ehre."

Kant ging es in dieser Schrift also um die Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens. Dabei beschränkte er die Vernunft auf überprüfbares Wissen. Menschliche Erkenntnis ist, so stellt Kant hier fest, an Raum und Zeit gebunden. Das, was die Dinge an sich sind, kann der Mensch nicht erkennen. Er kann nur das erkennen, wozu ihn die Erkenntnisorgane, die er als Mensch, als Gattungswesen Mensch besitzt, befähigen, das heißt, der menschliche Verstand erfasst nur, was sinnlich erfassbar und mathematisch beweisbar ist, aber alles, was darüber hinausgeht, ist dem Verstand oder der reinen Vernunft nicht zugänglich. Dazu gehören auch die Begriffe Freiheit, Gott, Unsterblichkeit. Denn sie entsprechen keinen sinnlichen Gegenständen, wir können sie nicht wahrnehmen und beweisen. Aber für unsere Handlungen haben sie eine große Bedeutung. Wir können handeln, als ob es einen Gott gäbe, fühlen, als ob wir frei wären, die Natur betrachten, als ob sie von besonderen Zwecken erfüllt wäre, planen, als ob wir unsterblich wären, und dann merken wir, dass diese Worte unser sittliches Leben wahrhaft verändern. Das Unbedingte, vernunftmäßig nicht Erfassbare wird somit dem Menschen nur als handelndes, nicht als erkennendes Wesen zugänglich, die Ideen wie Gott und Freiheit und dergleichen sind Regulative des Handelns. Im autonomen sittlichen Handeln werden sie dem Menschen zur Gewissheit, mithin ist sittliches Handeln für Kant unmöglich und undenkbar, wenn wir nicht an die Freiheit als Grundbedingung glaubten, wenn nicht dran glaubten, dass es eine Unsterblichkeit gibt, und wenn wir nicht an Gott als den Garanten des höchsten Gutes glaubten.

Wir bedürfen also dieser Begriffe, um sittlich handeln und sinnvoll leben zu können. Kant verbannt sie aus dem Gebiet der reinen Vernunft und nimmt sie in das Gebiet der praktischen Vernunft mit hinein als Postulate, als Denknotwendigkeiten. Man kann folglich den Inhalt dieser Begriffe denken, aber nicht erkennen. Was dem Verstand nicht zugänglich ist, kann sich die Vernunft gedanklich erschließen, wenn auch nicht beweisen.

Kant fragt im Grunde scheinbar (scheinbar im wahrsten Sinne des Wortes) ganz naiv. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Grundlage des moralischen Gesetzes sind nicht die Gebote Gottes oder seine Forderungen uns gegenüber, sondern unsere Autonomie.

Es geht Kant um Freiheit, um Souveränität, um die tägliche Selbsterschaffung des Ichs. Ein Ich erschafft sich nicht, wenn es egoistisch auf seinen Vorteil sieht, sondern nur wenn es sich über sich erhebt: wenn es stets so handelt, als handelte die ganze Menschheit durch dieses Ich. Kant prägte den Satz: "Handle so, dass du wollen kannst, dass die Maxime deines Handelns zum allgemeinen Gesetz werde."

Auf die Maxime also, auf den Beweggrund, auf das Motiv, kommt es Kant an. Wenn ich lüge, stehle ich mich aus der Verantwortung und biege die Tatsachen um. Doch kann ich unmöglich wollen, dass alle sich aus der Verantwortung stehlen. Ich darf mir mithin keine höchst individuelle Ausnahme genehmigen, obwohl es vielleicht gerade bequem wäre, mich aus einer brenzligen Lage mit einer kleinen Lüge zu befreien. Manche sehen im kategorischen Imperativ bloß die philosophische Umständlichkeits-Variante des volkstümlichen Spruchs "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu". Andere wiederum höhnen - frei nach Schiller: Ich wär so gern ein guter Mensch, allein, ich neige zum Guten, darum bin ich wohl böse, denn eine Neigung ist bloß etwas Angenehmes, niemals das Gute.

Tatsächlich: "Gut ist allein der reine Wille", diktiert Kant. Rein ist ein Wille, der frei von Launen, Gefühlen und Neigungen entscheidet. Wofür entscheidet er dann? Fürs "allgemeine Gesetz". Denn wer lügt, macht sich selber mies, wird zum Spielball der Verhältnisse und ist das genaue Gegenteil eines souveränen Subjekts, ist alles andere als ein autonomes Ich, ist nicht wirklich der Handelnde, eher ein Objekt, dem mitgespielt wird. Verhalten sich alle so, dann ist es um die intelligible Welt der Menschenachtung schlecht bestellt.

Praktische Philosophie vermittelt Orientierung, keine Rezepte. "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Die ewige Gesetzmäßigkeit im Universum, die Selbstachtung im Individuum - darauf kommt es an.

Der kategorische Imperativ ist beileibe keine Leerformel, sondern eine Antwort auf die Frage: Wie ermittelt die moderne Gesellschaft ohne Gott ihre Verbindlichkeiten?

Kants Lösung steht im populären Aufsatz "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", 1783 in der Berlinischen Monatszeitschrift publiziert.

Der Text beginnt mit dem berühmten Paukenschlag: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", die in dem Unvermögen besteht, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Warum brauchen wir unseren Verstand nicht? "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen... gerne zeitlebens unmündig bleibt." Kant hofft, dass eine funktionierende freie ffentlichkeit hier gesellschaftlich flankierend für den kategorischen Imperativ wirkt.

Obwohl Kant sehr optimistisch ist im Hinblick auf die moralische Vervollkommnung des Menschen und der Menschheit, geht er davon aus, dass Bösartigkeit zum Wesen des Menschen gehört. Er fragt sich, wie kann man sie überwinden, welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es, diese im Zaun zu halten.

Dem Menschen ist der unausrottbare Hang zu eigen, das Böse zu tun. Dieser Hang ist nicht erworben, er gehört dem Menschen ursprünglich an. Den guten (moralischen) Anlagen des Menschen muss eine entsprechende Erziehung ihr Recht verschaffen.

(Dass Kant allem Anschein nach dem Menschen ein radikal Böses zudiktierte, provozierte Goethes energischen Widerspruch und polemische Unterstellung: Freventlich habe jener "seinen philosophischen Mantel.. mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen", schreibt er an Herder am 7.6.1792.

Kant geht aber auch auf Fragen nach Unglück und Unheil ein, die dem Menschen immer wieder zustoßen. Es sind im Grunde den Menschen "belästigende" Fragen, die die menschliche Vernunft schwerlich abweisen kann und sich dennoch dem gedanklichen Zugriff entziehen. Unglück und Unheil passieren immer wieder, weil der Mensch nicht alles in der Hand hat. Man müsse, meint Kant, Schicksalsschläge ertragen wie einst Hiob sie ertragen und in Würde hingenommen hat, ohne ergründen zu können, warum Gott ihm diese zugedacht hat. (Nietzsche spricht von amor fati, liebe dein Schicksal, Simone Weil glaubte, dass Glück und Unglück im menschlichen Leben sich weder moralisch noch religiös rechtfertigen lassen.)

Kant ist davon überzeugt: "Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt." Er hat das selbst erfahren an seinem Diener Lampe. Dieser besorgte ihm dreißig Jahre den Haushalt, dann wurde er nachlässig, trank zu viel. Kant sah zu, mahnte, strafte, bis er es nicht mehr aushielt. Er entließ ihn. Jetzt sitzt er am Schreibtisch, kann den alten Lampe seit Wochen nicht vergessen, hin und her gerissen zwischen Vernunftprinzip und Gemütswärme. Er nimmt ein Blatt Papier und schreibt darauf: "Der Name Lampe muss unbedingt vergessen werden." Dann heftet er den Zettel vor sich an die Wand. "Zwischen dem bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir spuken allzeit halbdunkle Gestalten." Kant war offensichtlich ein anthropologischer Realist und Skeptiker zugleich.

Kant profitierte von der Regentschaft Friedrichs des Großen.

Feudalherrschaften lassen sonst keine Diskurs-ffentlichkeit zu. Der große Fritz aber sagte: "Räsoniert, soviel ihr wollt, nur gehorcht." Kant akzeptierte das als Fortschritt und schlug einen doppelten Gebrauch der Vernunft vor: "ffentlich" braucht die Vernunft freien Auslauf, "privat" bleibt sie gebunden - wobei Kant als "privaten Vernunftgebrauch" bezeichnet, was wir in dem uns anvertrauten bürgerlichen Posten denken und äußern dürfen. Ein Richter zum Beispiel muss, wenn er zu Gericht sitzt, nach der Räson des herrschenden Rechtsverständnisses urteilen. Sollten Richter unverzüglich praktisch loslegen mit dem, was sie in ihrem Kopf ausdenken oder was ihnen ihr sogenannter gesunder Menschenverstand rät? Dazu Kant: Erstens kann ein Einzelner auch bei sorgfältiger Prüfung seiner Gedanken nie sicher sein, ob sie verallgemeinerungsfähig sind. Zweitens griffe er - im Namen der Freiheit seines Denkens - ein in die Freiheit der Rechtsgemeinschaft. Also muss er auf dem Umweg über die öffentliche Zustimmung durchsetzen wollen, was er für richtig befindet.

Kant sieht in der ffentlichkeit ein Forum zur indirekten Etablierung der Vernunft und hat diese ffentlichkeit dann auch praktiziert. Als Mitglied der "Mittwochsgesellschaft", dem Debattierklub der Elite mit Staatsministern, Juristen, Professoren, nimmt er Stellung zu brisanten Fragen der Gesellschaft und des Staates, zum Beispiel zu den Fragen: "Warum genügt nicht die Zivilehe? Ist der Krieg zu rechtfertigen?." Ohne Rücksicht auf eigene Verluste bekämpfte er aber dann die ideologische Zensur der neuen Herrschaft, des Nachfolgers Friedrichs II. Geht es um Freiheit, Unabhängigkeit, das Ich, so kennt Kant kein Pardon.


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