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Das Buchporträt Alan M.Dershowitz: Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag.

Viele assoziieren mit dem Alten Testament Rache und Vergeltung - vielleicht weil sie sich nach der Lesart jener Theologen richten, die die Bibel immer noch von einem einseitigen Standpunkt aus interpretieren. Doch wenn ein Jurist wie der amerikanisch-jüdische Rechtsanwalt Alan M.Dershowitz das Buch der Bücher studiert, dann wird es aufregend und spannend. Dershowitz, Jahrgang 1938, Professor an der Havard-School und einer der prominentesten Strafverteidiger in den Vereinigten Staaten, hat jedoch das Buch der Genesis, nicht nur, seinem Beruf gemäß, mit den Augen eines Rechtsgelehrten gelesen, sondern als Fazit seiner Lektüre auch noch eine faszinierende Theorie darüber entwickelt, wie aus Mord und Totschlag das moderne Recht entstand.

Obwohl die Bibel den Anspruch erhebt, Gottes Wort und eine moralische Richtlinie für menschliches Verhalten zu sein, begegnen uns, führt der Autor aus, in der jüdischen Bibel Menschen mit mancherlei Fehlern und Schwächen, Menschen, die sowohl Gutes als auch Böses tun. Denn das Erstaunliche an dem Buch der Bücher, insbesondere an der Genesis, sei, erklärt Dershowitz, die Unvollkommenheit aller Gestalten. Da es in der Welt der Genesis noch kein Rechtssystem gibt, müsse der Einzelne, um sich hier durchzusetzen oder um zu überleben, entweder Gewalt oder List anwenden. So kommt es, dass die Genesis von allerhand ungezügelten Leidenschaften, Ungerechtigkeiten und schlimmen Gesetzlosigkeiten berichtet und durch eindrucksvolle, moralisch ambivalente Erzählungen deutlich macht, wie eine Welt ohne Gesetze aussieht, so dass sich die Notwendigkeit eines formellen Rechtssystems in dieser Welt von selbst ergibt.

Sogar Gott erweist sich in der Genesis als unvollkommen. Er tötet ohne Vorwarnung, bestraft unschuldige Kinder für die Sünden der Eltern und verhängt unverhältnismäßige Strafen. Überdies ist er bei der Verwirklichung seiner Drohungen und Versprechungen inkonsequent. Sein Wirken als Gesetzgeber ist, zumindest am Anfang, von Willkür geprägt. Offenbar fiel es Gott, der das Universum in immerhin nur sechs Tagen geschaffen hat, sehr viel schwerer, eine Rechtsordnung aus der Taufe zu heben, an der sich seine menschlichen Geschöpfe ausrichten konnten.

Der Autor untersucht zehn juristisch brisante Fälle, wobei er eine Reihe moderner Rechtsfälle und eigene Erfahrungen aus der Praxis mit einbringt und unterschiedliche Stimmen aus der jüdischen Tradition zu Worte kommen lässt.

Das Buch der Genesis beginnt damit, dass Adam und Eva gegen ein klares Gebot verstoßen und dass die ihnen angedrohte Strafe nicht vollzogen wird. Was aber sollen wir von einem Gott lernen, fragt der Verfasser, der seine erste Drohung nicht wahrmacht? Adam und Eva aßen von der verbotenen Frucht und lebten gleichwohl lange, obwohl sie, nach Gottes Vorhersage, an diesem Tage hätten sterben sollten. Darf man folglich Gottes Gebot - das wäre die logische Konsequenz - missachten? Und noch etwas: Gott dehnte die Strafe, die er Adam und Eva zugedacht hatte, auf ihre Nachkommen aus. Von daher stammt die christliche Vorstellung von der "Erbsünde", die den Tod in die Welt brachte, die "Neigung des Menschen zum Bösen" erhöhte und schließlich die Erlösung durch einen Heiland notwendig machte. Allem Anschein nach, vermutet der Autor, ist Gottes erstes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht vernünftig zu begründen. Zudem widerspricht es der menschlichen Natur. Dabei hätte Gott doch eigentlich erkennen müssen, dass seine Prüfung für Adam und Eva eine Zwickmühle darstellte. Wären die Menschen nämlich gehorsam gewesen, hätten sie sich kaum von den Tieren unterschieden und hätten schwerlich der Aussage entsprochen, dass Gott sie nach seinem Bilde geschaffen habe. Erst als sie von der Frucht der Erkenntnis gegessen hatten, erwarben sie die Fähigkeit, sich der Herrschaft der Vernunft zu unterwerfen.

Die zweite Sünde, Kains Brudermord an Abel, war dagegen ein schweres Verbrechen. Gott hatte wohl gehofft, die Menschen würden sich für das Gute entscheiden und ihre Neigung zum Bösen beherrschen. Doch er täuschte sich. Dennoch war er gegenüber Kain verhältnismäßig nachsichtig. Statt zu einer angemessenen Strafe, verurteilte er ihn zu einem unsteten und flüchtigen Dasein. Warum war Gott ihm gegenüber verständnisvoller als gegenüber Adam und Eva? Sollte er nicht, überlegt Dershowitz, ein Menschenleben höher bewerten als die Frucht eines Baumes? Warum reagierte Gott nicht auf das Böse in rationaler, angemessener und differenzierter Weise? Weil, so die Antwort von Dershowitz, der Gott der jüdischen Bibel ein durch Fehler und Erfahrung lernender und lehrender Gott zugleich ist, der durch Versuch und Irrtum erst das rechte Maß finden muss.

Als dann "der Herr sah", wie es weiter in der Bibel heißt, "dass der Menschen Bosheit groß war", bereute er, dass er die Menschen erschaffen hatte und schickte ihnen eine Sintflut. Bald darauf verspricht er, die Welt nicht noch einmal zu vernichten. Aber er bricht sein Versprechen, wird rückfällig und zerstört die Städte Sodom und Gomorra durch Feuer und Schwefel. Auch sonst ist Gottes Verhalten recht widersprüchlich. Während er Hiob Befehle erteilt und von ihm Unterwerfung und Gehorsam erwartet, lässt er sich im Falle von Sodom und Gomorra mit Abraham auf einen Dialog ein und erlaubt diesem sogar, ihn über Gerechtigkeit zu belehren. Abraham fragt Gott, ob er etwa die Gerechten zusammen mit den Gottlosen umbringen wolle, und bittet ihn, um der Gerechten willen die Stadt zu verschonen. Denn welches aufgeweckte Kind, gibt Dershowitz zu bedenken, könnte wohl ohne Widerspruch Gottes Entschluss akzeptieren, Unschuldige zu vernichten? Durch Abrahams Auseinandersetzung mit Gott über das Schicksal von Sodom und Gomorra werden zum ersten Mal in der Religionsgeschichte von einem Menschen Gottes Gerechtigkeit und Autorität in Frage gestellt. Das sei zweifellos ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Demokratie. Abrahams Eintreten für Sodom und Gomorra lehrt uns ferner, dass Schweigen angesichts von Ungerechtigkeit eine Sünde ist und dass zuweilen auch Schuldige ungestraft davonkommen müssen, damit nicht Unschuldige zu Unrecht verurteilt werden. Abraham lernt dabei, dass er als Sterblicher ein gerechtes und gut funktionierendes System schaffen muss, das die Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen ermöglicht. Gott selbst mag daraus gelernt haben, vermutet Dershowitz, dass er nicht sensibel genug war für die Bedrängnis der Unschuldigen, die zusammen mit den Schuldigen geopfert wurden.

Lots Töchter hingegen verführen ihren Vater, werden von ihm schwanger und werden doch nicht bestraft, weil sie damit die Welt retten. Die Alternative wäre Kinderlosigkeit, vielleicht gar das Ende der Menschheit gewesen. Genau darin liegt für Dershowitz die Botschaft, dass das Leben wichtiger sei als ein moralisch einwandfreies Verhalten.

Ein anderes Mal unternimmt Abraham auf Gottes Geheiß einen Mordversuch am eigenen Sohn und erntet für seinen blinden Gehorsam gegenüber einem ungerechten Befehl Gottes Lob. Jakobs erfülltes und gottergebenes Leben wiederum war nicht frei von Erpressung, Betrug und Schuld. Er täuscht und wird getäuscht. Zuweilen führt das Fehlen eines Rechtssystems zur Selbstjustiz. Sogar dafür gibt es Beispiele im Buch der Genesis. Auch die Joseph-Geschichte zeigt, wie das Leben in einer Welt ohne Rechtsordnung aussieht, in der hochgestellte Menschen ungestraft die unter ihnen Stehenden mit falschen Anschuldigungen überziehen können, und weist indirekt ebenfalls darauf hin, wie notwendig eine Gesetzesordnung ist, in der alle vor dem Gesetz gleich sind.

Im zweiten Teil seines Buches geht der Autor vier Fragen nach: Warum gibt es im Buch Genesis so viel Ungerechtigkeit? Warum beginnt die Bibel mit dem Anfang? Gibt es Gerechtigkeit in dieser Welt oder erst im Jenseits? Woher kommen die Zehn Gebote? Die Antwort auf die letzte Frage sei hier noch kurz gestreift. Die Zehn Gebote sind, so der Verfasser, eine Reaktion auf die anfängliche Anarchie und Höhepunkt eines langen Entwicklungsprozesses. Das Gesetz - das erst im Buch Exodus beginnt - ist jedoch beileibe keine Zuchtrute, sondern eine kostbare lebensspendende Gabe, die den Einzelnen schützt und ihm einen Freiheitsraum sichert. Seitdem kämpfen wir mit Hilfe des Rechts und anderer sozialer Kontrollen darum, die bösen Neigungen, die uns allen zu eigen sind, zu zügeln, und die guten Neigungen, die die meisten Menschen ebenfalls beseelen, zu fördern.

Dershowitz, Alan M.: Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag. Hamburg:Europäische Verlagsanstalt 2002, 265 S., fest geb. EUR 24,--

Das Buchporträt erschien in BA -Besprechungen, Annotationen, herausgegeben von ekz-bibliotheksservice GmbH, Reutlingen, Heft 1/2003


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