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Das Buchporträt Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit

Die Freiheit des Menschen wird immer wieder bedroht und in Frage gestellt - in der Vergangenheit durch Karl Marx und Sigmund Freud, durch Milieutheoretiker und Deterministen, heutzutage durch Gentechnologen und fundamentalistisch verblendete Terroristen. Der in Berlin lehrende Philosophieprofessor Peter Bieri aus der Schweiz - unter dem Pseudonym Pascal Mercier veröffentlichte er bisher zwei erfolgreiche Romane "Perlmanns Schweigen" und "Der Klavierstimmer" - widerlegt sie alle, ohne allerdings einer schrankenlosen Freiheit das Wort zu reden.

Erfreulicherweise muss man bei Bieri nicht, wie oft in philosophischen Studien üblich, sämtliche Gedankengänge und Thesen früherer Philosophen durcharbeiten, von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, über Descartes und Kant bis hin zu Karl Popper und Adorno, ehe man mit den Ansichten des Autors vertraut gemacht wird. Nein, hier geht es gleich zur Sache. Statt den Leser schwerfällig "über die Schlachtfelder der Fachliteratur" zu schleifen und sich im Kommentieren überlieferter Texte zu erschöpfen, bringt Bieri das Kunststück fertig, ein zum Verzweifeln komplexes Thema in einfacher, mühelos fließender Sprache abzuhandeln, ohne unnötige Fremdwörter und ohne Jargon.

Er sucht Antworten auf die Fragen: Was macht unsere Freiheit aus? Wie bildet sich der freie Wille? Welcher Spielraum von Wahlmöglichkeiten steht uns zur Verfügung bei Entscheidungen, die wir begründen müssen und für die wir die Verantwortung tragen? Frei ist man, erklärt Bieri kurz und bündig, wenn man auch anders handeln kann. Zudem hat der Mensch die Fähigkeit, seine Urteile und seinen Entschluss zu überprüfen und seinen Willen zu ändern.

An Rodion Raskolnikows Tat - er erschlägt eine wucherische Pfandleiherin - aus Dostojewskis Roman "Verbrechen und Strafe"(bekannt auch unter dem Titel "Schuld und Sühne") verdeutlicht Bieri seine Überlegungen. Im Nachhinein können wir Raskolnikows Verbrechen nach seinen Kausalitäten oder Determinanenten erklären und verstehen, so wie man menschliches Tun versteht, wenn man die Bedingungen kennt, aus denen es sich entwickelt hat. Die Motive unseres Handelns - unsere Wünsche, Gefühle, Gedanken, Überzeugungen und Erwartungen - legen fest, was wir in einem bestimmten Moment tun. Mithin unterliegt auch unser Handeln Gesetzmäßigkeiten.

Mit dieser Sichtweise verträgt sich freilich nicht die Idee der Freiheit. Um dem Dilemma beizukommen, müssen wir die Perspektive von innen wählen, schlägt Bieri vor, in der wir nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und der Zukunft zugewandt sind. Da ist keine Linie vorgezeichnet, liegt doch gerade darin unsere Freiheit, dass wir in ganz unterschiedliche Richtungen gehen können, dass wir wählen können, ob wir beispielsweise zu Hause bleiben oder ins Kino gehen, ob wir uns an einer Person, die uns verletzt hat, rächen oder ihr verzeihen. Auch Raskolnikow hätte ganz anders handeln und sich unter anderem sagen können, dass man einen Menschen nicht töten darf.

Zur Erfahrung der Freiheit gehört, führt Bieri weiter aus, dass ich der Urheber meines Tuns bin und nicht ein Spielball des Weltgeschehens oder eine Marionette, bei der ihre Bewegung von anderen und nicht von ihr selbst in Gang gesetzt und geführt werden. Raskolnikow war ebenfalls der Urheber seines Tuns. Deshalb wird er zur Verantwortung gezogen und bestraft. Freiheit bedeutet, laut Bieri, das Erleben eigener Urheberschaft und damit der Bedingtheit des eigenen Handelns durch den eigenen Willen, oder anders herum, wo nicht der eigene Wille das eigene Handeln dirigiert, kann von Freiheit keine Rede sein.

Frei sein heißt vor allem, eigenwillig zu sein, zwischen einem Willen unterscheiden zu können, der einem von anderen aufgezwungen wird, und einem, in dem die eigene Individualität zum Ausdruck kommt. Natürlich stößt der Wille an Grenzen, die ihm durch die Wirklichkeit oder durch unsere Fähigkeiten gesetzt werden. Man kann nicht im Lotto gewinnen wollen, man kann es höchstens wünschen, und man wird nicht in der Scala singen, wenn man nicht das Talent dafür besitzt. Wir haben zwar viele Wünsche und Bedürfnisse, aber nicht alle setzen unseren Willen in Gang und werden handlungswirksam. Der Wille kann durch äußere Umstände gehindert werden, in eine Handlung zu münden, zum Beispiel beim Gelähmten, der aufstehen, und beim Gefangenen, der weglaufen will. Der Wille wird nur dann handlungswirksam, wenn die Umstände es zulassen.

In einem unfreien, mit Stacheldraht umzäunten Land kann ich vieles wünschen, aber nur weniges wollen. Nach der Befreiung wiederum kann ich auch nur das wollen, was die neue Welt mir als Möglichkeiten anbietet. In den Grenzen, die dem Willen durch die Welt gezogen werden, sieht Bieri jedoch kein Hindernis für die Freiheit, sondern eher deren Voraussetzung. Freiheit des Willens bedeutet also nicht seine vollständige Ungebundenheit, im Gegenteil: Es macht die Freiheit eines Willens aus, dass er auf bestimmte Weise gebunden ist. Die Welt mit ihren Angeboten setzt fest, was ich zu einem gegebenen Zeitpunkt wollen kann. Der Rest liegt bei mir.

Der Wille kann natürlich auch korrumpiert werden - durch Drogen, Hypnose oder Hörigkeit. Ein Irrer oder einer, der, wie der Epileptiker, seiner Sinne nicht immer mächtig ist, kann im Augenblick des Anfalls nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wir werden ihm gegenüber daher keinen Groll und keine Entrüstung empfinden. Wir werden ihm weder Vorwürfe machen noch Reue von ihm verlangen.

Bieri kommt auf subtile Versklavungen zu sprechen, auf Gehirnwäsche und Mitläufertum. Wenn man in die Fänge einer raffinierten Sekte gerät oder einer Sucht verfallen ist, dann ist man ebenfalls unfrei. Die Ohnmacht des Zwanghaften besteht darin, dass es ihm nicht gelingt, über seinen Willen Regie zu führen. Unfrei ist man auch in Zwangssituationen, wenn man mit der Waffe in der Hand bedroht oder erpresst wird. Die freie Entscheidung beruht auf Willensbildung durch Überlegen, betont der Philosophieprofessor. Selbst wenn ich in einem moralischen Dilemma stecke, entscheidet mein Urteil darüber, was ich für vorrangig halte, über meinen Willen. Zugleich entscheide ich mich damit, wenn mehr als nur alltägliche Wünsche auf dem Spiel stehen, für eine bestimmte Identität, wobei mir die Fantasie hilft, im Inneren Möglichkeiten auszuprobieren, sowie die Selbsterkenntnis und der kritisch bewertende Abstand zu mir selbst. Die Qual der Entscheidung kann und darf mir keiner abnehmen, andernfalls würde mein Wille ausgelöscht, und es würde von außen darüber bestimmt, wie mein Wille sein und in welche Handlung er münden wird. Wenn ich allerdings mit meiner Entscheidung so lange warte, bis äußere Ereignisse mir das Heft aus der Hand nehmen, wenn ich wankelmütig und unentschlossen bin, kann ich mir die Freiheit verbauen. Ich bin dann nicht mehr Urheber und Autor meines Willens.

Verantwortlichsein gehört zur Idee des Personseins, hebt Bieri hervor. Wir werden von Reue, Scham und einem schlechten Gewissen geplagt, wenn wir etwas gewollt und getan haben, das unserem Urteil nach nicht in Ordnung war. Wir nehmen uns die Tat übel und machen uns Vorwürfe. Auch das gehört zur Idee des Personseins, moralisch empfinden zu können. Natürlich ist eine unbedingte oder absolute Freiheit eine Fata Morgana. Aber die begriffliche Tatsache, dass es keine unbedingte Freiheit geben kann, macht unsere Freiheitserfahrung weder nichtig noch illusionär.

Peter Bieri durchläuft in seinem Buch, das aus analytischen und erzählerischen Passagen besteht, verschiedene gegenläufige Positionen und führt durch ein Labyrinth von Erwägungen, Gedanken und Fragen, um klarzumachen, dass die Freiheit keinem geschenkt wird, dass man sie sich vielmehr erarbeiten muss, durch die Anstrengung des Denkens.

Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit

Über die Entdeckung des eigenen Willens
München: Hanser 2001, 446 S.

(Das Buchporträt erschien in BA-Besprechungen, Annotationen Heft 2/2002)


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