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Dichter und Schriftsteller der Nachkriegszeit -

Wo sie sind geblieben?

Verschollen, verstorben und vergessen?

Im ersten Nachkriegsjahrzehnt lasen wir in der Schule im Deutschunterricht, außer den Klassikern wie Goethe und Schiller, Albert Goes, Hans Carossa, Werner Bergengruen, Stefan Andres, Hermann Kasack und Ernst Wiechert und nebenbei für uns privat Hermann Hesse. Für das mündliche Abitur, für das eigens eine Oberschulrätin aus Münster kam, da unser Gymnasium eine private Einrichtung war und von katholischen Schwestern geleitet wurde, war jede Schülerin gehalten, ein Gedicht vorzutragen. Als ich einer Mitschülerin sagte, dass meine Wahl wahrscheinlich auf Hermann Hesse fallen würde, meinte diese: "Ach, Hesse, der ist mir für die Nonnen viel zu schade." Gelernt habe ich dann schließlich den Monolog aus Goethes Iphigenie: "Heraus in eure Schatten, rege Wipfel des alten heil'gen dichtbelaubten Haines. . .". Zu unserer Überraschung war die Oberschulrätin, die diesmal das Abitur abnahm, eine Mathematikerin, die keinen Sinn für Poesie hatte und das Aufsagen von Gedichten nicht verlangte, so dass meine Mühe vergeblich war. (Aber den Monolog kann ich immer noch.)

Als dann das Abitur bestanden und damit die Schule überstanden war, hatte man von den Büchern der im Unterricht behandelten Dichter ein für allemal genug und wandte sich anderen Schriftstellern zu. Ich entdeckte mein Herz für Stefan Zweig so gründlich, dass ich alles, was ich von ihm ergattern konnte, mit Feuereifer verschlang. Dann kamen Josef Roth, Heinrich und Thomas Mann und andere Autoren an die Reihe, die im Dritten Reich verfemt waren, darunter auch der in den Augen der christlichen Kirchen damals anrüchige André Gide und last but not least Franz Kafka und Bert Brecht.

Im allgemeinen aber erfreuten sich Dichter, die heute gern mit dem Etikett "wertkonservativ" belegt werden und die den jetzigen jüngeren Generationen oft nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt sind, in den fünfziger Jahren allgemein großer Beliebtheit, während Schriftsteller aus der sogenannten linken Ecke wie Leonhard Frank, Oskar Maria Graf, Alfred Kantorowicz und andere, die im Dritten Reich mehr oder weniger offen gegen die Nazis opponiert hatten und dafür aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurden, noch nicht entdeckt waren. Gefragt waren vielmehr christliche Dichter - Gertrud von Le Fort, Jochen Klepper, Rudolf Alexander Schröder, Reinhold Schneider und all jene, von denen man annahm, dass sie gegenüber dem nationalsozialistischen Regime eine innere Distanz und Souveränität bewahrt hatten - oder solche, die an ästhetische Traditionen der Zeit vor 1933 anknüpften wie Georg Britting, Ernst Penzoldt, Josef Weinheber und Ernst Wiechert. Beschaulichkeit, Idylle, eine in sich ruhende Heiterkeit und Gelassenheit sind Kennzeichen ihrer Dichtungen, die sich von der sie umgebenden Wirklichkeit absetzten. Weit verbreitet war zudem in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Neigung, Probleme der Existenz metaphysisch zu überfrachten, so bei Elisabeth Langgässer, Hans Erich Nossack und Hermann Kasack.

Andere wiederum machten "Inventur", wie es im gleichnamigen Gedicht von Günter Eich heißt, und schrieben über die aus dem Krieg im physischen und mehr noch im psychischen Sinne verletzt und verwundet heimgekehrte junge Generation. Politisch war die Literatur nach 1945 nur insofern, als sie sich als streng antifaschistisch gebärdete und damit ein allgemeines Engagement für die Demokratie verband, mit einem gewissen Maß an Optimismus und dem Gefühl, auf der Basis schlimmer Erfahrungen, neu anfangen zu können. In den späten fünfziger Jahren verlagerte sich bei Autoren wie Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch der Schwerpunkt vom Antifaschismus auf die Kritik an der Politik der Regierung. Nach der Desillusionierung aller Hoffnungen, die in der Nachkriegszeit auf einen Neuanfang gesetzt worden waren, trat die Literatur mehr und mehr in eine prekäre Spannung zur offiziellen politischen Sphäre der Adenauer-Zeit. Das Klima des Antikommunismus und der Restauration, die Verabschiedung eines "Schund- und Schmutzgesetzes" im Jahr 1952, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, das Verbot der KPD, der Eintritt in die NATO und die atomare Aufrüstung - das alles waren die beherrschenden Themen der politischen Diskussion, denen sich nicht wenige Schriftsteller gestellt haben.

So protestierten laut und vernehmlich gegen die atomare Bewaffnung in einem Aufruf vom 15.4.1958 nicht nur die damals jungen Autoren wie Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, sondern auch ältere wie Albrecht Goes, Alfred Andersch, Gertrud von Le Fort, Manfred Hausmann, Wolfgang Hildesheimer, Wolfgang Koeppen und andere. Die Quittung dafür ließ nicht lange auf sich warten. Im Frühjahr 1960 erschien eine Schrift unter dem Titel: "Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik", in der 452 Professoren, Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller namentlich gebrandmarkt wurden, darunter auch Albrecht Goes, Erich Kästner und Wolfgang Koeppen.

Inzwischen hatten auch andere und zwar so unterschiedliche Autoren wie Günter Eich, Luise Rinser, Rudolf Hagelstange, Wolf Niebelschütz, Ingeborg Drewitz, Wolfdietrich Schnurre, Ingeborg Bachmann, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt so nachdrücklich von sich reden gemacht, dass an ihnen die junge Generation und auch die älteren Leser nicht vorbei kamen. Mittlerweile sind alle gestorben. Was aber ist aus ihren Büchern geworden? Werden sie heute noch gelesen oder vergammeln sie still vor sich hin in den Regalen der Buchhandlungen und Büchereien? Kennt die heutige Jugend, sofern sie überhaupt liest, diese Schriftsteller oder sind diese ihnen gar kein Begriff?

Wir wollen einige Strichproben machen, indem wir kurz überlegen, was einzelne Dichter und Schriftsteller auszeichnete, um uns anschließend ein wenig im Buchhandel und bei jungen Lesern umzuhören.

Als Werner Bergengruen am 4.September 1964 in Baden-Baden im Alter von 72 Jahren starb, wurden seine Bücher noch überall gelesen. Seine Novellen und Gedichte gehörten zum festen Bestand von Schullesebüchern. Zudem hatte er eine große treue Gemeinde. Heute kennt ihn nur noch die ältere Generation. Friedrich Sieburg nannte ihn einen machtvollen Repräsentanten der deutschen Innerlichkeit, "jenes Zustandes also, der unserem Volk viel Ertrag und noch mehr Unglück eingebracht hat."

Bergengruen selbst muss gespürt haben, dass die Zeitläufte im Begriff waren, ihn zu überholen. Kurz vor seinem Tod meinte er: "Ich weiß, dass ich ein Gestriger bin". Seine Witwe Charlotte erklärte 1981 in einem Interview: "Ich bin froh, dass er die heutige Zeit nicht mehr erlebt hat. Er stünde heute mit seinem unbeirrten Festhalten an Traditionen und Religiosität auf verlorenem Posten. Er hing zuletzt auch nicht mehr besonders am Leben. Er tat nichts, um es zu verlängern." Gleichwohl sind immer noch vierzehn Bücher von ihm im Buchhandel erhältlich.

Von Carossa, der ausschließlich im Gehege der Überlieferung geblieben war, sind heute noch die Gesamtausgabe und Einzelausgaben seiner Werke zu haben. Erst 1995 wurde ein Teil seiner Gedichte bei Suhrkamp wieder aufgelegt.

Hans Erich Nossack "hat einen unbestimmt guten Namen, obgleich heute kaum noch ein Befragter zu sagen weiß, warum", schrieb der FAZ-Rezensent Hermann Kurzke 1998 anlässlich der Herausgabe der Nossack'schen "Tagebücher 1943-1977". In diesen hatte sich Nossack, der wie Hans Henny Jahn und Arno Schmidt ein Einzelgänger war und der Gruppe 47 fern stand, mit der Schuldfrage befasst, wobei er die Schicksalhaftigkeit des Geschehens hervorhob, aber kein Wort über die nationalsozialistische Politik verlor ebenso wenig wie über den Verlauf des Krieges, die Juden, die Lager und die Täter. Die Namen Hitler, Himmler, Heydrich, Eichmann, Goebbels, Göring kommen in eintausenddreihundert Seiten Aufzeichnungen gar nicht oder nur in belanglosen Erwähnungen vor. "Aufgehoben sind sie in den mythischen Chiffren des Dichtens."

Immerhin gibt es seit einiger Zeit eine Internet-Dokumentation zum Leben und Werk Hans Erich Nossacks, die sich an Literaturinteressierte wendet, die sich einen ersten (oder zweiten) Einblick in das Werk eines zu Unrecht, etwas in Vergessenheit geratenen Autors der Nachkriegszeit verschaffen möchten, wie auch an Literaturwissenschaftler, die sich hier über den neuesten Stand der Forschungen zu diesem Autor informieren können.

Ferner gab der Suhrkamp-Verlag 2001 zu Nossacks 100.Geburtstag einige Bücher neu heraus, so dass heute sechs Bücher von ihm im Buchhandel zu finden sind. Auch der 100.Geburtstag von Marie Luise Kaschnitz im selben Jahr ging nicht sang- und klanglos vorüber. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach widmete ihr eine Ausstellung. "Lag es an ihrer beinahe krankhaften Bescheidenheit", heißt es im Ausstellungskatalog, "dass heute nur wenige wissen, was für ein Schatz in ihrem Werk ruht?" Schon zu ihren Lebzeiten wusste kaum einer, dass sie 1960 Paul Celan gegen gehässige Plagiats-Vorwürfe verteidigt hatte, dass sie 1972 in Zeitungsanzeigen für die Wahl Willy Brandts eingetreten war und mit der Frankfurter Hausbesetzer-Szene sympathisierte. Denn seit 1943 war Marie Luise Kaschnitz, Mitrömerin und Vertraute von Ingeborg Bachmann und gute Freundin von Peter Huchel, Günter Eich, Elisabeth Borchers und Uwe Johnson, "ein waches politisches Wesen".

Stefan Andres, der ursprünglich Priester werden sollte und das Dritte Reich als Emigrant von außen erlebt hatte, hat schon früh die Schuld des Menschen in der Diktatur literarisch bearbeitet und sich für die Verwirklichung des Christlich-Humanen in einer katholischen Weltordnung ausgesprochen. Marcel Reich-Ranicki fand seine letzten Bücher zu erbaulich und verhöhnte alle Rezensenten, die sich vor Andres' Romanen ehrerbietig verneigten, vor Romanen, die nach Auffassung des Literaturpapstes reichlich Trost spendeten, mit liebevollem Zuspruch nicht geizten und die Beladenen rasch zu erquicken vermochten.

In den fünfziger Jahren gehörte Andres zu den am meisten gelesenen Schriftstellern deutscher Sprache. Heute ist er fast vergessen. obwohl er mehr als nur ein konservativer und christlicher Denker war. Auf der Suche nach dem Humanen, dachte er als Europäer, plädierte für Toleranz und Völkerverständigung und war alles in allem ein unbequemer Mahner in einer unmenschlichen Welt. Seit 1997 wurden keine Bücher mehr von ihm gedruckt. Fünf sind noch im Buchhandel zu haben.

Wolfgang Koeppen wiederum gilt als der berühmteste Verstummer der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte. In den ersten Jahren nach dem Krieg umkreiste er die Adenauer-Gesellschaft, stand ihrem Verdrängen im Wege und zählte die Opfer. Seine melancholischen Helden flüchteten aus dem Treibhaus mit einem Sprung von der Rheinbrücke. Dann schrieb Koeppen Reiseberichte. Am Ende stand das Schweigen, der Tod zu Lebzeiten. Der Schriftsteller Koeppen hatte Geschichte gemacht und war dann selbst Geschichte geworden. 1996 empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tod. 2000 erschien ein Prosaband aus seinem Nachlass.

Auch bei Wolfgang Hildesheimer war der Elan in der ersten Hälfte der achtziger Jahre schon verbraucht. Sein Vertrauen in die dichterische Aussage war brüchig geworden. Ganz vergessen ist er nicht, zumindest sind noch viele seiner Bücher im Buchhandel erhältlich.

Günter Eich, der das Lebensgefühl der Nachkriegszeit unmittelbar und wortgewaltig ausdrückte und die Kunstform des Hörspiels entscheidend geprägt hat, erfreut sich, nicht nur in Schulen, offenbar immer noch einer gewissen Beliebheit. Sein Gesamtwerk wird vom Suhrkamp-Verlag vorbildlich betreut. Vieles von Eich ist heute noch aktuell wie der folgende Text beweist: "Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen. Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!"

Der Dichter-Pastor Albrecht Goes schrieb für eine trostbedürftige Lesergemeinde nach dem Krieg, eine Art Traktate, die der Stärkung und Ermutigung dienten und die heute bei den Kritikern in keinem hohen Kurs stehen, weil diese Art von Literatur das Elend der Welt angeblich kalligrafisch beschönigt. Goes jedoch glaubte an die Macht der Dichtung, die das Hässliche und Schreckliche der Wirklichkeit wenn nicht zu tilgen, so doch aufzuwiegen vermag. Auch wenn Goes zu den Autoren christlich-konservativer Provenienz gehörte wie Stefan Andres und Gertrud von Le Fort, so war er doch beileibe kein Stiller im Land. Schon früh erinnerte er an die gequälte Judenheit in Europa, warnte vor der Wiederaufrüstung und half bei jedem "Versuch eines Brückenbaus". Albrecht Goes sei ein guter Repräsentant der Nachkriegsepoche gewesen. Seine Novellen "Unruhige Nacht" und "Brandopfer" würden auch heute noch gelesen, behauptete kürzlich ein pensionierter Studienrat von knapp sechzig Jahren. Mein vierzigjähriger Sohn dagegen, der sich schon früh zur Leseratte entwickelt hat, kennt nicht einmal seinen Namen. Acht Bücher sind von Goes noch lieferbar. Der Besprechungsdienst für Öffentliche Büchereien empfiehlt sie vor allem für ältere Literaturfreunde.

Eine wichtige Rolle in der Nachkriegsliteratur hat zweifellos auch Luise Rinser gespielt. Kam sie doch dem Bedürfnis nach religiöser Erbauung und höherer Gerechtigkeit mit Figuren von charismatischer Ausstrahlung entgegen. Die Empfänglichkeit für Idole dieser Art sei mittlerweile abhanden gekommen, hieß es in einem der Nachrufe nach ihrem Tod. Die Rolle der Erzählerin und Publizistin wie sie es war habe sich überlebt. Das mag sein. Aber überholt und gegenstandslos sind ihre Themen gewiss noch lange nicht.

Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sind aus der Nachkriegsliteratur ebenfalls nicht wegzudenken. Sie an dieser Stelle vorzustellen und ausführlich zu würdigen, hieße sicherlich, Eulen nach Athen zu tragen.

Alfred Andersch, Mitherausgeber der Zeitschrift "Der Ruf" und Mitbegründer der "Gruppe 47", hat sich gleichfalls in Erzählungen, Romanen und nicht zuletzt in Hörspielen mit politisch brennenden Fragen der Zeit auseinander gesetzt und bewegte sich, wie viele andere Schriftsteller seiner Epoche, wie etwa Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen, aber auch Martin Walser und Max Frisch, im Spannungsfeld von faschistischer Vergangenheit und kapitalistischer Gegenwart, Pessimismus und Aufbegehren, Identitätsverlust und radikaler Subjektivität. Bis zu seinem Tod 1980 und noch lange danach war Andersch präsent. Mehr als zehn Bücher kann man gegenwärtig von ihm noch im regulären Buchhandel erwerben, manche auch als Hörspielkassette.

Kein anderer deutscher Schriftsteller hat die deutsche Nachkriegsliteratur so geprägt wie Heinrich Böll, und niemand wird auf der ganzen Welt aus der deutschen Literatur so rückhaltlos bewundert und geliebt wie der Kölner Literatur-Nobelpreisträger. Über viele Jahrzehnte hinweg hat er in seinem erzählerischen und essayistischen Werk seismographisch die Nachwirkungen der Nazizeit und des Zweiten Weltkriegs registriert. Sein unermüdliches politisches Engagement, seine Unbestechlichkeit und Integrität dürften noch allen in guter Erinnerung sein. Kritiker halten ihn freilich als Schriftsteller für zweitrangig. In etwa gilt dieses Urteil auch für Ingeborg Drewitz. Ihr Engagement für Strafgefangene und Zukurzgekommene in der Gesellschaft wurde sehr geachtet, weniger ihre Schreibkunst. Der Bestand ihrer einst veröffentlichten Bücher schwindet immer mehr dahin.

Als Carl Amery Anfang April 2002 seinen 80.Geburtstag beging, schrieb Hermann Kurzke in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Eine Art Wehmut kommt auf beim Namen Carl Amery, eine Erinnerung an Zeiten, als es noch eine christliche littérature engagée gab, als Carl Amery und Heinrich Böll, Walter Dirks und Albrecht Goes, Martin Niemöller und Walter Jens darauf bestanden, dass das Christentum keine dekorative Bestätigungsagentur für den Status quo sei, sondern etwas radikal anderes, Anstößiges, dass es zum Beispiel antifaschistisch, antimilitaristisch und ökologisch sein müsse."

Amery war 1946 aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, nach eigenem Bekenntnis, in dem festen ruhigen Bewusstsein, dass nun nach den Jahren der Feuerprobe, der christliche Glaube, vor allem aber seine, unsere Kirche, dazu berufen seien, das Neue aufzubauen.

Anfangs schien diese Hoffnung in Erfüllung zu gehen. Die Kirchen waren voll; eine christliche Erneuerung erfasste das Land. Im Laufe der fünfziger Jahre, die das Wirtschaftswunder und die Wiederaufrüstung brachten, wurde die Gunst der Stunde allmählich verspielt. Heute verbreitet Amery als eingagierter Ökologe eher Untergangsstimmung, ist aber weiter "auf der Suche nach dem Gelobten Land, in dem Milch und Honig fließt", meint Kurzke am Ende seines Artikels.

Wie würden sich die Dichter und Schriftsteller der fünfziger und sechziger Jahre heute verhalten, lebten sie noch? Hätten sie längst resigniert oder würden sie weiterkämpfen und weiterschreiben? Wir wissen es nicht, doch eins wissen wir mit einiger Sicherheit, wie sich unsere Literaturkritiker ihnen gegenüber heute verhalten würden.

Als Luise Rinser im März 2002 starb, waren viele Nachrufe, vor allem die der jüngeren Kritiker, in einem wohlwollend herablassenden bis verächtlichen Ton abgefasst. Dazu passt ein Bericht von Michael Kleeberg in der Frankfurter Rundschau, in dem er schreibt, dass er 1991 dem Redakteur einer Wochenzeitung vorgeschlagen habe, einen Artikel zum 80.Geburtstag Luise Rinsers zu schreiben und zur Antwort erhielt, wenn er, Kleeberg, nicht vorzeitig seine literarische Laufbahn beenden wolle, bevor sie überhaupt begonnen habe, dann solle er nicht Partei für diese Frau ergreifen. Sie sei "persona non grata".

In scharfer Form verurteilte Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln, jüngst die meistdiskutierten Bücher der diesjährigen Frühjahrssaison, nämlich Günter Grass' "Im Krebsgang" und Peter Handkes "Bildverlust" und die Rezensenten, die diese Bücher positiv besprochen hatten, gleich mit, ohne nähere Gründe und Argumente dafür anzuführen. Beide Bücher seien "gut gemeint und schlecht gemacht". "Gemessen an Philip Roths neuem Roman 'Der menschliche Makel', einer anderen Neuerscheinung dieses Frühjahrs, nehmen sie sich aus wie ein Idiotenhügel neben einer olympischen Abfahrtsstrecke."

Heute wird man, wie in Sigrid Löfflers "Literaturen" zu lesen war, vom Buchmarkt gehetzt. "Verlage, Kritiker und Medien inszenieren den Auftritt wichtiger Bücher als Events analog zum Pop-Hit oder zum Film der Woche - das Erscheinen des Buchs und die Reaktion drauf fallen zeitlich zusammen, am Erstverkaufstag ballen sich bundesweit auch die Kritiken. Und damit ist das Buch medial auch schon durch." Wichtige Bücher, der neue Grass, der neue Handke, würden zwar mit einem kollektiven simultanen Martkgeschrei begrüßt, danach aber nicht weiter erörtert. "Und nur Bücher, mit denen so verfahren wird, gelten noch als wichtig."

Natürlich hat sich auch die Literatur im letzten halben Jahrhundert entscheidend verändert, ob zu ihrem Vorteil oder ihrem Nachteil, das mögen andere entscheiden. Doch eins ist sicher, heute scheut man in der Literatur direkte metaphysische Antworten zu geben, die bei unseren Oberrichtern, allen voran bei Marcel Reich-Ranicki, ohnehin verpönt sind.

Es ist daher anzunehmen, dass die Bücher der Nachkriegszeit heute medial nicht nur schnell durch, sondern wahrscheinlich sofort unten durch wären. Doch lassen wir die Kritikerzunft ihren vermeintlich hohen Kunstansprüchen weiter frönen, und fragen uns lieber, welche Bücher von den Nachkriegsautoren heute noch gelesen werden? Ältere Leser werden sicherlich weiterhin zu dem ein oder anderen Buch ihrer Lieblingsautoren von anno dazumal greifen. Wie aber steht es mit den jungen Lesern? Die Antworten auf entsprechende Nachfragen im Internet bei zwanzig- bis vierzigjährigen Literaturfreunden und bei eigenen Kindern und Bekannten waren recht unterschiedlich und durchaus nicht unerfreulich.

Luise Rinser wird von einigen der Jüngeren durchaus verehrt. Andere wiederum lehnen ihre Bücher etwas geringschätzig als Oberstufenliteratur ab. Über Rinser gehen die Meinungen offensichtlich noch immer auseinander, auch unter jüngeren Bücherfreunden. Die einen sehen zwar einen Bedarf an "Sinnsuche-Literatur", fügen aber hinzu, "nicht an linkskatholischer". Andere lesen Rinser vor allem aus religiösem Interesse immer wieder, wie mir jüngst jemand aus dieser Generation versicherte, vor allem "Mirjam", "Bruder Feuer", "Abaelards Liebe" und "Mitte des Lebens" haben ihm es angetan.

Albrecht Goes wiederum kennen viele nicht oder wenden ein, er gehöre in die fernen fünfziger besinnlichen Jahre, als es noch um Religion gegangen sei. Ähnlich verhält es sich mit Hans Erich Nossack. Wer ihn gelesen hat, kennt nur wenige Texte, denn das sei ein Autor, meinte ein junger Leser, den man schnell vergisst. Stefan Andres las der ein oder andere vor einigen Jahren, und hat kaum etwas von ihm in Erinnerung behalten, weil ihn die Sprache "gelangweilt" habe. Von Wolfgang Hildesheimer werden einzelne Werke wie "Marbot" geschätzt. Ein etwa vierzigjähriger Leser ließ mich wissen, dass er in seiner Jugend diesen Dichter mit großer Bewunderung gelesen habe, heute schätze er vor allem seine Essays.

Alfred Andersch sei ein guter Erzähler, aber nur dann, wenn er nicht "programmatisch-politisch" wird. In ihrer, noch nicht allzu weit zurückliegenden Jugend haben ihn einige offensichtlich mit großer Begeisterung gelesen. Auch Ingeborg Drewitz und Heinrich Böll, halten viele für zu programmatisch, obwohl letzter noch immer sehr geachtet wird. Es gäbe, meint ein augenscheinlich anspruchsvoller junger Leser, bessere und modernere Schriftsteller zum Beispiel Arno Schmidt. Auch Bert Brecht und "andere Programmliteraten" gehen mit ihrer "unerträglichen didaktischen Attitüde" manchem Büchernarr arg "auf die Nerven". Einer findet Brecht sogar "zum Erbrechen, so viel Brecht hält kein Mensch aus."

Dafür zählen nicht wenige Friedrich Dürrenmatt zu ihrem Lieblingsschriftsteller. Viele haben ihn "komplett gelesen" und behaupten, er sei besser als Brecht - vor allem die Krimis - und der "Übervater aller Autoren".

Günter Eich wiederum kennen auch junge Leute gut. Mancher hat viele seiner Gedichte sogar auswendig gelernt. Nur seine Hörspiele seien aus heutiger Sicht "zu gewollt, zu schulfunkmäßig, aber die Gedichte seien exzellent."

Von Max Frisch waren einige ebenfalls begeistert. Er ist "der Held meiner Jugend" schrieb jemand. Andere wiederum haben sich über ihn geärgert und halten "Homo faber" für "zu konstruiert und weltfremd".

Hesses Beliebtheit erhielt im Zeitalter von New-Age und ähnlichen Bewegungen neue Impulse. Ob ich, die in der Jugend von diesem Dichter sehr angetan war, heute noch alles, was er geschrieben hat, gutheißen und positiv beurteilen würde, glaube ich kaum. Es käme auf eine Überprüfung an. Aber die ständig nachrückenden Neuerscheinungen lassen dafür kaum Zeit.

Und was liest die Jugend von heute sonst noch, die Zwanzig- und die Vierzigjährigen? Hin und wieder etwas Wolfgang Koeppen oder von Wolfdietrich Schnurre und seinem "Schattenfotografen". Häufig wurden auch andere Autoren genannt, nach denen ich nicht gefragt hatte, wie Gottfried Benn, Thomas Mann, Uwe Johnson, Hanns Henny Jahn, Peter Weiss, Robert Musil, - der sei "ein wahrer Schatz" -, Brecht, Kafka, Celan, "die frühen Sachen von Ilse Aichinger", Sartre, Camus, Tolstoi, Dostojewski, Rilke, Celan und immer wieder J.D.Salingers "Der Fänger im Roggen".

Kein Zweifel: Viele Autoren, die in den fünfziger und sechziger Jahren ihre Blütezeit erlebt haben, sind Klassiker geworden wie etwa Koeppen, Kaschnitz, Nossack. Manche sind zu Recht vergessen, andere stehen zu Unrecht nicht mehr in der Gunst der Leser. Doch eine Reihe von ihnen wird immer wieder aufgelegt und, allem Anschein nach, auch wahrgenommen.

Der Aufsatz wurde unter der Überschrift "Waren mal ewige Werke" leicht gekürzt in der Fachzeitschrift für Literatur und Kunst "Der Literat" September 9/2002 erstmals abgedruckt.


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