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Welche Rolle spielte das Judentum im Leben Alfred Döblins?

Alfred Döblin entstammte einem weithin assimilierten, religiös ungebundenen Elternhaus. Er selbst berichtete darüber: "Ich hörte zu Hause, schon in Stettin, meine Eltern wären jüdischer Abkunft und wir bildeten eine jüdische Familie. Viel mehr merkte ich innerhalb der Familie vom Judentum nicht. Draußen begegnete mir der Antisemitismus wie selbstverständlich ... Zwei große Feste hielten die Eltern, das Neujahrs- und Versöhnungsfest." In "recht gelegentlichen“ Religionsstunden lernte Döblin auch etwas hebräisch. Eine Bindung zum religiösen Judentum habe sich dabei nicht eingestellt, bekannte er und gestand weiter, dass er zunächst nur die Kehrseite des Judeseins, die Herabsetzung, die Verachtung, den bösen giftigen Hass der Verfolger kennen gelernt habe. Es kann daher nicht verwundern dass Döblin, als er selbständig war, 1912 aus dem Judentum austrat. Doch wenn es um Kampf und um die Verteidigung des Judentums gegangen sei, erklärte er "war und blieb ich ein Jude." So schrieb er 1928 bei der Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste in Berlin in den Personalbogen auf die Frage nach der Religion "keine", fügte aber hinzu "Ich will nicht vergessen, ich stamme von jüdischen Eltern."

Anfangs glaubte Döblin, es genüge, Angriffe des antisemitischen Ungeistes mit Hohn zu überschütten und mit geistreichen, witzig-frechen Aphorismen zu parieren. Mit dem Zionismus wiederum hatte er nicht viel im Sinn, da ihm die geistig-seelische Entwicklung wichtiger war als die Frage von Land und Nation. Er zeigte zwar Sympathie für die Entstehung des Staates Israel, meinte aber in einem Brief an Arnold Zweig am 16.Juni 1952, "..so positiv man zu vielem drüben steht, so sehr man die Heimstätte begrüßt, es dürfte drüben kaum der rechte Platz für unsereins sein, das Judentum ist längst geistig aus dem nationalen und lokalen Rahmen herausgetreten, und wie können dann gerade die Geistigen und Intellektuellen wieder in den alten Rahmen, den eine andere Geistigkeit geformt hatte, zurücktreten: wir haben die Pflicht und den Willen, für eine größere und neue Gesellschaft den Rahmen zu formen, um in einem Wort des Evangeliums zu sprechen: das alte Salz war würzlos geworden."

Gleichwohl haben jüdische Traditionen und jüdische Geschichte in Döblins Werk mannigfache Spuren hinterlassen. Eine wichtige Rolle spielt zum Beispiel das Thema der Judenverfolgung in mehreren Romanen wie in: "Die drei Sprünge des Wang-Lun", in "Wallenstein", "Babylonische Wandrung" und "Amazonas". In "Berlin Alexanderplatz" treten Juden als leichtfertig verschmähte Ratgeber auf, während der Struktur des letzten Romans "Hamlet oder die lange Nacht hat ein Ende" der Ablauf des Jom Kippur-Festes zugrunde liegt.

In der ersten Hälfte der 20er Jahren ereigneten sich in Berlin pogromartige Vorgänge. "Damals", so erinnerte sich Döblin später, "luden Vertreter des Berliner Zionismus eine Anzahl Männer jüdischer Herkunft zu Zusammenkünften ein, in denen über jene Vorgänge und über die Ziele des Zionismus gesprochen wurde."- "Ich konnte meine Bekannten", so Döblin, "die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren. Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren."

Ermuntert zu dieser Reise nach Polen, wo er die Juden als Volk kennen und schätzen lernte, hatte ihn die junge jüdische Fotografin und Bankierstochter Yolla Niclas, der Döblin 1921 auf einem Karnevalsball begegnet war. Er nannte sie die "Schwester meiner Seele." Zwei Jahrzehnte lang hat der "sublimierte Ehebruch" (Marc Petit) Döblins Werk und Sensibilität geprägt. Ermöglicht hatte dies Reise allerdings die "Vossische Zeitung".

Sein Buch "Reise in Polen" (1925) enthält ein facettenreiches Bild der ostjüdischen Lebenswelt, von ihren Städten und Menschen, gesehen mit den Augen des expressionistischen deutschen Literaten im Jahr 1924. Döblin besuchte Warschau, Krakau sowie die Städte Lemberg und Wilna, die damals polnisch waren. Auch wenn ihn die Frage als Sozialist beschäftige: "Wer hat die Macht und wer den Mund.. Wer hungert im Land, und wer ist satt?", so galt seine zweimonatige Reise hauptsächlich den Juden, "Juden, die es dem Glauben und der Sprache nach waren und die an einer geistigen Welt festhielten, die sich seit dem späten Altertum nicht wesentlich verändert hatte." Der Anblick dieser Menschen in mittelalterlicher Tracht, mit eigener Sprache, Religion und Kultur, erschütterte Döblin und wühlte ihn auf.

Er geht auf die alten jüdischen Friedhöfe, besucht die Gräber der Heiligen und schlürft förmlich die Legenden, die man ihm erzählt. Er kann gar nicht genug davon bekommen. Er lässt sich aus kabbalistischen Schriften übersetzen und sieht mit Bewunderung, dass die Realität dieses Volkes, dem Schul- und Bethaus dasselbe ist, in seiner Geistigkeit besteht. Er ist fasziniert, aber manchmal kommt es ihm vor, als sei er unter eine exotische Völkerschaft geraten. Alles mutet ihn fremd an, übt aber gerade dadurch eine große Anziehungskraft auf ihn aus.

Doch hat er in Polen die wirtschaftlich und politisch gefährliche Situation der Juden keineswegs übersehen. Vielmehr erschrak er zutiefst, als er sah, wie arm, verachtet und verhasst Juden dort waren. Denn auch in Polen begegnete er dem Antisemitismus.

Er begreift Ostjuden als widersprüchliche, aber in sich geschlossene kulturelle Größe, die alles aufweist, was das westliche Judentum durch Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt zum großen Teil verloren hat: Zusammenhalt, Selbstbewusstsein, geschichtliche und kulturelle Selbstdefinition. Joseph Roth nannte Döblins "Reise in Polen" in seiner Besprechung "Pilgerreise zum östlichen Judentum". Wir freilich können heute Döblins Buch nicht lesen, ohne daran zu denken, was später kam. Zwanzig Jahre nach seinem Besuch lebten in Warschau keine Juden mehr.


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