Erinnerungen an meine ostpreußische Kindheit - geweckt durch eine Reise nach Polen
Eigentlich wollte ich meine alte Heimat nicht mehr wiedersehen oder besser gesagt, meine alten Heimaten. Da ich wegen der Umzugsfreudigkeit meiner Eltern in verschiedenen Städten und unterschiedlichen Regionen aufgewachsen bin, was ich übrigens nicht als Nachteil empfinde, komme ich nicht umhin, das Wort Heimat im Plural zu verwenden. Lange Zeit hatte ich meine Kindheit und Jugend als abgeschlossene Kapitel betrachtet, wie ein Buch mit sieben Siegeln, das ich längst ad acta gelegt hatte und nie wieder öffnen wollte.
Doch als kurz nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks ein Reiseunternehmen eine Fahrt anbot just in jene Gegend, in der ich, wie man so schön sagt, das Licht der Welt erblickt habe, nämlich in der Nähe von Allenstein, dem heutigen Olsztyn, und zumal auch Lyck, jetzt Elk genannt, in der Nähe liegt, wo ich meine Schullaufbahn begann, konnte ich dem Angebot nicht widerstehen und warf alle meine Vorsätze über den Haufen. Um es gleich vorwegzunehmen, diesen Entschluss habe ich nicht bereut, im Gegenteil. Manches im polnisch gewordenen Land war mir zwar vertraut, das meiste jedoch kam mir sehr fremd vor. Irgendwie war es auch gespenstisch, der eigenen Vergangenheit in verfremdeter Gestalt wieder zu begegnen, nachdem jene, die mich zuerst geprägt und geformt haben, nicht mehr am Leben sind. Vor allem aber, und das ist wohl das Entscheidende dieser Reise, habe ich Land und Leute, die es mir leicht gemacht haben, die heutigen Gegebenheiten zu akzeptieren, in etwa kennen und schätzen gelernt.
Von meinen ostdeutschen Bekannten und Verwandten wusste ich schon lange vor ffnung der Grenzen, dass sie an "den" Polen, um es gelinde zu sagen, eine Menge auszusetzen haben. Aber wie ich bald erfahren habe, stehen ihnen die Westdeutschen, was Vorurteile gegenüber Polen betrifft, keineswegs nach. Als ich nämlich Bekannten und Freunden von unserer Absicht erzählte, nach Nordpolen zu fahren, erntete ich überraschtes Kopfschütteln und verständnisloses Erstaunen. "Was wollt Ihr denn ausgerechnet in Polen?" wurde ich gefragt. "Die Polen sind doch alle faul und dreckig. Nicht umsonst spricht man von der polnischen Wirtschaft." Andere wiederum, die es im Grunde besser hätten wissen müssen, behaupteten gar, die Polen seien nicht intelligent - und das trotz Stanislaw Lem, Andrzej Szczypiorski, Czeslaw Milosz, Marek Nowakowski, Adam Schaff, Leszek Kolakowski, von den eigenwilligen polnischen Regisseuren Andrzej Wajda, Krzysztof Zanussi, Roman Polanski und dem genialen Pianisten und Komponisten Krzysztof Penderecki ganz zu schweigen, ohne deren Werke unsere Gegenwartskultur um vieles ärmer wäre.
Nicht wenige unserer Weggefährten - der eigene Mann inbegriffen - dachten anfangs ähnlich und haben ihre Vorbehalte während der Reise dann ganz schnell revidiert.
Was uns während unseres Aufenthalts in Polen vor allem begeistert hat, war die Landschaft mit ihren zauberhaften Seen, den versteckten Fischteichen, den dichten Buchen-, Kiefern- und Fichtenwäldern, den kastanienüberschatteten Chausseen, wo man das Gefühl hat, hier ist die Natur noch in Ordnung, nicht zu vergessen die bunte Vogelwelt - viele der noch in Polen heimischen Vögel kennt man bei uns nur noch vom Hörensagen - und die zahllosen Störche mit ihren Jungen auf den Dächern und in den Wiesen.
Auf unseren Rundfahrten kamen wir in einsame, von der Welt abgeschnittene Dörfer, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Wir halten vor alten verlassenen Herrenhäusern mit gotischen Ställen und Renaissance-Scheunen. Plötzlich stehen wir vor dem bescheidenen Geburtshaus von Ernst Wiechert mitten im Wald. Erinnerungen an Deutschstunden, die uns sein Werk eher verleidet denn zugänglich gemacht haben, werden wach. Auch Wallfahrtskirchen besuchen wir. Die meisten sind gut erhalten oder tadellos renoviert. Verwahrlost wirken dagegen die Friedhöfe, auf denen deutsche Bewohner einst zur letzten Ruhe gebettet wurden.
Ob ich etwas wieder erkannt und mich an manches erinnert habe? Oh, ja, gewiss, mehr als ich zu hoffen wagte. Meine Geburtsstadt Neidenburg, jetzt Nidzica, in der Nähe von Allenstein, kam mir indes recht fremd vor. Schließlich war ich noch nicht einmal vier Jahre alt, als wir in den dreißiger Jahren von hier fortzogen.
Wir sind während unseres Aufenthalts in Neidenburg auf die Burg gestiegen, haben einen Blick in den Stadtwald geworfen, das alte Rathaus gesehen und die Kirche besucht, in der ich wahrscheinlich getauft worden bin. Einiges kannte ich von alten Fotografien, aber einen konkreten Anhaltspunkt für persönliche Erinnerungen und einen direkten Zugang zu dieser Stadt fand ich nicht.
Etwas besser als mit Neidenburg erging es mir dagegen mit Lyck, dem heutigen Elk, im Masurenland. Die schönsten Augenblicke erlebte ich hier während der kurzen Rast oberhalb des Lyck-Sees gegenüber der Stadt, wo ich in der Ferne die alte rote Backsteinkirche, den verwitterten Wasserturm, den ich völlig vergessen hatte, und von weitem jene Stelle entdeckte, wo wir ungefähr am Lyck-See gewohnt hatten. Obwohl hier bei Kriegsende vieles zerstört worden war, so war doch die alte Stadtsilhouette in ihren Grundzügen erhalten geblieben, auch die steinerne Brücke über dem See und dicht daneben das alte Gefängnis, das demnächst, wie uns der Taxifahrer verriet, zu einem Hotel umgebaut werden soll. Auf dem Lyck-See sind wir, meine Eltern und ich, häufig gerudert. Wenn wir unter der Brücke durchfuhren, schauten die Gefangenen aus dem grauen Gemäuer auf uns herab und winkten uns zu.
In Lyck sind wir am See entlang gegangen bis dorthin, wo wir einst gewohnt haben. Meine Freundin Eva kam mir in den Sinn. Wie oft haben wir hier gespielt, und wie oft habe ich mich heimlich zu den Kindern ins Hinterhaus geschlichen, wenn mein Vater nicht gerade in Sichtweise war. Meine alte Schule habe ich wiedergesehen, und als wir die Straße zum Bahnhof entlang gingen, hörte ich erneut die Stimme meiner Mutter auf unserer letzten Taxifahrt vor unserer Abreise nach Mecklenburg: "Schau dich genau um,es ist das letzte Mal. Dies alles siehst du nie wieder."
Und nun nach vielen Jahren habe ich doch etliches wiedergesehen: die Johannisburger und die Rominter Heide, Nikolaiken, den Spirdingsee, Lötzen und andere Orte. Im Grunde habe ich sie jetzt erst richtig kennen gelernt und mit Menschen gesprochen, die heute hier zu Hause sind und die vor Jahrzehnten ebenso gern wie die Deutschen in ihrer alten Heimat geblieben wären: in Ostpolen, in Lemberg oder in Wilna.
Aber wie war das eigentlich mit den Nazis und dem Dritten Reich? Schließlich wuchs ich nicht nur in Ostpreußen - aber hier begann es - mit Nazipropanda und -parolen auf. Gleichwohl haben diese nicht meine Kindheit bestimmt, und ich habe heute im Rückblick etwas Mühe, mir zu vergegenwärtigen, was ich damals vom Unrechtregime eigentlich mitbekommen habe. Mein Vater, Journalist und Redakteur, war - so viel ist sicher in den zwanziger Jahren bei der Schwarzen Reichswehr, später in der SA und Parteigenosse. Wenn ich heute seine damaligen Zeitungsartikel lese, finde ich sie nur schwer erträglich. Ursprünglich war er (ich habe später meine Mutter danach gefragt) im Zeitungsrevier für Kultur und Theater zuständig, dann indes nahm die Politik, zum nachträglichen Bedauern meiner Mutter, ihn auch als Zeitungsmenschen mehr und mehr mit Beschlag.
Meine früheste Erinnerung ist ein zerstörtes Geschäft (ich glaube, es war in Neidenburg, ich ging jedenfalls noch nicht zur Schule). Mein Vater und ich gingen an einem Sonntagmorgen durch die Straßen - meine Vater musste seine Manuskripte, die er in Nacht zuvor getippt hatte, in die Redaktion bringen. Ich habe ihn damals gerne begleitet und mich mit ihm immer angeregt, meinem Alter natürlich angemessen, unterhalten. Plötzlich war ein Menschenauflauf auf der Straße, Glasscherben lagen überall herum, bestürzte Gesichter. "Hier wohnt ein Jude", hörte ich von irgendwoher. Doch mein Vater zog mich weg und meinte etwas ungeduldig und zugleich mit seiner ganzen Autorität, die keinen Widerspruch duldete: "Ach, das verstehst Du nicht. Unterhalten wir uns lieber über etwas anderes." Diesen Vorfall habe ich nie vergessen. Die Pogromnacht 1938 war es nicht, das weiß ich bestimmt, denn damals wohnten wir schon in Neustrelitz(Mecklenburg), und von dieser wiederum habe ich nichts mitbekommen. Allerdings weiß ich aus Büchern und eigenen Recherchen mittlerweile, dass in Ostpreußen viele Juden gelebt haben und Übergriffe schon in den ersten Jahren des Naziregimes an der Tagesordnung waren, ob mit oder ohne Partei, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich erinnere mich an eine kleine Auseinandersetzung meiner Eltern. Meine Mutter hatte sich eine neue Handtasche gekauft. Mein Vater erkundigte sich, in welchem Geschäft sie diese wohl erstanden habe und fügte im gleichen Atemzug hinzu:" Hast Du etwa wieder bei dem alten Juden gekauft? Du weißt doch, das sollst Du nicht mehr." Meine Mutter war mit seinem Einwand nicht einverstanden und fragte zurück:"Was hast Du nur? Erstens ist der Jude ein sehr netter älterer Herr, und dann ist er viel billiger als alle anderen."
Auch Polen musste sich lange und muss es vielleicht immer noch mit schlimmen Erblasten auseinander setzen, zum Beispiel mit einem untergründig grassierenden Antisemitismus. Antisemitische Schmierereien entdeckte ich in Nidzica (Neidenburg) und in Szczecib (Stettin). Bekanntlich hat auch die polnisch-jüdische Geschichte eine Reihe trauriger Kapitel aufzuweisen, sogar noch lange nach dem Krieg. Nicht von ungefähr geht Andrzej Szczypiorski mit seinem Volk recht unsanft ins Gericht, so auch in seinem Roman "Die schöne Frau Seidenmann."
Zur Nachtseite im Nachkriegspolen gehört unbestritten die jahrzehntelange Diffamierung der dort noch lebenden deutschen Minderheit, die inzwischen wohl mehr oder weniger abgeflaut ist. Noch im Jahr 1991 trafen wir ältere deutsche Frauen, die am Czos-See bei Mragowo (früher Sensburg) selbst gestrickte Tischdecken und Honig zum Verkauf anboten. Viele waren verarmt und einsam. Andere haben nach dem Krieg einen polnischen Ehepartner gefunden. Einige von ihnen führten, als wir dort waren, als Stadtführerinnen die deutschen Besucher durch ihre Stadt. Während wir durch das masurische Land fahren, liest uns unsere polnische Reisebegleiterin Geschichten vor, von Marjellchens und Lorbassen und anderen ostpreußischen Gestalten. Wir hören bekannte deutsche Erzählungen vom Grafen Lehndorff, von Marion Dönhoff, von Siegfried Lenz und auch von Agnes Miegel. Ob sie wohl weiß, unsere Hanna, dass die ostpreußische Dichterin die braunen Machthaber ebenso bewundert, verehrt und angedichtet hat wie die Ordensritter und andere, die in diesem Land einmal geherrscht haben - nicht immer zum Segen des Landes und der Bevölkerung. Agnes Miegel musste ihre Verehrung, wie viele ihrer Landsleute, mit dem Verlust ihrer Heimat teuer bezahlen. Bis zu ihrem Tode hat die Dichterin darunter gelitten. In ihren letzten Dichtungen, hat sie dann nur noch vergangenheitsorientiert über die verlorene Heimat geschrieben und über Heimweh geklagt.
Als wir auf der letzten Etappe unserer Rückfahrt im Sauerland ankommen, meinte ein Mitreisender, der, wie viele andere von uns in Nordpolen den Spuren seiner ostpreußischen Kindheit nachgegangen war: "Ach, das Sauerland ist doch auch schön." Es klang ein wenig trotzig, ein wenig wehmütig, so als müssten wir uns alle, die wir nicht mehr dort leben, wo wir herstammen, selbst darüber hinweg trösten, dass uns von der alten Heimat nicht nur mehrere Jahrzehnte Geschichte trennen, sondern dass auch die eigene Kindheit und Jugend inzwischen fast genauso lange zurückliegen. Wer immer nur an einem Ort gelebt hat, dem wird dieser Abstand selten so drastisch vor Augen geführt wie jenen, die ein Menschenalter später noch einmal an die ersten Stätten ihres Lebens zurückkehren.
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