Franz Kafka und das Judentum
Einführung in Kafkas Leben und Entwicklung
Franz Kafkas Leben währte knapp einundvierzig Jahre und ist, äußerlich betrachtet, leicht zu überschauen. Vierzehn Jahre lang - von 1908 bis 1922 - war er Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag. Er unternahm einige Reisen und hatte etliche, mitunter recht komplizierte Beziehungen zu Frauen. Überschaubar waren auch seine zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher: schmale Bände mit kurzen Erzählungen, die zunächst wenig beachtet wurden. Dennoch ist Kafka der einflussreichste Dichter des 20. und sicher auch noch des 21. Jahrhunderts und hat sowohl der deutschsprachigen als auch der Weltliteratur neue Wege gewiesen. Zudem gibt es kaum noch einen Menschen, der nicht das Adjektiv "kafkaesk" verstünde. Diese Entwicklung verdanken wir vor allem Kafkas Freund und Förderer, Max Brod, der alle großen Romane, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe von Kafka gegen dessen Willen gerettet hat, so dass uns heute ein opulentes Oeuvre aus der Werkstatt des Prager Dichters zur Verfügung steht.
Gelebt hat Kafka überwiegend in Prag, der Stadt an der Moldau - "Kleine Mutter mit Krallen" nannte er diesen Kreuzungspunkt böhmischer, deutscher, jüdischer und österreichischer Kultur, wo er am 3.Juli 1883 das Licht der Welt erblickt hat. Durchweg wohnte der Schriftsteller in oder in der Nähe der Altstadt und des ehemaligen jüdischen Ghettos, dessen räumliche Nähe die geistige Nähe zur jüdischen Kultur und Religion symbolisierte und zum Flanieren zwischen den Kulturen und Zeiten geradezu einlud.
Zu seinem Gesprächspartner Gustav Janouch sagte Kafka einmal: "In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neu erbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß nichts von der durchgeführten Assanation. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische Stadt in uns."
Kafka war der Spross einer glaubenslos gewordenen jüdischen Familie Prags, die allerdings, nach Auskunft der Mutter, "wie rechte Juden" die jüdischen Feiertage stets eingehalten hat. Auch Kafka ist allem Anschein nach dem Brauch gefolgt, zumindest an den hohen Feiertagen in die Synagoge zu gehen.
Kafka erinnerte sich daran, dass er sich - von der Tanzstunde abgesehen - niemals so gelangweilt habe wie bei dem Besuch in der Synagoge an hohen Feiertagen. Die religiöse Erziehung, die er in der Schule erhielt, war anscheinend so unzulänglich, dass sie jedes Interesse am Judentum erstickte.
Sein Leben und Schreiben vollzog sich innerhalb eines nicht auflösbaren Spannungsgefüges zwischen dem Vater, dem nur formal bewahrten Judentum und bürgerlicher Existenz auf der einen Seite und einer tief empfundenen Verbindung zum lebendigen Judentum auf der anderen Seite.
Dem Kind waren die religiösen Veranstaltungen gleichgültig, langweilig, ja lächerlich. Dem erwachsen gewordenen Kafka wurden dann die fragwürdige Aufklärerei und der mystische Snobismus seiner Umwelt ebenso verdächtig. Die Opposition zu den pseudoreligiösen Derrivaten der Umwelt erklärt auch seine spätere Neigung zur unvergleichlich 'lebendigeren' Religion der Ostjuden.
So wenig das Judentum in der Familie auch gepflegt wurde, so musste Kafka doch in Ausbildung und Beruf einen für Juden damals üblichen pragmatischen Weg gehen; "..einem Juden, der die Universität absolviert hatte, blieben unter den damaligen Umständen, wenn er sich nicht taufen lassen wollte, um eine staatliche Karriere einzuschlagen, praktisch nur die 'freien' Berufe übrig: Arzt oder Advokat zu werden" (Hugo Bergmann). Das Studium der Rechte war für Kafka eher eine Verlegenheitslösung. Auch die spätere Beamtenlaufbahn war ihm nicht allzu wichtig. Denn all sein Denken und Trachten galt dem Schreiben. "Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren", vertraute er am 28.Juli 1914 seinem Tagebuch an. Obwohl finanziell selbständig, zeigte Kafka lange Zeit keine Neigung, von seinen Eltern und Schwestern fortzuziehen, auch wenn er sich dort "fremder als ein Fremder" fühlte, wie er später schrieb. Außer mit seiner Schwester Ottla wechselte er mit kaum jemandem aus seiner Familie ein Wort. Mit dem Vater lebte er ohnehin in stummer Feindschaft. Er hatte als einziges der Kafka-Kinder zwar ein eigenes Zimmer, klagte aber in seinem Tagebuch über den Lärm, die Unruhe, das Durcheinander, die ihn vom Schreiben abhielten.
Stufenweise Bekanntschaft mit dem Ostjudentum
Daneben setzte sich Kafka mit dem Zionismus und dem eigenen Judentum auseinander. Dazu inspirierten ihn zunächst Martin Bubers berühmte "Drei Reden zum Judentum", die dieser zwischen 1909 und 1911 in Prag gehalten hatte. Durch sie waren Kafka und auch andere Prager Studenten auf die eigene jüdische Identität erst richtig aufmerksam geworden. Einige Jahre später, 1916 und 1917, überließ Kafka Buber zur Veröffentlichung in dessen Monatsschrift "Der Jude" unter dem Obertitel "Zwei Tiergeschichten", zwei seiner Erzählungen: "Schakale und Araber" und "Bericht für eine Akademie". Gleichwohl verhielt sich Kafka von Anfang an kühl gegenüber Bubers Gedankengut.
Einen weiteren Auftrieb für eine weitere, über längere Zeit hinweg andauernde intensive Beschäftigung mit dem östlichen Judentum, in dem Kafka nicht nur eine unverbrauchte, frische volkstümliche Spiritualität, sondern auch die Anfänge seines eigenen Judentums zu entdecken glaubte, erhielt er durch eine polnisch-jiddische Theatergruppe aus Lemgo, die zwischen 1910 und 1912 im Café-Restaurant Savoy am Ziegenplatz unter der Leitung des aus Warschau stammenden Jizchak Löwy gastierte und durch die Kafka ein wenig näher das ostjüdische Leben und die Gewohnheiten ostjüdischer Menschen kennen lernte. Diese Vorstellungen hat Kafka zusammen mit Brod etwa zwanzig Mal besucht. Hingerissen war er vor allem von dem Auftritt der Schauspielerin Mania Tschissik. "Bei manchen Liedern der Ansprache 'jüdische Kinderlach'", notierte Kafka am 5.Oktober 1911 in sein Tagebuch, "manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist, uns Zuhörer, weil wir Juden sind, an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, ging mir ein Zittern über die Wangen..."
"Mit den Stücken, die Kafka nun in den kommenden Monaten sah, glaubte er an eine Form des Judentums geraten zu sein, in dem die Anfänge des seinigen ruhen und das zu sich zu ihm hin entwickelt. Dabei würden ihn diese Kräfte, so glaubte er, auch in seinem schwerfälligen Judentum aufklären und so wörtlich, 'weiterbringen' " (Amir Eshel in Brenner "Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt").
"Die Entdeckung der ostjüdischen Eigenart ist ein entscheidender Schritt seiner Entwicklung", konstatierte auch Max Brod, "sein religiöses Gefühl findet hier eine lebendige Stütze." Mehr als hundert Seiten der Tagebücher Kafkas sollen sich allein auf das jiddische Theater beziehen. Nach der Begegnung mit den jiddischen Schauspielern, in denen Kafka Botschafter aus dem Verheißenen Land erblickte, teilte sich für ihn das Judentum in Ost- und Westjuden.
Kafka bewertete die Stücke des jiddischen Theaters nicht so sehr als Kunstwerke, sondern mehr als Ausdruck jüdischen Lebens. Er schätzte sie hoch ein, weil sie ihm das Gefühl gaben, Jude zu sein, ohne ihn dabei zugleich die Verlegenheit darüber spüren zu lassen, die er bei politischen Veranstaltungen empfand.
Sein Freund Löwy war eine wichtige Informationsquelle. Dieser war der Sohn gut situierter, in Warschau lebender Eltern und hatte bis zum zwanzigsten Lebensjahr den Talmud studiert. Während Löwy indirekt dazu beigetragen haben mag, Kafka literarische Bilder zu vermitteln, war er für ihn vor allem deshalb wichtig, weil er ihm Informationen über die alten jüdischen Gemeinden in Osteuropa zugänglich machte, über ihre Sitten und Gebräuche, wie etwa über die Beschneidung. Löwy führte Kafka auch in die jiddische lyrische und erzählerische Dichtung ein. Im Tagebuch erwähnt Kafka, dass Löwy ihm Gedichte von Morris Rosenfeld, dem berühmten New Yorker Autor, und auch ein Gedicht des hebräischen Dichters Bialke vorgelesen habe.
Allerdings ist in Kafkas außergewöhnlichem Interesse für die Ostjuden nichts vom nationalistischen Romantizismus Max Brods zu spüren. Vielmehr sieht er im Ostjudentum eine Welt der Legenden und Mythen, in der sich wie in einer Parabel der große Widerspruch des modernen Judentums darstellt.
Der Hauptgrund der Begeisterung für das jiddische Theater war aber auch die "kindliche Kraft der Fantasie" als Freude, Leichtigkeit und Vitalität, die sich frei entfalten können, ohne die dramatische Seriosität des Textes zu stören. Die Schauspieler zeigten die ganze Natürlichkeit ihres Judentums gerade in der Spontaneität, mit der sie es fertig bringen, Komödianten zu sein, ohne Schuldkomplexe zu haben. Aus diesem Grund, meinte Kafka, müssten sie mit noch größerer Ehrfurcht betrachtet werden.
Mit großer Energie setzte sich Kafka für Löwy und seine Truppe ein, indem er zum Beispiel über Max Brod im "Prager Tagblatt" und auch in der jüdischen Wochenschrift "Selbstwehr" für Berichterstattungen über sie sorgte oder sich um Gastspielengagements in der böhmischen Provinz bemühte. Während die Prager jüdischen Intellektuellen das Auftreten dieser Theatergruppe eifrig debattierten, ignorierte das offiziöse Prager Judentum die jiddischen Theaterleute. Waren diese doch in ihren Augen Schmierenkomödianten. Zudem galt ihnen das Lokal, in dem die Truppe auftrat, als überaus zweifelhaft.
Gegen den ausgesprochenen Willen seines Vaters war Kafka ein enger Freund des Leiters der jiddischen Theatergruppe Jizchak Löwy geworden, den der Vater mit verächtlicher Ironie mit Flöhen, Wanzen und anderem widerlichen Ungeziefer verglich. In den Tagebuchnotizen der nachfolgenden Zeit ist neben Kafkas Faszination für die jiddischen Theaterleute auch die Missbilligung des Vaters, der mit diesen "Schmierenkomödianten" wenig anzufangen wusste, gegenüber dem Verhalten seines Sohnes festgehalten. Am 3.November 1911 schreibt Kafka: "Löwy - mein Vater über ihn: Wer sich mit Hunden zu Bett legt, steht mit Wanzen auf. Ich konnte mich nicht halten und sagte etwas ungeordnetes. Darauf der Vater besonders ruhig (allerdings nach einer großen Pause die anders ausgefüllt war):'Du weißt, dass ich mich nicht aufregen darf und geschont werden muss. Komm mir also noch mit solchen Sachen. Ich habe der Aufregungen gerade genug, vollständig genug. Also lass mich mit solchen Reden.' Ich sage:'Ich strenge mich an, mich zurückzuhalten' und fühle beim Vater wie immer in solchen äußersten Augenblicken das Dasein einer Weisheit, von der ich einen Atemzug erfassen kann."
Am 18.2.1912 veranstaltete Kafka im Festsaal des Jüdischen Rathauses einen Vortragsabend mit Jizchak Löwy und hielt selbst die Einführungsansprache, unter dem Titel "Rede über die jiddische Sprache", die sich an die assimilierten deutsch-jüdischen Kreise des Prager Bürgertums richtete. Unmissverständlich sprach der Dichter auch die Welt seines Vaters an, die im Jiddischen und im "Mauscheldeutsch" all das Verachtete und Verdrängte ihrer eigenen Herkunft zu erblicken meinte. Nebenbei notierte Kafka enttäuscht die Abwesenheit seiner Eltern, die, wie er sagte, vor dem Jiddischen nicht nur Angst, sondern auch einen gewissen Widerwillen empfänden, der um so größer sei, je stärker die Anziehungskraft jener Welt zunehme, die sie erst vor wenigen Jahrzehnten verlassen hätten.
Der Vortrag beruhte auf den Ergebnissen seines Studium der "Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur" vom Meyer Isser Pinès, aber auch auf den Eindrücken, die er durch die Lektüre jiddischer Texte gewonnen und die er zusammen mit Löwy gelesen hatte. "So stellt der Vortrag sicherlich den bedeutendsten kulturellen Beitrag dar, den Kafka für das öffentliche Leben seiner Vaterstadt geleistet hat", schreibt Giuliano Baioni.
Über Jahre hinweg blieben Kafka und Löwy miteinander verbunden. Sieben Jahre nach dem Auftreten der Theaterleute in Prag redigierte Kafka in Zürau Löwys Erinnerungen für eine Zeitschrift. Später haben viele Kritiker darauf hingewiesen, dass Kafka in seinen Werken den Humor des jiddischen Theaters miteinbezogen und neu gestaltet habe.
Zur gleichen Zeit, als Kafka mit Löwy befreundet war, befasste er sich ausgiebig, wie oben angedeutet, mit Heinrich Graetz' Geschichte des Judentums", die er Anfang November 1911 "gierig und glücklich zu lesen angefangen" hatte. "Weil mein Verlangen danach das Lesen weit überholt hatte, war es mir zuerst fremder, als ich dachte, und ich musste hie und da einhalten, um durch Ruhe mein Judentum sich sammeln zu lassen. Gegen Schluss aber ergriff mich schon die Unvollkommenheit der ersten Ansiedlungen im neu eroberten Kanaan und die treue Überlieferung der Unvollkommenheit der Volksmänner (Josuas, der Richter, Elis)", heißt es im Tagebuch unter dem 1.November 1911. Hinzu kamen Jacob Fromers "Organismus des Judentums" sowie die zionistische Zeitschrift "Selbstwehr" des Bar Kochba-Vereins. Die Anmerkungen zu dieser Lektüre belegen freilich auch die mangelnden religiösen Grundlagen Kafkas. So sollen ihm noch nicht einmal Bedeutung und Geschichte der Klagemauer in Jerusalem bekannt gewesen sein. Doch muss man wohl diese Lektüren von November 1911 in den Gesamtzusammenhang der Bewusstseinsentwicklung Kafkas einordnen.
Im Jahr 1915 traf sich Kafka mehrmals mit Georg Mordechai Langer, einem Prager Juden. Durch ihn lernte er die in Erzählungen und Wundergeschichten verhüllte chassidische und kabbalistische Tradition kennen. Gemeinsam besuchten sie den Rabbi von Belz, bei dem Langer studiert hatte. Aber auch durch seine Freunde Max Brod, Oskar Baum und Felix Weltsch, der sich schon früh für den Zionismus entschieden hatte und später leitender Redakteur der in Prag erscheinenden zionistischen Wochenschrift "Selbstwehr" war, wurde Kafka mit der jüdischen Tradition vertraut gemacht. Zudem hatte er schon in der Gymnasialzeit mit seinem Schulgefährten Hugo Bergmann, dem späteren Religionsphilosophen, Disputationen geführt, "in einer entweder innerlich vorgefundenen oder ihm nachgeahmten talmudischen Weise über Gott und seine Möglichkeiten", lautet ein Eintrag vom 31.Dezember 1911 im Tagebuch.
Angeregt durch seine Freunde Max Brod und Hugo Bergmann nahm Kafka regelmäßig an den Veranstaltungen des Prager jüdischen Studentenvereins Bar Kochba als Gast teil. (Jüdische Studenten hatten 1899 an der Universität Prag die zionistische Vereinigung gegründet, die sie nach dem jüdischen Anführer aus dem 2.Jahrhundert nach Christus "Bar Kochba" nannten. Sie wurde die bedeutendste zionistische Organisation in Mitteleuropa.) Hier wurde die Welt der assimilierten jüdischen Bourgeoisie Prags kritisiert, zu der auch Kafkas Familie gehörte. Aus diesem Grunde schon hat sich Kafka in diesem Kreis sehr wohl gefühlt. Denn längst war ihm klar geworden war, dass die Westjuden gleichsam in einem luftleeren Raum schwebten und ihnen das historische Bewusstsein ebenso abhanden gekommen war wie der Sinn für die produktiven Kräfte einer im Glauben verbundenen Gemeinschaft.
Im Winter 1916/1917 kam es zu einer neuen konkreten Begegnung mit Religion und Kultur des Ostjudentums und zwar durch die Ströme ostjüdischer Flüchtlinge, die in diesen Kriegsjahren ständig aus Galizien und anderen osteuropäischen Ländern in Großstädten wie Prag und Berlin eintrafen.
Im Jahre 1912, das auf die zwei Jahre intensiver Beschäftigung mit dem jiddischen Theater folgte, schuf Kafka seine erste erfolgreiche Geschichte: "Das Urteil". Sie zeigt in höchst unmittelbarer und dramatischer Weise den Einfluss des jiddischen Theaters auf Kafkas Prosastil.
Doch schon hier enthüllt sich, wie auch später in anderen Texten Kafkas, die jüdische Problematik als Menschheitsproblematik schlechthin. Als Dichter bleibt Kafka indessen ständig mit dem Problem des Judentums verbunden. Dieses Problem war auch der Hauptgegenstand der ersten Gesprächs zwischen Kafka und seiner späteren Verlobten Felice Bauer im Hause Brod. Von ihm ging ein außerordentlicher Briefwechsel aus, der am 20.September 1912 begann und am 16.Oktober 1916 endete. Er repräsentiert unter anderem eine sehr jüdische Geschichte, die sich in einer ausschließlich jüdischen Welt abspielt. In ihr bildet die Frage des Judentums - denn auch Felice kam aus einer jüdischen Familie - die moralische und bewusstseinsmäßige Grundlage einer Beziehung, die sonst nur von der verzweifelten, aber auch sehr unbestimmten Existenzangst Kafkas geprägt zu sein scheint. Kafka nahm seine Beziehung zu Felice zu einem Zeitpunkt auf, an dem er - nach der intensiven Beschäftigung mit den jiddischen Schauspielern und der Auseinandersetzung mit der jüdischen Frage - mit der Arbeit an seinem ersten Roman "Der Verschollene" beschäftigt war, die er im März 1912 aufgenommen hatte.
Marina Cavarocchi Arbib bringt Kafkas unterschiedliche Sicht des Judentums in seinen Briefen an Felice und in seinen späteren an Milena auf folgenden Punkt: In den Briefen an Felice sei das Judentum als gemeinsamer Nenner aufgefasst. Es sei nicht ganz definierbar, jedoch eine unbestreitbare Tatsache. In den Briefen an Milena werde das Judentum dagegen zu einer Auseinandersetzung mit einer wesentlich anderen Realität, mit einer ihm weniger vertrauten Welt, die der Nichtjuden.
Die Begegnung mit Felice Bauer, die nicht nur Jüdin, sondern auch Zionistin war und als gute Zionistin Hebräisch gelernt hatte, veranlasste Kafka, seine eigene Identität als Jude und Schriftsteller zu festigen.
Doch als er dann in einer Nacht im September 1912 in einem Zug die Erzählung "Das Urteil" niederschreibt, kommt er unter dem Eindruck dieses Ereignisses zu der Einsicht, dass sein wahres Wesen im Schriftstellerdasein wurzelt, allein dieses, das Schriftstellertum gibt ihm, wie er in einem Brief an Felice schreibt, "das Recht zum Leben".
Kafka der westjüdischste aller Prager Juden?
Kafkas Dichtung muss man auch vor dem Hintergrund seiner sozialen Umgebung und der sozialen Verhältnisse sehen und dabei berücksichtigen, dass sich Kafka erst nach und nach der Tatsache, Jude zu sein, klarzuwerden suchte.
Zuweilen spürte Kafka, je länger er sich mit dem Ostjudentum befasste, geradezu einen Widerwillen gegen die Welt, die seine eigene kulturelle Identifikation mit der Sprache der deutschen Kultur bestimmte und zugleich behinderte. Doch war und blieb seine kulturelle Kategorie die westjüdische Disposition, auch wenn ihm Ostjuden als Paradigma eines ursprünglichen, der Tradition verbundenen lebendigen Judentums galten.
Die Welt des Ostjudentums faszinierte Kafka nicht zuletzt deshalb, weil er in ihm sogar eine gewisse Ähnlichkeit in Lebensgefühl und Denkweise mit seiner eigenen Lebenseinstellung entdeckte. Allerdings gestaltete sich seine Begegnung mit der religiösen Welt der frommen osteuropäischen Juden, der Chassidim, überaus ambivalent. Mehr spielerisch konstruierte er sich am 25.Dezember 1911 in seinem Tagebuch seine eigene chassidischen Genealogie: "Ich heiße hebräisch Amschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißen Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war, als er starb."
Kafkas Sicht der jüdischen Legendenwelt war überaus romantisch wie seine Sehnsucht nach dem gelobten Land, und so schrieb er einmal in einem Brief an Milena: "..wenn man mir freigestellt hätte, ich könnte sein, was ich will, dann hätte ich ein kleiner ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter, dick eingepackt, wühlt in den Reisefetzen, die Schwester scherzt mit den Mädchen und kratzt sich in ihren schönen Haaren - und in ein paar Wochen wird man in Amerika sein."
Die Ostjuden beneidete er um ihre Naivität, obgleich er sie manchmal auch verspottete und parodierte, und schätzte ihre authentische religiöse Gemeinschaft, die eines echten Gottesglaubens und eines Gemeinsschaftsgefühls fähig war, während er seine eigene gesellschaftliche Gruppe, die assimilierten Juden des Westens, verabscheute und in ihnen den Inbegriff einer entwurzelten, gemeinschafts-, traditions- und zukunftslosen Existenz sah. Seiner Ansicht nach haben assimilierte Juden ihre Bindungen an die jüdische Gemeinschaft zerschnitten, ohne von der europäischen akzeptiert zu werden. Somit sind sie von der Welt des Gesetzes abgeschnitten, ohne irgendwo Wurzeln schlagen zu können. Kafka nannte dies einen Mangel an "festem jüdischen Boden", unter dem er selber litt. Dieses Bild kehrt in Briefen und Aufzeichnungen häufig wieder:"..nichts unter den Füßen haben."
Das Bewusstsein jüdischer Identität, individuell und als Gruppe, war überdies in Kafkas Welt stark präsent. Er selbst sah sich gleichwohl als westeuropäischen Juden im Gegensatz zu den osteuropäischen, dem Glauben und der Tradition stärker verbundenen Juden, und damit als Angehöriger einer Minderheit von Juden unter Christen und zwar unter christlichen Tschechen. Er hatte durchaus Sympathie für die Tschechen, doch fühlte er sich ihnen nicht zugehörig. Als Deutscher oder sterreicher fühlte er sich auch nicht; zu Deutschen hatte er keine Beziehungen, die über das Geschäftliche hinausgegangen wären, wenn sie nicht Juden waren, und doch gehörte er zur deutschen Literatur. Immerhin schrieb er seine Texte in deutscher Sprache. Franz Kafka war also ein jüdischer Schriftsteller in deutscher Sprache, der inmitten von Tschechen lebte. Gegenüber Milena schildert Kafka seine persönliche Lage als individuelle Zuspitzung der westjüdischen Situation im allgemeinen. "Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterschneidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden. Ich bin, so viel ich weiß, der westjüdischste von ihnen.. nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch vielleicht jeder Mensch mitbekommen hat, auch das muss erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts - ich weiß nicht, ob sie das tut -, müsste ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen."
Trotz seiner tiefen Abneigung gegenüber seiner bürgerlichen westlichen jüdischen Herkunft fühlte sich Kafka stets als Jude, und so es sicherlich auch kein Wunder, dass es in seinen Tagebüchern und Briefen oft um seine jüdische Identität geht. Seine Ablehnung der Selbstzufriedenheit des Glaubens, der institutionalisierten Heilsgewissheit hat ihn zumindest zu einer anderen Betrachtung der Religion geführt. Doch darf man nicht außer acht lassen, dass Kafka als deutschsprachiger Jude in einem jüdischen Milieu aufgewachsen ist, dass er fast ausschließlich mit Juden zusammen war und zu jener Generation gehörte, die sich mit dem im Auflösungsprozess befindenden Judentum der Eltern auseinanderzusetzen hatte.
Obgleich sich Kafka den Wurzeln seines ihm fast abhanden gekommenen Judentums auf vielfache Weise zu nähern versucht hat, so ist er doch zum Glauben seiner Väter nie wirklich zurückgekehrt. Denn seine Sache schien es nicht zu sein "am Sabath Wege zu bauen" (Walter Jens).
Die Auseinandersetzung mit dem Judentum hält an
Ein weiterer Beleg für die anhaltende, wenn auch immer wieder von längeren Pausen unterbrochene Beschäftigung mit der jüdischen Religion ist eine Notiz aus dem Tagebuch unter dem 6.November 1915: "In der Alt-Neu-Synagoge beim Mischna-Vortrag. Mit Dr.Jeiteles nach Hause. Großes Interesse an einzelnen Streitfragen." Dr.Jeiteles war - wie aus den Anmerkungen Brods hervorgeht, "Talmudgelehrter aus der frommen Familie Lieben in Prag".
Im Sommer 1923 wohnte der schon schwerkranke Kafka im Müritzer Ostseeband zufällig neben der Ferienkolonie des Jüdischen Volksheims und gab sich mit den "vielen Hebräisch-Sprechenden, gesunden, fröhlichen Kindern" ab, zwar "nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks".
Einmal bemerkte er in der Küche des Heims ein Mädchen. Dieses war damit beschäftigt, Fische abzuschuppen. "So zarte Hände und solch eine blutige Arbeit!", sagte er missbilligend. Das Mädchen schämte sich und ließ sich eine andere Arbeit zuweisen. Das war der Beginn seiner Bekanntschaft mit Dora Diamant, seiner Lebensgefährtin" des letzten Lebensjahres, die als junge Frau aus ihrer orthodox-chassidischen Familie von Polen nach Deutschland geflüchtet war. Ihre chassidische Erziehung und ihr natürliches, naives, hilfsbereites Wesen hatten den Dichter gleichermaßen angezogen. Sie mieteten eine Wohnung in Berlin-Steglitz. In jener Zeit soll Kafka, nach Aussagen seiner Biographen, sehr glücklich gewesen sein. Zudem wurde seine Hinwendung zum Judentum durch Dora Diamant tatkräftig unterstützt. Immerhin war sie, nach Aussage von Brod, eine vorzügliche Hebraistin. Mit ihr gemeinsam vertiefte Kafka seine jiddischen und hebräischen Sprachkenntnisse. Das belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass er mit ihr Josef Chaim Brenners Epoche machendes Werk "Sterben und Scheitern" (1920) gelesen hat.
Außerdem besuchte Kafka die Berliner "Hochschule für das Judentum" und beschäftigte sich weiter intensiv mit dem Judentum. Auch dachten beide daran, nach Palästina auszuwandern. "Ich träume davon", vertraute Kafka seinem Gesprächspartner Gustav Janouch an, "dass ich als Landarbeiter oder Handwerker nach Palästina gehe." Max Brod berichtet ebenfalls, dass Kafka mit ihm sehr oft darüber gesprochen habe, dass er nach Erez-Israel auswandern und dort als einfacher Handwerker leben wolle. Dann wieder spricht Kafka davon, ein kleines Restaurant in Tel Aviv zu führen mit Debora Diamant als Köchin und ihm selbst als Kellner - "ein perfektes Szenario für eine Chaplin-Komödie", meint sein Biograph Ernest Pawel. Doch die geplante Reise kam nie zustande, nicht zuletzt deshalb, weil Kafka seit 1917 krank war.
Je älter Kafka wurde, desto mehr hat er sich mit der Geschichte seines Volkes befasst. Das beweist die späte Legende "Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse", einer tiefsinnigen Parabel über ein Volk, das einmal zu singen verstand und noch Lieder bewahrte, die niemand mehr begriff. Hier präsentiert sich ein Motiv, das Kafka Zeit seines Lebens stets beschäftigt hat - das (von Felix Weltsch zitierte) Juden-Thema der vergessenen Überlieferung.
Brief an den Vater
Zwischen dem "Brief an den Vater", in dem Kafka über seine Prager Kindheit schreibt und sich über seine mangelnde religiöse Erziehung und jüdische Bildung beklagt ("in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen") und dem Besuch von Vorträgen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin 1924 lag nicht nur ein erster Schritt zu einem objektiven Verhältnis zum Judentum, sondern auch eine äußerst schmerzhafte Abkehr von seiner Prager Herkunft.
Im "Brief an den Vater" setzt sich Kafka ausführlich und heftig mit dem ungeliebten, jedoch respektierten und gefürchteten Patriarchen und dessen oberflächlicher Beziehung zum Judentum auseinander. Er wirft dem Vater seine mangelnde jüdische Bildung vor und schreibt in diesem Sinne auch im Oktavheft H: "Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantel noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang."
"Die einschlägige Passage im 'Brief an den Vater' markiert eine Position im Niemandsland, aus der heraus die Tradition gewiss nicht mehr fraglos die Lebens- und Denkweise prägt, aber deshalb, als problematisch gewordene, eine Bedeutung für Kafkas Schriftstellertum in seiner geschichtlichen Situation gewinnen mag, die im gegebenen Fall nicht hoch genug eingeschätzt werden kann" (Beda Allemann).
Der "Brief an den Vater" zeigt Kafka in der Attitüde eines enttäuschten Israeliten, der seinem Vater Lässigkeit im Glauben, mangelnde religiöse Erziehung seiner Kinder und gähnenden Gehorsam gegenüber den Geboten vorwirft: "Was war das für ein Judentum, das ich von Dir bekam! Du gingst an vier Tagen im Jahr in den Tempel, warst dort den Gleichgültigen zumindest näher als jenen, die es ernst nahmen, erledigst ruhig die Gebete als Formalist, setztest mich manchmal in Erstaunen, dass Du mir im Gebetbuch die Stelle zeigen konntest, die gerade rezitiert wurde, im übrigen durfte ich, wenn ich nur (das war die Hauptsache) im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich wollte."
Dieser Briefe bezeugt nicht, wie man bisweilen geglaubt hat, Kafkas religiöse Indifferenz - er gleicht im Gegenteil, dem Aufschrei eines Dürstigen, der Zeit seines Lebens nach frischem Wasser verlangte und stattdessen abgestandenes, verdorbenes zu trinken bekam. Dem Sohn erscheint das Synagogen-Zeremoniell, losgelöst von allem dinglich-sichtbaren Bezug, als verleiblichte Langeweile. Wie ein böser Türhüter verstellte der Vater, für Kafka die Verkörperung eines um jeden Preis nach Assimilation in Sitte, Praktik und Verkehr strebenden Provinz-Israeliten, "dem Sohn den Ausblick auf das Gesetz." Neuerwerbung, nicht selbstverständlicher Besitz lautet das Stichwort, unter dem man Kafkas Verhältnis zum Judentum nachforschen muss. Der Brief ist, befindet Klaus Wagenbach, "das schmerzlichste und undurchsichtigste autobiographische Dokument Kafkas", das triste Zeugnis eines, der das Fürchten, aber nicht das Lieben gelernt hat. Denn gerade in seinen frühen Jahren musste Kafka die Liebe der Nächsten entbehren, eine Liebe, die dem Kind gerecht wird, die seine Sprache spricht und es versteht, die es bedingungslos bejaht und "gehen lässt".
Kafka vermochte, sich vom Joch der väterlichen Autorität nicht zu befreien. Auch wenn er ganz klar erkennt und dem Vater vorwirft: "Du konntest z.B.auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden, und zwar nicht nur in Auswahl, sondern in jeder Hinsicht und schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist."
Der eigene Vater, der Kafkas Schicksal als Jude und Außenseiter festlegte und der göttliche Weltenvater, der das jüdische Volk zum Exil bestimmte, waren in Kafkas Augen identisch. Verlangte er doch, dass beide gerecht handelten, dass sein Leiden sinnvoll sei und seine Seele, die keine Sünde begangen hat, Gerechtigkeit empfange. Aber dieses Verlangen bleibt unerfüllt, und so rennen Kafkas Helden mit dem Kopf gegen die Wand und werden im Kampf zermalmt.
Kafkas kristallklare Darstellungen im ganzen völlig unklarer Beziehungen hat in seiner Beziehung zum Vater ihren Grund sowie die Beschreibung der Ohnmacht des Opfers vor einer rätselhaften Macht. Denn um beziehungslose Beziehungen geht es immer wieder in seinen Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten; am vielschichtigsten und verworrensten vorgeführt im "Schloss", am klarsten und unerbittlichsten in den Parabeln wie "Vor dem Gesetz" und "Eine kaiserliche Botschaft".
Nebenbei bemerkt: Kafkas unverständiger Erzeuger Hermann dürfte zu den am übelsten beleumundeten Vätern der Literaturgeschichte gehören. Als in den 70er Jahren ein allseitiger Psychologismus herrschte, hat man auch Kafkas Brief an den Vater eingehend studiert.
Kafka reagierte übrigens auf den Druck des Vaters mit einer immer engeren Bindung an Max Brod, den sein Vater einen "meschuggenen Ritoch" nannte, einen "verrückten Querkopf".
Kafka besaß ein hohes Maß an jüdischem Wissen
Kafkas Texte offenbaren, vor allem seine Tagebuchnotizen und Aphorismen, ein erstaunlich hohes Maß an jüdischem Wissen, das sich der Dichter, außer eigener Lektüre in Gesprächen mit Freunden, in der Familie und aus der Beobachtung des Prager jüdischen Lebens, insbesondere in der Synagoge, erworben, hat. Kein Zweifel, Kafka hat die jüdische Tradition gekannt, wenn auch vielleicht nur in Bruchstücken. Doch wusste er mehr vom Judentum, als seine diesbezüglichen Äußerungen glauben machen wollen.
Zumindest kannte er Bibel, Gesetz, Prediger, Wundermänner und Propheten und war in der jiddischen und hebräischen Literatur durchaus bewandert. Die Werke von Scholem Alechem, J.L. Perez und Scholem Asch waren ihm wohl vertraut.
Im Gespräch über eine Anthologie ostjüdischer Erzählungen bemerkte Kafka einmal :"Perez, Asch und alle anderen Schriftsteller des jüdischen Ostens bringen eigentlich immer nur Volkserzählungen. Das ist richtig. Das Judentum ist ja nicht nur eine Sache des Glaubens, sondern vor allem die Sache der Lebenspraxis einer durch den Glauben bestimmten Gemeinschaft". Aber ins Tagebuch schreibt er am 16.September 1915: "Bibel aufgeschlagen. Von den ungerechten Richtern. Finde also meine Meinung oder wenigstens die Meinung, die ich in mir bisher vorgefunden habe. Übrigens hat es keine Bedeutung, ich werde in solchen Dingen niemals sichtbar gelenkt, vor mir flattern nicht die Blätter der Bibel."
Kafkas Lektüre, soweit sie im Tagebuch, in Briefen und in seiner unvollständigen Bibliotheksliste dokumentiert ist, beweist sein anhaltendes Interesse an jüdischen Themen, an jiddischer Literatur, an jüdischer Religion, an religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Werken überhaupt.
Es gilt als ausgemacht, dass Kafka auch in jüdischer Tradition lebte und dachte. Dass er mit dem Talmud vertraut war, das machen etliche Tagebuchpassagen sehr deutlich.
Kafkas jüdische Seite sollte man nicht missachten
Das Werk Kafkas hat vielfältige Deutungen erfahren. Dem einen ist Kafka ein Theologe im Gewande des Schriftstellers, dem anderen der Dichter des Nihilismus und einer "Gott-ist-tot"-Theologie oder der Poet einer metaphysisch-mythologischen Tradition. Eine katholische Deutung besagt: "Kafkas Welt ist die der Vorhölle."
Die Kafka-Interpreten wissen zwar, dass Kafka Jude war, sind sich aber oft der Tragweite dieses Jude-Seins für Leben und Werk des Dichters nicht bewusst gewesen. Manche halten es für einen eher ephemeren Punkt. Dabei bezeichnet genau dieser Punkt das Zentrum der Existenz Kafkas und seines Werkes.
Nicht wenige Literaturwissenschaftler identifizieren in seinem Werk vielfach Reste der antiken Mythologie oder des christlichen Glaubens, Zitate der Weltliteratur, nicht aber Fragmente der jüdischen Gedankenwelt oder Hinweise auf jüdische Quellen, weil sie diese Quellen nicht kennen. Und warum nicht? Weil die über tausend Jahre alte jüdische Tradition in Europa die Kultur einer unterdrückten und von der Mehrheit verachteten Minderheit war und weil sie sich heute nach der Ausrottung eines großen Teils des europäischen Judentums dem Erfahrungskreis der westlichen Kultur fast völlig entzogen hat. Was man nicht kennt, erkennt man nicht. Wenn man aber die Tradition des Judentums nicht kennt, kann man die Verarbeitung dieser Tradition im Werk Kafkas auch nicht erkennen.
Lange wurde der jüdische Aspekt in Kafkas Werken vor allem deshalb vernachlässigt, weil Kafka als deutschsprachiger Autor meistens von Germanisten interpretiert wurden und seine nichtjüdischen Interpreten die Anspielungen auf jüdische Hintergründe leicht übersahen, zumal keine der Figuren in Kafkas Werken direkt als Jude auftritt.
Neuerdings werden die jüdischen Aspekte von Kafkas Leben und Werk stärker beachtet: Der Widerstreit von Westjudentum gegen Ostjudentum und jiddische Literatur, Zionismus, Vaterkomplex, Gesetzlichkeit und Verschuldung treten dabei in den Blick.
Tatsächlich entstammt vieles in Kafkas Büchern der jüdischen Tradition, die berühmte Türhüterparabel beispielsweise basiert auf der kabbalistischen Tradition, und wenn Kafka vom Gesetz spricht, dann meint er meistens die Torah. Auch seine schlichte, eindringliche, vokabelarme Sprache erinnert an die großen hebräischen Texte.
Kafka ist in vielerlei Hinsicht jüdischer als manche Leser glauben und als er selber glaubte. Kafka war ein Kind seiner Zeit, der Vertreter einer modernen, aber schwer verständlichen, einer aufgeklärten, aber unübersichtlichen Welt, hierfür gebrauchte er jüdische Vorstellungen.
Walter Benjamin, wohl der erste, der in der Prosa Kafkas das unmittelbare Echo der Thora und des Talmuds erkannte, schrieb 1939: "Ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne." Gershom Scholem wiederum deutete Kafkas Werk als "Theologia negativa eines Judentums", dem "die Offenbarung als ein Positivum abhanden gekommen ist." In den Schriften Kafkas seien zwar die mystischen Antriebe gleichsam auf den Nullpunkt angelangt, der Schlüssel zur mystischen Exegese sei verloren gegangen, aber der unendliche Antrieb, ihn zu suchen, sei geblieben, und somit gehöre letzten Endes auch die Kafkasche Welt in die Genalogie der jüdischen Mystik hinein.
Karl Erich Grözinger hat in den Schriften Kafkas Beziehungen zum kabbalistischen Denken ebenfalls ausfindig gemacht. Allerdings habe Kafka, meint Grözinger, die jüdisch-kabbalistische Weltsicht nicht einfach nachgezeichnet, sondern kreativ mit neuen, modernen Gedanken verbunden,
Ein Nichtwahrnehmen von Kafkas jüdischen Wurzeln läuft folglich Gefahr, sein Werk misszuverstehen. Aber mit dem Nachweis jüdischer Traditionen und Denkstrukturen bei Kafka sollte man auch nicht ins andere Extrem fallen und ihn ausschließlich dieser Tradition zuordnen.
War Kafka ein Zionist? Wie nah stand er dem Zionismus?
Darüber streiten sich die Geister. So einig Hans-Joachim Schoeps und Max Brod auch in der Auffassung waren, dass Kafka in die Reihe der großen homini religiosi gehöre, so uneinig waren sich beide im Hinblick auf Kafkas Verhältnis zum Judentum und zum Zionismus. Schoeps fand es absurd, Kafka für den Zionismus zu reklamieren. Es gebe dafür keinerlei Belege, nicht einmal Andeutungen, die für eine solche Interpretation in Anspruch genommen werden könnten. Brod, der anderer Meinung war, würde in diesem Fall, behauptete Schoeps, Wunschvorstellungen erliegen und seinen eigenen Projektionen aufsitzen.
Auch die Begegnung mit dem jiddischen Thater hatte bei Kafka keineswegs die Geburt des Zionisten Kafkas bewirkt - wohl aber die des Schriftstellers Kafkas.
Kafka selbst - Hugo Bergmann, der um 1903 sein bester Freund war, dürfte ihn als erster mit der zionistischen Idee in Kontakt gebracht haben - sah , laut Tagebuch, im Zionismus sogar ein Hindernis seiner literarischen Arbeit. Einige Aspekte im Zionismus stießen ihn förmlich ab. Auch die jüdische Welt selbst blieb ihm letztlich gefühlsmäßig fremd. Wahrscheinlich sehnte er sich nicht so sehr nach Zion als nach der jüdischen Sprache, sei es Jiddisch oder Hebräisch. Doch was ihn mit dem Zionismus verband, das war der Ausgangspunkt der Selbstkritik, die pessimistische Deutung des jüdischen Assimilationsschicksals, das Missverständnis der jüdischen Urbanisierung als Entfremdungsprozess. Kafka sah das Judentum "begraben unter dem Lärm der Stadt, des Geschäftslebens, des Wustes aller in den vielen Jahren eindringender Gespräche und Gedanken."
Kafkas Lehrmeister waren indes die Bibel, Goethe, Achim von Arnim, Clemens von Brentano, Kleist, Flaubert und Kierkegaard. Die großen zionistischen Denker - Pinsker, Achad Haam, Herzl, waren ihm entweder nicht bekannt oder dünkten ihm nicht erheblich.
Die Rede "über die jiddische Sprache", die Kafka am 28.Januar 1912 im jüdischen Rathaus in Prag gehalten hatte, zeigt freilich auch, dass Kafkas Begriff von der ostjüdischen Kultur quer zu den Forderungen des Zionismus stand, sah er doch in der jiddischen Sprache nicht die Qualität einer nationalen, gemeinschaftsstiftenden Institution, sondern gerade die Subversion von grammatischer, politischer und sozialer Ordnung.
Dem Zionismus hat Kafka nur das Etikett "Eingang zu etwas Wichtigerem" zugebilligt, während das Arsenal des Chassidismus für den Parabeldichter ein Glaubensschatz war, der ihn, den Wesensverwandten, mehr und mehr faszinierte.
Zum Zionismus, dem neuen Orientierungspunkt für viele seiner Generation wie für seine Freunde Max Brod, Felix Weltsch und Hugo Bergmann, der schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Palästina auswanderte, hatte Kafka mithin ein eher zwiespältiges Verhältnis. Nur in einer Hinsicht nahm er lebhaft am Zionismus teil. Interessiert beobachtete er die kolonisatorischen Bemühungen und die Struktur der neuen Siedlungen in Palästina und viele ähnliche jüdische Aktivitäten in Prag und Berlin.
Im September 1916 hatte Kafka von Prag aus seine in Berlin wohnende Verlobte Felice Bauer sogar zu überreden versucht, sich als Helferin im dortigen, erst vor kurzem gegründeten Jüdischen Volksheim zu betätigen, bei dem Gustav Landauer und Martin Buber Pate gestanden haben. Hier sollten ostjüdische Flüchtlingskinder durch die Obhut von Berliner Juden (meist Studenten) der Verwahrlosung entrissen werden. Umgekehrt sollten die Helfer durch die Schützlinge mit ursprünglicher jüdischer Kultur infiltriert werden, die ihnen, den "dekadenten" Westjuden, abhanden gekommen war. Kafka beschwor gegenüber seiner Verlobten gerade letzteres und betonte, dass die Helfer viel mehr die Nehmenden als die Gebenden seien.
Als sich während des Ersten Weltkrieges ostjüdische Flüchtlinge aus dem zaristischen Russland in mitteleuropäischen Städten wie Berlin, Wien und Prag sammelten, wurde für Kafka das Ostjudentum erneut zum Thema. In dieser Zeit versuchte er, Milena arme jüdische Auswanderer nahezubringen.
Selbsthass
Zwischendurch haderte Kafka auch immer wieder mit seinem Judentum: "Was habe ich mit Juden gemeinsam?", heißt es in einer Tagebuchaufzeichnung von 1914. "Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit, dass ich atmen kann, in einen Winkel stellen."
Zwischen seiner Selbstentfremdung und seinem Judentum sah Kafka einen ursächlichen Zusammenhang. Wie sehr er mitunter an seinem Judentum litt und welche Gefühle und Gedanken der jüdische Selbsthass auszulösen imstande war, lässt ein ungeheuerlicher und ebendeshalb höchst aufschlussreicher Satz erkennen, der gleichfalls in einem Brief an Milena steht:"..Eher könnte ich Dir den Vorwurf machen, dass Du von den Juden, die Du kennst (mich eingeschossen) - es gibt andere! - eine viel zu gute Meinung hast, manchmal möchte ich sie als Juden (mich eingeschlossen) alle etwa in die Schublade des Wäschekastens dort stopfen, dann warten, dann die Schublade ein wenig herausziehn, um nachzusehen, ob sie schon alle erstickt sind, wenn nicht, die Lade wieder zuschieben und es so fortsetzen bis zum Ende."
Wer den "Prozess" und das "Schloss" vor dem Hintergrund solcher Äußerungen liest, erspart sich, laut Marcel Reich-Ranicki, manche Irrwege und Sackgassen, die von Kafka-Interpreten häufig begangen werden. Denn in diesen Erzählungen wird augenscheinlich, was Kafka an "der schrecklichen inneren Lage dieser Generation" leidend, vor allem zeigen wollte: exemplarische Situationen, Konflikte und Komplexe von Juden innerhalb der nichtjüdischen Welt.
Walter Jens sieht zudem in dem Bild von Juden in der Schublade sogar eine "Auschwitz-Phantasmagorie zur Zeit der Entstehung des "Schlosses" und den Albtraum eines Juden, dem die Liberalität des Assimilierten nichts, der orthodoxe Zionismus mehr (etwas mehr), die ostjüdische Frömmigkeit mit ihrem Reichtum an Visionen, Entzückungen, den wilden Usurpationen der Welt und den ekstatischen Aneignungen Gottes sehr viel bedeuten.
Selbst den Antisemitismus hat Kafka in einem Brief an Max Brod von Anfang Mai 1920 aus Meran ganz im Sinne von Judenfeinden gedeutet, wenn er schreibt: "...vielleicht verderben die Juden Deutschlands Zukunft nicht, aber Deutschlands Gegenwart kann man sich durch sie verdorben denken. Sie haben seit jeher Deutschland Dinge aufgedrängt, zu denen es vielleicht langsam und auf seine Art gekommen wäre, denen gegenüber es sich aber in Opposition gestellt hat, weil sie von Fremden kamen. Eine schrecklich unfruchtbare Beschäftigung des Antisemitismus und was damit zusammenhängt, und den verdankt Deutschland den Juden." Und an anderer Stelle befand er geradezu masochistisch: "Um uns wächst der Antisemitismus, aber das ist gut."
Kafka hat, nebenbei bemerkt, auch gesagt, Deutsche und Juden hätten vieles gemeinsam. Sie seien die tüchtigsten Menschen auf Erden und überall gleich unbeliebt. "Tüchtig, fleißig und gründlich verhasst bei den anderen. Juden und Deutsche sind Ausgestoßene."
Einzelgänger
Kafka war Jude und jüdischer Schriftsteller auf seine besondere Weise und keiner Gruppe einzuordnen; ein "zügelloser Individualist", wie er einmal schrieb, und Milena Jesenk meinte: "Er war ein Einzelgänger, ein wissender, von der Welt erschreckter Mensch. . Er sah die Welt erfüllt von unsichtbaren Dämonen, die den schutzlosen Menschen überfallen und zerstören... Alle seine Werke beschreiben diesen Schrecken mysteriöser Missverständnisse und schuldloser Schuld bei den Menschenwesen."
Weder dem Ostjuden noch dem Agnostiker, weder dem Glaubenslosen noch dem Gläubigen - nur dem Unentschiedenen, dem Westjuden also, der die alten Gebräuche mitmacht, ohne sich noch etwas dabei zu denken, den plaudernden Synagogen-Besuchern und Passah-Flaneuren galt seine Invektive. Trotz seines Judentums, das ihn prägte, blieb Kafka unter seinen Glaubensgenossen - sieht man von den letzten Jahren ab - ein ahashverischer outcast, ein Außenseiter, wenn auch ein interessierter Außenseiter.
Kafka repräsentierte den Typus, den die Juden in ihrer eigenen und in der Weltgeschichte häufig vertreten haben, nämlich den des Propheten.
Kafkas Romane und Erzählungen
Wenden wir uns nun Kafkas Werken zu, seinen Erzählungen und Romanen. Ihre Sprache ist einfach, unverziert, klar, etwas kalt, bilderarm und gleichwohl von höchster Anschaulichkeit und Eindringlichkeit. Sie bewegen sich in einer seltsamen Spannung zwischen phantastischer Erfindung und konkreter, kühler Beschreibung, zwischen einer klaren, wörtlich-realistischen, sozusagen kleistischer Sprache, in der erzählt wird, und dem seltsamen, phantastischen, irrealen Erzählten. Darin liegt eine große Herausforderung für Interpreten und einer der Gründe, warum Kafka der wohl am meisten interpretierte Autor der Weltliteratur ist.
Kafka liebte keine gedanklichen Formulierungen, am wenigsten theologische, er dachte bildhaft und gestaltete dementsprechend. Seine plastische Darstellungskraft zeigt sich eben darin, dass er einer anderen, traumhaften und ungegenständlichen Welt drohende Realität zu geben vermochte. Er war weder ein philosophischer noch ein theologischer Denker, sondern ein Dichter, der Künder der in dieser Zeitenwende ins Unheils verkehrten Heilsgeschichte. Wurzellosigkeit und Entfremdung des Individiums, Einsamkeit und Isolation als Folge einer konkreten gesellschaftlichen Realität dominieren in seiner Prosa.
Offenbar hat er ein doppeltes Leben gelebt, im alltäglichen Leben ist er ein überzeugter Jude gewesen, der dem Amschel in ihm entsprechend lebte. Dagegen hat er in seinen Werken die Welt seiner Vorfahren total unterdrückt. In einer Zeit, als Dichter wie Jakob Wassermann, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und andere, die weit weniger bewusste Juden waren, sogenannte "jüdische" Bücher schrieben (Wassermann, "Die Juden von Zirndorf", Schnitzler, "Der Weg ins Freie", Zweig "Jeremias") bleibt Kafkas Werk beinahe frei von jüdischen Gestalten und offenen jüdischen Bezügen.
In seinen Romanen und Erzählungen kommt zwar das Wort 'Jude' überhaupt nicht vor. Dennoch ist von nichts anderem die Rede. Immer wieder wird das Leiden der Juden dargestellt.
K.'s Fremdheitsgefühl im "Schloss" ist beispielsweise, laut Max Brod, "das besondere Gefühl des Juden, der sich in einer fremden Umgebung einwurzeln möchte, der aus allen Kräften seiner Seele danach strebt, den Fremden sich anzunähern, gänzlich ihresgleichen zu werden - und dem diese Verschmelzung doch nicht gelingt." Er bleibt ein Fremder, der gerade noch geduldet wird. Der Vorwurf der Wirtin: "Sie kommen hierher, kritisieren alles und wollen es besser wissen als wir, die wir hier schon lange Jahre die Verhältnisse kennen. Sie maßen sich an mehr zu wissen und mehr zu sein", ist gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Wirtsvölker gegenüber Juden.
Für Imre Kertész ist "das Schloss" ein genauer Befund des osteuropäischen Lebens, das Bild einer Welt der Knechtschaft, die auf allgemeiner Übereinkunft basiert. Im "Prozess" wacht jemand frühmorgens auf und findet sich angeklagt und verhaftet und weiß nicht, warum. Auch das ist die Situation von Juden schlechthin.
Im "Bericht für eine Akademie" geht es um einen im Urwald eingefangenen Affen. Dieser erwirbt die Eigenschaften des Menschen und wird so zu einem Mitglied der menschlichen Gesellschaft, bleibt aber Außenseiter. Die Geschichte verdeutlicht mit ihrer Analogie zum Bild des Ostjuden den von Buber und anderen Westjuden verdrängten Konflikt, der, nach Meinung von Kafka, immer dann entsteht, wenn Juden in einer als fremd betrachteten Sprache, nämlich in Deutsch, authentisch über jüdische Belange schreiben.
In seiner Erzählung "Vor dem Gesetz" verkehrt sich die Glaubensgewissheit in ihr Gegenteil: die Türen zum Gesetz sind verschlossen, Lebensregeln sind unbekannt. Schmutz und Sünde überall, kein Gott weit und breit. Die Menschen verharren in Finsternis und Unwissenheit. Kafkas Erzählungen haben oft verschiedene Mythen zum Thema wie "Poseidon". Die Erzählung "Hochzeitsvorbereitungen" wiederum ist ein Zeugnis von der Urkraft messianischer Erwartung. Durch eine Neudeutung rückt Kafka in "Das Stadtwappen" die biblische Erzählung von der Sprachverwirrung in eine problematische Perspektive. Auch diese Sprachauffassung wurzelt in der jüdischen Tradition, vor allem in der rabbinischen und in der mystischen. Doch steht Kafka nicht mehr in der Glaubensgewissheit der Mystiker, sondern am "Nullpunkt", wie Scholem sagt.
Kafka hat die jüdischen Probleme besonders stark empfunden. Immerhin gehörte er in doppelter Hinsicht einer Minderheit an: der deutschsprachigen Minderheit in Prag und innerhalb der deutschsprachigen Minderheit der jüdischen Minderheit.
Ähnlich äußerte sich Marcel Reich-Ranicki in seinem Büchlein "Ruhestörer": "Die durch die jüdische Herkunft bedingte Außenseiterposition und Abwehrhaltung trieben Kafka in Einsamkeit und Trauer. Erst als sich die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft weitgehend verändert hatte, Jahrzehnte nach Kafkas Tod, vermochte man zu erkennen, dass er mit seinen Werken der Epoche vorausgeeilt war. Die in einer spezifischen Prager Konstellation erzählten und zunächst nur auf diese Konstellation zu beziehenden Geschichten vom Schicksal der Ausgestoßenen und Angeklagten erwiesen sich als klassische Parabeln von der Heimatlosigkeit und Entfremdung." Mit anderen Worten: Die von Kafka dargestellte Tragödie der Juden wurde von späteren Lesern als Extrembeispiel der menschlichen Existenz verstanden. Kafka wurde eine zentrale und repräsentative Figur der deutschen und der europäischen Literatur, weil er ein Außenseiter war.
Kafka zeigt die Situation des Juden in der nichtjüdischen Gesellschaft von Prag, und das hat außer den Prager Juden zunächst niemand sonderlich interessiert. Dreißig Jahre später jedoch wurde sein Werk zum Welterfolg, weil sich herausstellte, dass es etwas verdeutlichte, was der Schriftsteller vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte: die Situation des Menschen in der modernen Welt.
Die jüdische Situation war oft die eines Menschen, der unschuldig verurteilt wird, der ohne Grund verfolgt wird und ohne ordentlichen Prozess schuldig gesprochen wird, aber dies ist zugleich auch ein extremer Ausdruck der allgemein menschlichen Situation, wie der moderne Mensch sie häufig erfährt.
"Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird" (Scholem). Das Negative seiner Zeit hat er aufgenommen. "Es ist uns auferlegt", meinte Franz Kafka, "das Negative zu vollbringen, das Positive ist schon gegeben."Kafka versuchte, das Nicht-Mitteilbare mitzuteilen, wobei er die Sprache durchaus bewusst einsetzte. Bei ihm ist das Göttliche in der Welt nicht zu erkennen. Die einzelnen Stufen der Hierarchie des Gerichts in seinem Roman "Der Prozess", die Säle in der Erzählung "Vor dem Gesetz", die Höfe in "Eine kaiserliche Botschaft" bezeichnen nur die Abwesenheit Gottes, die riesige Entfernung, den endlosen Weg.
"Das Gesetz" oder "Das Gericht" sind vergebliche Versuche der menschlichen Intelligenz, der Verzweiflung wenn nicht Herr zu werden, so doch ihr einen Sinn abzutasten. Kafka hat das Nichts gefunden als Bedingung und Voraussetzung des Lebens und die Verzweiflung darüber als einzigen Grund menschlicher Größe. Franz Blei nennt Kafka einen "Gottesknecht eines ungeglaubten Gottes".
Wir sind, sagte Kafka, Brod zufolge, in einem Gespräch im Februar 1920, "nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen." - Wir sind nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag. Brod fragte: "So gäbe es außerhalb unserer Welt Hoffnung?" Kafka lächelte: "Viel Hoffnung - für Gott - unendlich viel Hoffnung -, nur nicht für uns."
Auf Kafkas Bemerkung: "Wir sind nihilistische Gedanken, die Gott in den Sinn gekommen sind", erläuterte Brod seinem Freund die gnostische Vorstellung, dass der Demiurg diese Welt sündig und böse gemacht habe. "Nein", erwiderte Kafka, "ich glaube nicht, dass wir solch ein radikaler Abfall von Gott sind, nur eine von seinen schlimmen Launen. Er hatte einen schlechten Tag."
Im Kerngedanken des Judentums, in der messianischen Erwartung, ist Kafka ohne Einschränkung gläubiger Jude. Er sieht die Welt unerlöst und keinerlei Möglichkeit zur Erlösung, bis der Messias kommen wird. Den Glauben an den Messias hat er auf seine individuelle Weise modifiziert. Die Welt befindet sich für ihn in weit größerer Finsternis als für die Rabbiner. Die Texte Kafkas vermitteln eine Ahnung davon, dass die Ankunft des Messianischen unvorstellbar oder nicht wahrnehmbar geworden ist. Kafkas Texte machen klar, dass wir keinen sicheren Boden unter den Füßen haben, dass wir uns auf nichts verlassen können, dass wir mit dem Einbruch des Dunklen, des Unheimlichen rechnen müssen, dass es Augenblicke gibt, in denen wir Objekt werden, in denen wir unsere Verantwortung nicht wahrnehmen können.
"Die Darstellung seiner gottverlassenen, ins Nichts gesunkenen Welt in ihrer ganzen qualvollen und düsteren Wahrheit ist in ihrem Grunde nichts anderes als die Darstellung seiner messianischen Sehnsucht", behauptet Margarete Susman und schreibt Kafka 1921: "Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein."
Dem materialistisch-messianischen Geschichtsverständnis konträr ist das Vergessen. Wenn in Kafkas "Der Prozess", so führt Benjamin aus, andere Romanfiguren K.etwas mitteilen, dann zumeist so, als ob es sich um Neues handle, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Aufforderung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. Und Benjamin zitiert die Interpretation von Willy Haas, die besagt, dass der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held .. das Vergessen sei. Das Vergessen nun wiederum steht in einer Beziehung zur Hoffnung und zur Erlösung, wenngleich in einer spiegelverkehrten.
Benjamin fragt, wie man sich im Sinne Kafkas die Projektion des Jüngsten Gerichts in den Weltlauf wohl zu denken habe. "Macht diese Projektion aus dem Richter den Angeklagten? Aus dem Verfahren die Strafe? Ist es der Hebung oder dem Verscharren des Gesetzes gewidmet? Auf diese Frage hat Kafka, so meine ich, keine Antworten gehabt." Kafka versucht, auf der Kehrseite des Nichts die Erlösung zu ertasten. Jede Art von Überwindung dieses Nichts wäre ihm, wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ein Gräuel gewesen.
Umkehr und Studium sind nach Benjamin Kafkas messianische Kategorien. Der zentrale Punkt im Werk Kafkas ist die Erfahrung des notwendigen Scheiterns. Der Begriff der Gesetze hat bei Kafka einen scheinhaften Charakter und ist eigentlich eine Attrappe.
Am 14.April 1938 schreibt Benjamin, der in Kafka einen Gescheiterten sah und sich von ihm inspirieren ließ, er habe sich die Kafkasche Formulierung des kategorischen Imperativs zu eigen gemacht: "Handle so, dass die Engel zu tun bekommen." Bei Kafka findet man die Worte, die eigens für Benjamins bitteres Lebensende geschrieben sein könnten: "Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten." ("Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande".)
Kafka wusste um die Verlorenheit des Menschen und bestritt, dass es für den Menschen noch Hoffnung gibt. Kafkas Protagonisten, denen in einer grausamen und undurchschaubaren Umwelt keine Handlungsfreiheit gelassen ist, leiden unter ihrer existentiellen Schuld, ohne deren Ursache klar zu erfassen: "Die Schuld ist immer zweifellos." In der kristallklaren Sprache Kafkas enthüllt sich das labyrinthische Umherirren einer vergebens den Sinn und das Ziel ihres Daseins suchenden Menschheit.
Schloss und Prozess sind zwei Ausdrucksformen desselben Seins, die der Theologe "Gnade" und Gericht" zu nennen gewohnt ist. Der K.des Schlosses ringt um die Verbindung mit der Gnade der Gottheit. Dieses Ringen füllt sein ganzes Leben aus. Das "Gericht" macht dem Menschen den Prozess, das Schloss bringt die ewige Unruhe in sein Dasein. Der Mensch schreit in die Welt hinein um Hilfe. Aber es gibt keinen Widerhall, im Ernstfall keine Sicherheit und kein Geborgensein im Glauben, sondern nur einen alle Positionen erschütternden Zweifel. Dieser Zweifel geht nicht gegen die Existenz der himmlischen Ordnung selber, sondern gegen deren Zusammenhang mit dem irdischen Dasein. "Sinn ist da - nur nicht für uns", sagt Kafka.
Sein beiden großen Nachlassromane "Der Prozess" und "Das Schloss" sind Fragmente geblieben, weil sie in sich, ihrer inneren Gestalt nach, unvollendbar sind. In beiden Romanen ist das Gegenüber, von dem her das menschliche Leben zu richten und zu rechtfertigen wäre, durch die Lücke im Text, in der Unabschließbarkeit entschwunden.
Das Konzentrationslager ahnte Kafka in seiner skurril-dämonischen Novelle "in der Strafkolonie" voraus. George Steiner schreibt: "...die wichtigste Tatsache über Kafka ist, dass er von einer angstvollen Vorahnung besessen war, dass er ins kleinste Detail den sich zusammenbrauenden Schrecken sah. 'Der Prozess' stellt ein klassisches Modell eines Terrorstaates dar. Er präfiguriert den hinterhältigen Sadismus, die durch den Totalitarismus ins Privat- und Sexualleben eingeschlichene Hysterie, die geschichtslose Langeweile der Killer. Seit Kafka ist das nächtliche An-die Tür-Klopfen unzählige Male geschehen, und der Name jener, die wie ein Hund fortgeschleppt wurden, ist Legion. Kafka sagte die aktuellen Formen des Debakels des Humanismus westlicher Prägung voraus, das Nietzsche und Kierkegaard als eine unbestimmte Dunkelheit am Horizont erblickt haben."
Durch den Holocaust haben Kafkas Geschichten eine reale Bedeutung bekommen, die Geschichte hat ihren "Surrealismus" in "Naturalismus" verwandelt. Es ist beinahe so, als ob die Lücken in seinen Texten, die Brüche durch diese monströse Erfahrung gefüllt worden seien. Heute erkennen viele Kafkas Werke als prophetische Vorwegnahme geschichtlicher Ereignisse. Den Prozess oder in Kafkas Schreibweise "Proceß", geschrieben 1914, las man, vor allem unter Hitler und Stalin, als politische Parabel über Willkür und Terror. Die Opfer des Terrors lasen ihn als Trost. Die Täter hassten ihn.
Heute wissen wir, dass Kafka nicht nur die jüdische Situation zum Ausdruck gebracht, die oft die eines Menschen war, der unschuldig verurteilt, ohne Grund verfolgt und ohne ordentlichen Prozess schuldig gesprochen wurde, sondern zugleich auch ein extremer Ausdruck der allgemein menschlichen Situation, wie der Mensch sie heute häufig erfährt, der aus der Bahn geworfen wird, der merkt, dass er keinen sicheren Boden unter den Füßen hat, dass wir alle uns im Grunde auf nichts verlassen können und stets mit dem Einbruch des Dunklen und Unheimlichen rechnen müssen, dass es Augenblicke gibt, in denen wir Objekte werden und unsere Verantwortung nicht wahrnehmen können. Aber erst durch den Holocaust haben Kafkas Geschichten eine reale Bedeutung bekommen. Heute erkennen viele Kafkas Werke als prophetische Vorwegnahme geschichtlicher Ereignisse. Und so ist es wohl kein Wunder, dass Kafkas Werk erst dreißig Jahre nach seinem Tod - er starb am 3.6.1924 in Kierling bei Wien, - zum Welterfolg wurde, weil sich herausgestellt hat, dass Kafka nicht nur die Identitätskonflikte des aufgeklärten assimilierten Juden zur Sprache gebracht hat, sondern auch Krise und Orientierungslosigkeit des modernen Menschen.
Kafkas Tagebücher und Briefe
Kafkas Beziehung zum Judentum wird vor allem aus seinen Briefen und Tagebüchern deutlich. Seit 1910, dem Beginn der Tagebucheintragungen, wird ein mit Unterbrechungen andauerndes Interesse Kafkas an jüdischen und religionsphilosophischen Problemen im Tagebuch dokumentiert. In einem 1921 geschriebenen Brief an Max Brod spricht Franz Kafka von "dem Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum" und von "der schrecklichen inneren Lage dieser Generation" und meint: "Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration." Kafka beschreibt damit ein Übergangsstadium zwischen Tradition und Assimilation, in welchem die überlieferten Werte radikal in Frage gestellt wurden. Verschärft wurde die Identitätskrise durch den wachsenden Antisemitismus. Es mangelt nicht an Briefstellen, die Kafkas Distanz zum Judentum und zugleich seine intensive Beschäftigung damit gerade aus dieser Distanz belegen. "Ich bin Erinnerung, die lebendig geworden ist", schrieb Kafka in den Tagebüchern. Seine Tagebücher und sein Briefwechsel sind umfangreicher als sein Erzählwerk. In ihnen und in seinen Aphorismen ist sein profundes Wissen nachzulesen.
In seinen Tagebüchern und Briefen, in denen er den Versuch einer jüdischen Selbstbestimmung unternommen hat, zeigt Kafka eine beinahe perverse Neugier für das verblüffende Geheimnis des orthodoxen Judentums.
In den Tagebüchern und Briefen erscheint von 1912 an immer wieder das Wort "Angst": Angst vor dem Einbruch der Außenwelt in die eigene Wirklichkeit, Angst, auch diese innere Freiheit durch Schuld zu zerstören und Reue gegenüber einem nicht gelebten Leben. Angst vor dem Nichts, hierin ist Kafka Kierkegaard sehr ähnlich. Unter Lüge versteht er den Ausdruck der Angst, dass man von Wahrheit erdrückt werden könnte. "Es ist die Projektion der eigenen Kleinheit, der Sünde, vor der man sich fürchtet."
Kafka litt, bekennt er in einem Brief an Milena, an der "Ängstlichkeit des Juden".
Kafka und die Moderne
Kafka hat, wie viele andere jüdische Denker und Schriftsteller auch, sein Judentum mit dem Denken der Moderne verbunden und so eine neue Gestalt eines Judentums, seines Judentums, geschaffen. Aber Kafka stellte seine Werke auch ganz bewusst in die Welt der deutschen Avantgarde und funktionierte seine westjüdische Herkunft zu einer Metapher für seine literarische Existenz um. Mehr noch, Kafkas westjüdische Selbstbestimmung, 'nichts' als Literatur zu sein, wurde zu einer Formel der ästhetischen Moderne überhaupt. Als der subtilste und ausweichendste Autor bleibt Kafka der strengste und störendste unter den verspäteten Weisen. "Was ist der Talmud sonst als eine Nachricht aus der Ferne?" schrieb Kafka am 19.Dezember 1923 an Robert Klopstock. Für ihn war die ganze jüdische Tradition nichts anderes als eine Botschaft aus endlos weiter Ferne. Das ist gewiss auch ein Teilmoment in der berühmten Fabel "Eine kaiserliche Botschaft". Er war Kosmopolit, sein Werk ist ein Teil der Weltliteratur. Sein großer Einfluss auf die hebräische Literatur vereinte ihn jedoch wieder mit seiner Herkunft, die ihn bewegte und die er liebte und mit der er einen kontinuierlichen intensiven Dialog führte, der erst mit seinem Tode endete.
"So ging er vom Jüdischen aus", stellt Brod fest, "aber seine Liebe umfasste dabei die ganze Menschheit, das Universale, den verborgenen Gott (deus absconditus) wie auch den , der sich im Geschehen offenbart."
Der nichtjüdische Leser kann sich im Juden Kafka und seinen Gestalten durchaus wieder erkennen: im Heimatlosen, im Entwurzelten, im Orientierung Suchenden. Gerade darin ist Kafkas radikal durchlebte Existenz und die seiner Figuren zum Paradigma der Moderne geworden. Kafka hat in einer Zeit der Krise aller traditionellen Werte gelebt, und diese Krise hat er in seinem Werk zum Ausdruck gebracht, von der auch oder gerade das moderne Judentum nicht verschont blieb.
Kafka in den Augen seiner Freunde und Nachfolger
Max Brod war der intimste Freund von Kafka. Er sah in ihm einen religiösen Schriftsteller und den Erneurer der altjüdischen Religiosität. Ihm verdanken wir zwar die Kenntnis des "wirklichen" Kafka. Doch anders steht es um den "Kafka-Interpreten" Max Brod. Der von Religion und Psychologie gleichermaßen faszinierte Zionist versuchte, Kafka gleichsam nach dem eigenen Ebenbild zu deuten und hatte für die hoch differenzierten Texte Kafkas nur ein schlichtes Erklärungsmuster parat, wobei er nicht müde wurde, auf Kafkas zunehmendes Interesse am Judentum hinzuweisen. Allerdings ist seine apologetische Vereinfachung und Betonung des "Positiven" an Kafka sehr umstritten.
Walter Benjamin hat sich seit 1925 ebenfalls sein Leben lang mit Kafka beschäftigt. Er hat mit Brecht über ihn diskutiert und mit Gershom Scholem, Werner Kraft und Theodor W.Adorno über ihn korrespondiert. 1934, anlässlich der zehnten Wiederkehr von Kafkas Todestag, schreibt er einen Essay über ihn. Wahrscheinlich fühlte sich Benjamin mit Kafka geistesverwandt und sein eigenes Verständnis der Epoche und ihrer Lebensbedingungen durch ihn bestätigt und ergänzt.
Kurt Tucholsky war geradezu begeistert von Franz Kafka und schrieb: "Er ist ein Großsohn von Kleist - aber doch selbständig. Er schreibt die klarste und schönste Prosa, die zur Zeit in deutscher Sprache geschaffen wird."
Jean-Paul Sartre rühmte den Grad von Realismus und Wahrhaftigkeit in der Mythologie Kafkas, dergleichen habe es noch nie gegeben, meinte er. "Kafkas Werk ist eine freie und einheitliche Reaktion auf die jüdisch-christliche Welt Mitteleuropas; seine Romane sind die synthetische Überwindung seiner Situation als Mensch, als Jude, als Tscheche, als widerspenstiger Bräutigam, als Schwindsüchtiger usw."
Obwohl es in Prag zu Kafkas Zeit hieß: "Und es brodelt und werfelt und kafkaet und kischt", hat es lange gedauert, ehe man sich in Prag für Kafka allgemein interessierte. Im Herbst 1931 antwortete in einer seiner gut besuchten Vorlesungen der Germanist an der Deutschen Universität Herbert Cysarz auf die Frage aus dem Publikum "Und Kafka?" mit der Geste eines literarischen Augurs von Unfehlbarkeit: "Ein jüdischer Klassiker."
Der 1903 in München geborene und später in Jerusalem lebende Dichter Manfred Sturmann hielt 1934 eine Gedenkrede auf Kafka, von der unter dem Titel "Der Jude Franz Kafka" Auszüge publiziert wurden. Darin sagte Sturmann: "Kafka war Jude nicht nur seiner Abstammung nach, er war es mit der ganzen Intensität seines lauteren Geistes. ... Das Werk Kafkas ist so sehr jüdisch, dass es kaum ein Problem in ihm gibt, das nicht jüdisch wäre. Der unvorstellbare und undarstellbare Gott in den Dichtungen Kafkas ist der Gott Abrahams, Jakobs und Hiobs. Die Prüfung Abrahams, das Ringen Jakobs und die Versuchung Hiobs - sie finden ihre Variationen ungezählt oft in dem, was Kafka niederschrieb. Aber in einem noch viel aktuelleren Sinne sind diese Dichtungen jüdisch. Kafkas geistige Struktur ist jüdisch. Die tragische Besessenheit des Dichters, seine Einsamkeit, der Welt einzuordnen, ist jüdisch. Der Kafkaesche Mensch, oder sagen wird ruhig: Franz Kafka selbst ist der Jude schlechthin."
Zahlreiche Geistesgrößen wie Max Brod, Hannah Arendt, W.H.Sokel, H.Pongs und Walter Jens haben Kafkas Werk innerhalb eines jüdischen Umfelds zu interpretieren versucht, weil Kafkas Texte in hohem Maße mehrdeutig, offen und häufig allegorisch sind.
Erste hebräische Übersetzungen von Kafkas Arbeiten erschienen bereits 1924. Die jüngere, in Israel geborene Generation von Schriftstellern hat Kafka, wenn überhaupt, in hebräischer oder englischer Übersetzung gelesen. Für die in den zwanziger Jahren in Israel geborenen Autoren ist Kafka ein Rätsel, obwohl ihn einige, wenn auch vergeblich, zu imitieren versuchten. Hanna Naveh - sie lehrt Hebräische Literatur an der Universität Tel Aviv, meint allerdings, dass "von allen bedeutenden zeitgenössischen hebräischen Autoren .. A.B.Yehoshua die engste Affinität zu Kafka zu besitzen" scheint.
In den Vorkriegsjahren wurde Kafka vor allem von Expressionisten entdeckt. Bei den Nazis war er verfemt. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. Auch die Marxisten haben ihn verdammt. Im Ostblock war er lange verboten. Das Seltsame an Kafkas Ruhm ist, dass er zunächst im Ausland gewonnen wurde. Denn im Grunde war Kafka zwischen 1930 und 1950 in Deutschland inexistent. Er war weltberühmt, aber er kam nach 1950 als fast Unbekannter in den deutschen Sprachraum zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg holten ihn zunächst die französischen Existentialisten wieder ans Tageslicht. Sahen sie doch in Kafka eine Art vorzeitiger Albert Camus.
Wagenbach schreibt: "Erst vierzig Jahre nach dem Tod des Autors konnte man sagen, sein Werk habe Leser in aller Welt.
Gleichwohl hat Friedrich Sieburg der jüngeren Generation nachgesagt, dass sie trotz aller nachahmenden Anstrengungen nichts von Kafka gelernt habe. Dennoch spiegelten sich die deutschen Leser der Nachkriegszeit in Kafkas Werk. Franz Kafka, meint Eberhard Horst, "hat in der Nachkriegsliteratur die Führung übernommen. Sein notierender Kanzleistil, der seine Effekte verbirgt oder metaphorisch introvertiert, kommt dem Lebensgefühl der damals jüngeren Generation entgegen. Bei Kafka hat sich das Drama unter der Decke bereits abgespielt, wenn der Chronist zur Feder greift. Er setzt nur sein Sigillum darauf."
Nach wie vor ist Kafka eine Ikone der Moderne. Noch immer geht von seinem schriftstellerischen Werk eine beständige und irritierende Faszination aus. Viele Autoren sind auf ihre Weise literarische Kinder Kafkas, wie das erste Heft "Literaturen" des Jahres 2003 deutlich belegt. Er ist ein Autor der Autoren: Harry Mulisch, Paul Auster, W.G.Sebald, J.M.Coetzee, Ivan Klima und Philip Roth sind beispielsweise alle bekennende und versierte Kafkianer.
Seither ist der Dichter viele Male wieder und wieder gelesen und unendlich oft neu interpretiert worden. Heute wissen wir, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, ihn richtig aufzufassen und zugleich misszuverstehen.
Bibliographie:
Franz Kafka: - Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main 1964.
ISBN 3 10 338105 0
- Das Schloss, Roman. Frankfurt am Main 1996,
ISBN 3-518-3901-65
- Amerika, Roman. Frankfurt am Main 1997,
ISBN 3-518-39154-2
- Der Prozess, Roman. Frankfurt am Main 1999,
ISBN 3-486-01470-6
- Briefe an Milena. Frankfurt am Main 1983.
ISBN 3-10-03119-X
Sekundärliteratur: - Giuliano Baioni: Kafka. Literatur und das Judentum.
Stuttgart 1994,
ISBN 3-476-01233-9
- Michael Brenner(Hrsg.): Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20.Jahrhundert. Göttingen 2002,
ISBN 3-525-20822-7
- Achim von Borries (Hrsg.):Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870-1945. Frankfurt am Main 1962
- Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt am Main 1976,
ISBN 3 436 01946 1
- Karl Erich Grözinger: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka. Berlin-Wien 2003
ISBN 3 8257-0303-7
- Karl Erich Grözinger, Stéphane Mosès, Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Kafka und das Judentum. Frankfurt am Main 1991
ISBN 3-633-54032-6
- Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981
- Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der Literatur.
München 1993,
ISBN 3-421-06491-1
- Harald Salfellner: Franz Kafka und Prag. Praha 1998,
ISBN 80-85938-34-0
- Julius Schoeps (Hrsg.): Im Streit um Kafka und das Judentum. Der Briefwechsel
zwischen Max Brod und Hans-Joachim Schoeps. Königstein/Ts.1985,
ISBN 3-7610-0380-3
- Gershom Shaked: Die Macht der Identität. Essays über Schriftsteller. Königstein/Ts.1986,
ISBN 3-7610-0388-9
- Christoph Stölzl: Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. München 1975,
ISBN 3-9214-0205-0
- Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Rowohlt Monographie. Reinbek 2002.
ISBN 3-499-50649-1
Der Beitrag erschien in verkürzter Fassung in "Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums". 43. Jahrgang, Heft 170 2.Quartal 2004.
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