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Für und wider Friedrich Nietzsche

Neue Bücher über den immer noch aktuellen Philosophen (Literaturbericht)

Leben und Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche sind offensichtlich unergründlich. Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen finden bei ihm immer wieder neue Aspekte und geistige Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Persönlichkeiten, die es wert sind, genauer erforscht und beschrieben zu werden.

GERNOT U.GABEL/CARL HELMUTH JAGENBERG(Hrsg.):Der entmündigte Philosoph. Briefe von Franziska Nietzsche an Adalbert Oehler aus den Jahren 1889-1897. 127 S., Gabel-Verlag, Hürth 1994;

Nachdem Friedrich Nietzsche im Januar 1889 in Turin einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, war er für die Welt verstummt. Zeugnis über sein weiteres Schicksal konnten daher nur jene Menschen geben, die Zutritt zu ihm hatten. Zu diesen gehörte vor allem seine Mutter Franziska. Sie hatte den Werdegang ihres Sohnes von Anfang an aufmerksam verfolgt. Zu seinen Schriften fand sie allerdings keinen Zugang. Seine zunehmende antikirchliche und antichristliche Einstellung hat sie weder gebilligt noch verstanden. Vielmehr hatte sie gehofft, ihren Sohn eines Tages als Nachfolger seines Vaters als Pfarrer auf der Kanzel zu sehen. Als Nietzsche jedoch 1869 zum außerordentlichen Professor an der Universität Basel ernannt wurde, war sie, wie es jede andere Mutter an ihrer Stelle auch gewesen wäre, stolz auf ihren Sohn.

Nach dem Ausbruch seiner Krankheit hat sie ihn in ihrem Naumburger Haus aufopferungsvoll bis zu ihrem Tode im Jahr 1897 gepflegt. Das geistige Erbe des Philosophen wurde dagegen von der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche verwaltet. Zwischen der geschäftsgewandten und selbstbewussten Tochter, die dabei ihre eigenen Interessen verfolgte, und der Mutter, der einzig das Wohlergehen ihres Sohnes am Herzen lag, kam es alsbald zu heftigen Meinungsverschiedenheiten. Als Franziska Nietzsche selbst immer älter und schwächer wurde, bestellte sie ihren Neffen Adalbert Oehler zum Vormund ihres Sohnes. Da sich der Neffe überwiegend in Magdeburg aufhielt, gingen zwischen beiden viele Briefe hin und der. Oehler hat die Briefe seiner Tante, die eine eifrige Briefschreiberin war, sorgfältig aufbewahrt. Sie sind eine aufschlussreiche Lektüre und zweifellos die unmittelbarste Quelle über die letzten dunklen Jahre des Philosophen. Denn die Korrespondenz, die jetzt in einem ansprechenden kleinen Bändchen von Gernot U.Gabel und Carl Helmuth Jagenberg herausgegeben wurde,vermittelt ein sehr persönliches, intimes Bild vom Krankenlager Nietzsches und vom Familienleben der Oehlers aus der Sicht von Franziska Nietzsche. Zugleich ist sie eine indirekte Charakterstudie jener beiden Frauen,die sich, jede auf ihre Weise, um das Vermächtnis des umnachteten Philosophen bemüht und sich darüber nahezu verfeindet haben.

JOCHEN ZWICK: Nietzsches Leben als Werk. Ein systematischer Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche. 222 S., Aisthesis Verlag, Bielefeld 1995;

Etwa gleichzeitig mit seinem geistigen Zusammenbruch wurde Nietzsche berühmt,zunächst bei nichtakademischen Intellektuellen. Nach 1900 fand er dann auch in weiteren Kreisen Beachtung. Die meisten lernten ihn durch sekundäre Quellen statt durch die eigene Lektüre seiner Schriften kennen. Das Resultat war eine ungenaue und oft auch triviale Nietzsche-Exegese, die von Schlagworten wie "der Übermensch" oder "Herren-und Herdenmoral" geprägt war. Man suchte bei Nietzsche weniger philosophische Erkenntnisse als die Verkörperung der eigenen Befindlichkeit. In etwa lebt in veränderter, rudimentärer Form das emphatische Nietzschebild der Jahrhundertwende in einem Teil der akademischen Fachliteratur heute noch fort. Daneben hat sich in der Nietzsche-Forschung ein Zweig etabliert, der sich in erster Linie mit dem Thema "ästhetische Lebensformen" auseinander setzt.

Jochen Zwick, Jahrgang 1963, derzeit Dozent an der Universität Stuttgart, wählte in seiner Dissertationsarbeit einen anderen Weg. Nietzsches ästhetische Theorie bleibt, von einem einzigen Kapitel abgesehen, eher am Rande der Betrachtung. Stattdessen verlegt der Autor seine Aufmerksamkeit auf die Ästhetisierung von Nietzsches eigenem Lebens, die mit einer Rückkehr zu archaischen und vorästhetischen Erfahrungsformen wie Ritualen, Mythologien und Entsubjektivierungspraktiken bis hin zum Austausch der Identität verbunden war. Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung ist nicht so sehr der konkrete Lebenslauf Nietzsches, sondern die Vorstellung, die sich der Philosoph von seinem Leben gemacht hat, also Nietzsches innere, imaginäre und symbolische Biographie, sozusagen die Mythologie seiner selbst. Nietzsches Bewusstsein habe sich im Laufe der Jahre, erläutert Zwick, dem Bewusstsein archaischer Kulturen angenähert, das Abstraktionen wie Schönheit, Fiktion, Ewigkeit noch nicht in Begriffe fasste, sondern als Lebensmächte erfuhr. Doch die Kultur, in der Nietzsche lebte, war nachmythisch, das heißt wissenschaftlich und kritisch. Nietzsches mythische Welt war insofern eine private und innerliche Welt. Da er aber gleichwohl für sie universale Gültigkeit beanspruchte, lebte er im ständigen Konflikt mit seiner Umwelt.

Zwick untersucht zunächst die religiöse, soziale, psychische und ästhetische Erfahrung der Festlichkeit in ihrer Bedeutung für Nietzsches Kulturbegriff. Im antiken religiösen Fest erscheint das Heilige als Überschreitung der gewohnten Bereiche, als Aufhebung fester Ordnungen und Erhöhung der Erfahrungsmöglichkeiten des Menschen. Diese regenerierende Kraft des Dionysischen fehlt jedoch der modernen Welt,die daher,meinte Nietzsche,aus den Fugen geraten sei. Lange Zeit hoffte er, dass die Bayreuther Festspiele diese Wirkung wieder erzielen könnten, die sich auch mit Verwandlung und Erhebung des Menschen umschreiben läßt. Die Enttäuschung darüber, dass die Festspiele die Kulturstufe der Tragödienfeste nicht erneuern konnten und dass sich hier nur eine neue Kunstreligion entwickelte und keine ästhetische und politische Revolution, führte schließlich zum Bruch mit Richard Wagner.

Ein biographisches Analogon zur Idee der Festlichkeit war bei Nietzsche, so schreibt der Verfasser, der Freundschaftsbund, der ebenfalls der Erweiterung der ästhetischen Erfahrung und des philosophischen Diskurses dienen sollte. Eine andere von Nietzsche bevorzugte Lebensform war die Einsamkeit. Nicht von ungefähr hielt sich der Philosoph in seinen letzten zehn Schaffensjahren im Sommer meist in abgelegenen Gebirgsorten auf. Dabei war im 19.Jahrhundert das besondere Prestige des einsamen Lebens, einst traditionelle Lebensform von heiligen Männern, Propheten und Mönchen, längst verloren gegangen. Denn die bürgerliche Neuzeit war von der Vorstellung beherrscht, dass Kommunikation, Austausch und Bewegung Fortschritt und Aufklärung der Menschheit bedeuten. Isolation und Abgeschlossenheit waren infolgedessen verpönt. Da sich Nietzsche für die Einsamkeit entschied, schloss er sich sozusagen selbst von den Grundlagen der zeitgenössischen Ordnung aus und geriet dadurch unweigerlich in ein schiefes, exzentrisches Verhältnis zu seiner Epoche.

Was Nietzsche in der Einsamkeit suchte, war ein Zustand der Fülle und erhöhten Macht. Der Glaube an die eigene Machtfülle verstärkte sich in den achtziger Jahren und mündete am Ende in die Wahnsinnsfantasie der eigenen Gottwerdung. Als empirische Person blieb er freilich"unablässig mit den Grenzen seiner individuellen Wirksamkeit konfrontiert;erst als identitätsloser,abwesend-allgegenwärtiger Einsamer kann er seine empirische Biographie abstreifen und sein Leben exemplarische Qualität gewinnen" (S.107).

Die ästhetische Erfahrung wurde damit wohl zum Modell des Lebens, aber nur auf einer imaginären und sprachlichen Ebene,nicht in der Empirie.

Eine weitere wichtige Erfahrung in Nietzsches Leben war die Krankheit. Sie trug mit dazu bei, dass sich sein Verhältnis zu sich selbst und zur Realität veränderte und sich sein Leben immer mehr dem Biographen entzog. Stattdessen wird es nun in Rollen fassbar, die im Zentrum seiner selbst geschaffenen Mythologie stehen, die des Lehrers der ewigen Wiederkunft des Gleichen und die des Dionysos. In diesen Eigenschaften verkörperte Nietzsche, wie er selbst wiederholt betonte,"ein Schicksal". Kurz vor dem Ausbruch seiner Krankheit unterschrieb er seine Briefe mit "Dionysos" oder "Der Gekreuzigte". Am Ende erlebte er, wie Zwick anmerkt, seine eigene Epiphanie als Gott und erreichte in der Maske des Dionysos schließlich das,"wonach er sich seit langem sehnte: ein Leben im Modus des Ewigen, einen idealen Ruhezustand des Seins, auf den die kontinuierlich verfließende Zeit keinen Einfluss mehr hat"(S.214).

NORBERT REICHEL: Der Traum vom höheren Leben. Nietzsches Übermensch und die Conditio humana europäischer Intellektueller von 1890 bis 1945. 187 S., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994;

Obwohl der Begriff des Übermenschen erst von Nietzsche wirkungsvoll entfaltet wurde, kursierte er in Deutschland schon seit dem 16.Jahrhundert. Während Feuerbach den Begriff des Übermenschen auf das menschliche Denken und die unüberwindbare Spannung zwischen dem Menschen und einer angenommenen übermächtigen Gottheit bezog, hatte Nietzsche die Schaffung eines neuen Menschen im Sinn, der alles Verlogene, Krankhafte und Lebensfeindliche vernichten sollte. In seiner Nachfolge, insbesondere in der französischen und italienischen Literatur des ausgehenden 19.und beginnenden 20. Jahrhunderts, oszillieren die Bilder des Übermenschen dann zwischen dem Ideal der Vervollkommnung der Person und der Legitimation einer sozialen, aus der Masse herausragenden Rolle. Vielfach wird das Übermenschliche zur Triebfeder von Intellektuellen, sich selbst zu vervollkommnen oder eine neue Form menschlicher Existenz zu konstruieren.

Bei vielen dieser Intellektuellen, insbesondere bei Andre Gide, Paul Valery, Gabriele D'Annunzio, Emilio Filippo Tommaso Marinetti, Maurice Barres, Antonio Foggazzaro, Henry Montherlant und Charles Baudelaire, finde man, meint Norbert Reichel, ein Gemisch ästhetischer Ideale und quasi-religiöser Praxis. Den meisten ging es nicht so sehr um Allwissenheit, sondern um die Verwirklichung des Übermenschen. Marinetti verlangte dabei, dass Verfechter der Idee des Übermenschen sich von Nietzsches vergangenheitsorientierten Elementen lösen und der Praxis der Vorrang vor dem "im Staub der Bibliotheken geborenen Übermenschen"(S.5) einräumen sollten. Julien Benda sprach in seinem 1927 erschienenen gleichnamigen Buch in diesem Zusammenhang vom "Verrat der Intellektuellen", weil dadurch das Ideal keine feste und transzendente Grundlage mehr habe, sondern sich nun allein nach der Realität richten müsse. Denn, ob gewollt oder ungewollt, ermöglicht diese Position die Rechtfertigung aller Gewalttätigkeiten, gleichviel ob der einzelne "diese als puren Idealismus oder gar Voluntarismus, als Kollektivismus in Form von Kommunismus, Faschismus oder Katholizismus oder auch 'nur' als Ästhetizismus präsentiert" (S.6).

Krankheit, Grenzbewusstsein, soziale Bedrängnisse zählten viele zu den Charaktereigenschaften des Übermenschen. Eine todbringende Krankheit bietet zum Beispiel manchem die letzte Chance, sich selbst als etwas Besonders zu erleben. Nietzsche setzte in "Ecce Homo" seine Krankheit und die eigene Genialität in Beziehung zueinander. "Ich entdeckte", so schrieb er,"das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet.... Ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie"(S.9). Nietzsche betonte weiter, es komme auf den jeweiligen Blickwinkel an, was krank genannt werde und was genial, so dass es an jedem selbst liege, wie sehr er seine Krankheit zu seinem Glück mache. Andre Gide griff diesen Gedankengang auf. In seinem Werk L'Immoraliste" beklagt eine der darin vorkommenden Personen, die von Tuberkulose befallen ist, die Schwächen seines Körpers, die sie darin hindern,die Dinge zu tun, die ihm bisher das Gefühl der Selbstsicherheit und Beherrschung seiner Umwelt gaben: Denken und Lesen. Für Nietzsche aber wurde die Krankheit zum Mittel-und Angelpunkt der Erkenntnis,bis zur Freiheit des Geistes. Zugleich koppelte er die Genese des Typus des "Freien Geistes"mit dem "Tod Gottes"und identifizierte im Symbol"Gott"die Sehnsucht des narzisstisch bedürftiger Menschen,sich eine"ewig dauerhafte Substanz" zu denken, die das eigene Handeln bestimmt und rechtfertigt. Für den

Übermenschen bedeutet jedoch der Tod des Herrn Aufbruch zur Freiheit.

Zum höchsten Exemplar der Gattung kann sich aber auch erheben, wer alles Materielle verachtet. Valerys Diktum "Ein freier Mensch sollte nicht von der Arbeit seiner Hände leben", wirkt, laut Reichel, als Eingeständnis der Ohnmacht in einer Gesellschaft, in der allein die Arbeit mit den Händen, gesteigert in der Funktionstüchtigkeit der Maschine, über Macht und Herrschaft zu verfügen hilft.

In der technisch-kriegerischen Zivilisation entstand neben dem Traum vom Übermenschen der reale Unmensch, wobei beide lediglich, wie eine Tagebuchnotiz Gides vom 12.Januar 1941 belegt, durch einen geringen, moralisch definierten Graben getrennt sind. Zuchtwahl, Vervollkommnung der Rasse oder Art wurden zu Schlagworten in der politischen Auseinandersetzung nicht erst zwischen den beiden Weltkriegen. Nietzsche hingegen hatte im Übermenschen eine höhere, ideale Stufe auf der Entwicklungsskala des Menschen gesehen. Der Übermensch sollte kein biologisches Großwesen sein, sondern, wie im "Zarathustra"zu lesen ist, von"furchtbarer Güte". Erst eine oberflächliche Auslegung hat Nietzsches Übermenschen als biologische Höherentwicklung des Menschen gedeutet. Mussolini hegte gewisse Sympathien für Marinettis Ideen, während Gide offensichtlich von Hitler fasziniert war. Gleichwohl ist Gide vor der letzten Konsequenz zurückgeschreckt, nämlich vor dem Verzicht auf jede moralische Begründung menschlichen Sprechens und Handelns

HANS EBELING:Gut und Böse. Überquerung des Nihilismus jenseits von Nietzsche. 85 S., Königshausen & Neumann, Würzburg 1995;

Während die meisten Autoren der hier vorgestellten Bücher bemüht sind, Nietzsches Intentionen und Gedankengänge zu verstehen, und subtil die Verflechtungen zwischen seinem Leben und Werk ausloten und den Einfluss des Philosophen auf nachfolgende Generationen und Epochen differenziert beleuchten, vermag Hans Ebeling an den Theorien des vermeintlichen "Alleszermalmer" nichts Positives zu entdecken, im Gegeteil: er bürdet Nietzsche alle Schuld für spätere Entwicklungen auf. Mehr noch, Ebeling macht Nietzsche nicht nur für das eigene Denken verantwortlich, er lastet ihm darüber hinaus auch "die nationalsozialistische Pseudoreligion" und die "kommunistische Kryptoreligion" an, wobei er in seine Abrechnung gleich noch die Friedensbewegung, den Feminismus und moderne Freizeitbewegungen miteinbezieht.

Nietzsche, so schreibt Ebeling, sei gefährlicher noch als Marx. Er habe den Plebejern, obwohl er stets ihr Verächter war, zur Macht verholfen und den Unterschied von Gut und Böse liquidiert, so dass heute jeder glaubt, selbst in der Demokratie sei alles erlaubt.

Leider habe Nietzsches verqueres Menschenbild längst seine Vollendung im "gleichgemachten Menschen" gefunden, Unrecht sei zu Recht geworden durch die Anerkennung des Mittelmaßes als Richtschnur sowie durch den Verlust jedes Qualitätsmaßstabs. "Die progressive Infantilisierung der Massen, ihre Anbindung an den Staat als Glücksbringer und Verkünder des neuen Heils, macht das Unheil solange vergessen, bis eine Umkehr unmöglich geworden ist" (S.26).

Nicht nur durch Nietzsche, auch durch Denker wie Heidegger und Beckett habe sich der Nihilismus verfestigt. Nietzsche jedoch bleibt, nach Ebelings Dafürhalten,weiterhin ein Fanal für Europäer,wie Fidel Castro für Lateinamerika und Mao Tse-Tung für Asien. Nietzsche habe, klagt Ebeling weiter, dem größten Staatsterrorismus des 20.Jahrhunderts zugearbeitet und das moralische Empfindens der Empfindsamen zersetzt. Bis jetzt sei der praktizierte Nihilismus behauptungsfähig geblieben und beherrsche erfolgreich alle Lebensverhältnisse, vor allem im Schul- und Hochschulbereich. "Die faschistische und die kommunistische Diktatur haben einen Nihilismus der Geringschätzung etabliert, der im demokratischen Nihilismus fortgesetzt wird" (S. 83).

Wir müssen, schlägt Ebeling vor, Abschied nehmen von all dem, was Nietzsche, Heidegger und Beckett geschrieben haben, und zu Kant zurückkehren. Letztlich aber könne der Nihilismus nur durch den einzelnen überwunden werden, und zwar aus freier Einsicht und freien Stücken.

RUTH EWERTOWSKI: Das Außermoralische Friedrich Nietzsche-Simone Weil-Heinrich von Kleist-Franz Kafka. 283 S., Universitätsverlag C.Winter, Heidelberg 1994;

Ruth Ewertowski zieht über den Begriff des Außermoralischen Verbindungslinien zwischen Nietzsche und Weil, zwischen Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Sie setzt sich in ihrer überaus lesenswerten und anregenden Studie mit den verschiedenen Gesichtern der außermoralischen Ambivalenz sowohl in den Werken von Kleist und Kafka als auch in den Theorien von Friedrich Nietzsche und Simone Weil aus einander. Da in diesem Bericht die Aktualität und der derzeitige Rezeptionsstand Nietzsches im Vordergrund stehen,soll auf ihre Ausführungen über Kleist und Kafka hier nicht näher eingegangen werden.

Das Außermoralische meint, so erläutert Ewertowski, weder Amoralisches noch Unmoralisches. Vielmehr bezeichnet es Phänomene, die gut oder böse zugleich sind, weil ihnen Unschuld und Schuld nicht eindeutig zugeordnet werden können. In der Literatur erscheint das Außermoralische in der Tragik unschuldig schuldiger Helden.

Obwohl Nietzsche und Weil aus verschiedenen Richtungen herkommen, stimmen sie, laut Ewertowski, im Begriff des Außermoralischen überein. Beide waren sich der Untrennbarkeit von Lust und Schmerz, von Gut und Böse wohl bewusst. Nietzsche entwarf unter dem Titel "Dionysos" eine Bejahung des Widerspruchs. Amor fati lautet seine Zauberformel.

Was bei Nietzsche der Wille zur Macht ist, nennt Weil Schwerkraft. Beide, Wille zur Macht und Schwerkraft,stehen,je auf ihre Weise, für das eine, unumstößliche Gesetz allen Geschehens und bezeichnen die unwillkürliche Mechanik in allem Denken und Handeln. Dadurch wird das Selbstverständnis der moralischen Freiheit, von Nietzsche und von Weil gleicherweise,in Frage gestellt. Während Weil jedoch in den Wirkungen der Schwerkraft eine tragische Schuld ansetzt und die Annahme, dass die Religion eine Quelle des Trostes sei, als Hindernis für den wahren Glauben verwirft, negiert Nietzsche den Schuldbegriff und sagt sinngemäß:Zieht Gott die moralische Haut aus, und ihr werdet ihn bald wiedersehen, jenseits von gut und böse. Er setzt mit einem philosophierenden Gott die Fragwürdigkeit von Gut und Böse absolut.

Simone Weil wiederum formuliert den moralischen Widerspruch folgendermaßen: "Das Böse ist der Schatten des Guten." Für sie ist die Ambivalenz von Gut und Böse die Bedingung einer Transzendenz, um Gott zu begegnen und "Grund einer existentiellen Leiderfahrung im Sinne der Zerreißung im Widerspruch" (S.206). Letztlich hat die Spannung zwischen gut und böse für Weil und Nietzsche eine höhere Realität als alle widerspruchsfreien Projektionen des Verstandes und des Willens.

Das Leiden ist für Nietzsche kein Argument gegen das Leben, kein Grund zur Resignation, kein Grund zur Verteidigung irgendeines Verantwortlichen und kein Grund zur Hoffnung auf Entschädigung. An die Stelle der klassischen Theodizee und der mehr oder weniger säkularisierten Heilsprognosen tritt bei ihm die ästhetische Rechtfertigung. Weil hält die Frage, wie Gott angesichts des physischen und moralischen Übels zu rechtfertigen sei, ebenfalls für überflüssig,da sie im Leiden keinen Einwand gegen Gott sieht. Ist doch neben der Schönheit gerade das Leid der vorrangige Lebensbezug und die besondere Gelegenheit der Gotteserfahrung. Nietzsche behauptet seinerseits, wer die Negativität, den Widerspruch und den Schmerz leugnet, der dividiert das Leben und verneint eine seiner Hälften.

Nietzsche bestreitet ferner den freien Willen, um eine naturhafte Unschuld des Werdens freizulegen. Uns bleibt nichts anderes übrig, so Nietzsche, als die tragische Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen, eines ewigen Werdens ohne Finalität und Fortschritt. Eine jenseitige und angeblich wahre Welt sei nur von Theologen aus der Not heraus dazu erfunden worden. Die Notwendigkeit erkennen und sich ihr fügen, das eben machen, nach Nietzsche, Würde, Geist und Größe des Menschen aus. Erst die Leidensfähigkeit ist Kriterium der Lebensfähigkeit. Damit ist kein Lebenstraining gemeint, fügt die Verfasserin hinzu, sondern die Bereitschaft, sich dem Leben und dem Schmerz immer von neuem auszusetzen.

Nietzsche hält das Übel letztlich für indiskutabel. Er nimmt es aus dem philosophischen Diskurs der Erklärungen und Entschuldigungen heraus und macht es zu einer ästhetischen Kategorie, die sich, wie die gesamte Kunst und das Leben auch, einer Begründung verweigern. Simone Weil geht noch einen Schritt weiter und betrachtet die Härte des Leids als Kriterium der Wirklichkeit. Elend, Not, Erschöpfung, Grausamkeit, gewaltsamer Tod, Zwang, Terror, Krankheiten sind für sie Zeichen göttlicher Liebe. Weils Umwertung der Werte liegt darin, dass sie eine fast un- oder übermenschliche Selbstüberwindung des Menschen fordert, indem sie ein Recht auf Güte und Wohlergehen bestreitet und im Negativen eine Zuwendung sieht.

ANNE TEBARTZ-VAN ELST: Ästhetik als Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche. 237 S., Verlag Karl Alber Freiburg/München 1994;

Anne Tebartz-Van Elst, Jahrgang 1958, hat in ihrer Dissertationsschrift Nietzsches Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft zur Rhetorik in seinen sprachkritischen und metapherntheoretischen Reflexionen genau unter die Lupe genommen.

Lange Zeit galt die Rhetorik als bloßer Ausdruck großer Beredsamkeit und als eine Technik effektvollen Redens. Doch seit Nietzsche,in Abgrenzung vom Wahrheitsbegriff der metaphysischen Tradition,den Begriff der "perspektivischen Wahrheit" entfaltet hat und erst recht seit durch Lyotard, einem der wichtigsten Vertreter der Postmoderne,der Begriff der absoluten Wahrheit vollends fragwürdig geworden ist, gibt es keinen archimedischen Punkt mehr, "von dem aus das Rhetorische ohne weiteres als bloßer Schein abgetan werden könnte" (S.12).

Nietzsche hat in der Tat die fundamentale Bedeutung des Rhetorischen für die Philosophie und die Sprache schon früh erkannt. Aufgrund von Verführungen durch die Sprache lesen wir wohl oder übel, nach Nietzsches Meinung, 'Disharmonien und Probleme in die Dinge' hinein, aber letztlich sei dies nicht zu vermeiden, weil wir nur "in den sprachlichen Form denken" (S.63).

Bekanntlich nahm Nietzsche alles, auch den Glauben an die Vernunft und ihre Wahrheit, unter der Perspektive des Lebens wahr. Die Wahrheit wiederum definierte er als grenzenlosen Prozess, als ein unaufhörliches Interpretationsgeschehen und das Erkennen als perspektivisches Sehen, das wesentlich durch unsere Affekte und unsere Stimmungen bestimmt wird.

Zunächst forderte Nietzsche, führt die Autorin aus, die Wissenschaft unter der Optik der Kunst und die Kunst unter der des Leben zu betrachten. Dieses Programm sei jedoch misslungen. Erst der spätere Versuch, an die Stelle der Perspektive der Kunst die sprachphilosophische Perspektive zu setzen, war erfolgreich.

Tebartz-Van Elst kommt nach diffizilen Untersuchungen zu dem Schluss, dass für Nietzsche die Sprache Rhetorik war und die Metapher ihrerseits ein sprachliches Verfahren, das die Neubeschreibung der Welt und die Erweiterung unserer Erkenntnis ermöglicht.

Während in der übrigen Philosophie zu Nietzsches Zeiten und bis weit in das 20.Jahrhundert hinein sozusagen ein Metaphernverbot bestand und die Metapher selbst dem Bereich der Künste, der Dichtung und damit dem Bereich der Täuschung, der Illusionen, des Scheins zugeordnet wurde, machte Nietzsche sie zum Ort der Emanzipation, der Befreiung von der neuzeitlichen Vernunft, weil sie die fundamentale Rolle der Einbildungskraft vor Augen führt und so die Einheit von Bereichen in den Blick bringt, die in der Sprache der metaphysischen Tradition streng geschieden sind: die Einheit von Logik und Ästhetik, von Vernunft und Phantasie und von Philosophie und Rhetorik. Es geht nicht an, die Metapher als reines rhetorisches Wirkungsmittel aus Wissenschaft und Philosophie zu verbannen. Schließlich ist sie ein genuiner Schauplatz menschlichen Wahrheitsstrebens, in dem Schaffen und Entdecken in einer unaufhebbaren Spannung zueinander stehen - einer Spannung, die nach Nietzsche zu den Grundbedingungen des Lebens gehört. Nietzsche hat damit wesentliche Erkenntnisse von modernen Metapherntheorien und gleichzeitig manches aus der Wittgensteinsche Terminologie vorweggenommen. Die Verfasserin weist in diesem Zusammenhang auf Arbeiten von Max Black, Paul Ricoeur und Hans Blumenberg hin, in denen seit einiger Zeit wieder das Bestreben erkennbar sei, die Rhetorik in Anknüpfung an Aristoteles zu erneuern und ihr den angestammten Platz neben Wissenschaft und Philosophie zurückzugeben.

HANS ERICH LAMPL(Hrsg.):Zweistimmigkeit-Einstimmigkeit? Friedrich Nietzsche und Jean-Marie Guyau("Esquisse d'une morale sans obligation, ni sanction"). 75 S. Junghans-Verlag, Cuxhaven 1990;

Erich Lampl macht in seinem schmalen Büchlein darauf aufmerksam, dass um die Jahrhundertwende der früh verstorbene französische Dichter-Denker Jean-Marie Guyau (1854-1888) oft mit dem"ihm familienähnlich empfundenen deutschen Dichter-Philosophen Friedrich Nietzsche" (S.40) assoziiert wurde. Doch während Nietzsche auch nach seinem Tode bis heute Langzeitwirkung beschieden ist, habe die Nachwelt Guyau bald vergessen. Guyau selbst habe von Nietzsches Wirken nichts gewusst. Nietzsche indessen sei von der Philosophie Guyaus beeinflusst worden. Diese Tatsache hätten die meisten Nietzsche-Exegeten bislang übersehen. Lampl bringt Auszüge aus Guyaus "Entwurf einer Moral ohne Verpflichtung und Strafandrohung" mit Nietzsches Kommentaren. Allerdings beschränken sich Nietzsches Randbemerkungen durchweg auf ein"Ja", "gut" oder auf ein Fragezeichen. Dennoch glaubt der Verfasser, dass die Lektüre" in Nietzsches Werkstatt entscheidende Abklärungen und Abgrenzungen der Eigenpositionen bewirkt"(S.73)habe. Ob es in der Beziehung Nietzsche-Guyau wirklich noch etwas Gravierendes aufzuarbeiten gibt, wie diese etwas merkwürdige Studie suggeriert, bleibt abzuwarten.

DIETER BORCHMEYER UND JÖRG SALAQUARDA(Hrsg.). Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung.1418 S.;Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1994. Zwei Bände.

Die Begegnung Nietzsches mit Wagner gehört zweifellos zu den bedeutendsten und folgenreichsten Beziehungen der deutschen Kulturgeschichte. Um den"Bruch"zwischen beiden rankt sich seit mehr als einem Jahrhundert ein tendenziöses Legendenwerk. Bisher waren nur die publizierten Schriften Nietzsches über Wagner bekannt. Jetzt haben der Heidelberger Germanist Dieter Borchmeyer und der Wiener Philosoph Jörg Salaquarda die erste vollständige Dokumentation über die Beziehung Nietzsches zu Wagner vorgelegt. Ihre zweibändige Dokumentation enthält den Briefwechsel Nietzsches mit Richard und Cosima Wagner, alle Äußerungen Nietzsches über Wagner, einschließlich jener Notizen, die ursprünglich nur für die Schublade bestimmt waren,ferner Tagebucheintragungen von Cosima Wagner über Nietzsche und eine Chronik der Beziehungen Nietzsches zu Wagner. In ihrem Nachwort analysieren die Herausgeber das Verhältnis zwischen dem Philosophen und dem Komponisten.

Der erste Brief vom 20.Mai 1869 von Cosima, damals hieß sie noch von Bülow, enthält eine Einladung an Nietzsche zu "Herrn Wagner's Geburtstag" nach Tribschen. Man geht überaus höflich miteinander um und ist einander sehr zugetan. Cosima, ängstlich bemüht, Wagner Ärger zu ersparen, bittet Nietzsche immer wieder um allerlei Gefälligkeiten. Nietzsche dagegen hat mit mancherlei Unpässlichkeiten zu kämpfen, mit Zahnschmerzen und anderen physischen und psychischen Beeinträchtigungen. "Es ist mir verdrießlich,wie leicht und wie oft ich gänzlich umgeworfen werde, aber ich hoffe, von nun an immer gesünder zu sein, und mein Arzt glaubt das auch", verkündet er am 24.Juni 1872 von Basel aus. "Geliebter Meister",so redet Nietzsche Wagner an, dieser antwortet mit "Lieber Freund".

"Es lebe die freie Schweiz, Richard Wagner und unsere Freundschaft", schreibt Nietzsche an Erwin Rohde am 12.Februar 1869. In Briefen an die Mutter und an die Schwester schwärmt Nietzsche von "herrlichen Tagen" mit Wagner. Wagner wiederum sah in dem jungen Philologen einen ergebenen Jünger seiner Kunst und suchte, ihn an sich zu binden. Aber wahrscheinlich hat Nietzsche schon bald das Bedürfnis verspürt, sich der Wagnerschen Liebesumklammerung zu entziehen, die ihm seine Freiheit zu rauben drohte.

Die Zeit der Freundschaft währte vom Mai 1869 bis zum Sommer 1876, von dem Erscheinen der "Geburt der Tragödie" bis zum Umzug Richard Wagners nach Bayreuth. Immerhin war der gesellschaftliche Trubel der Festspiele mit Nietzsches Ideal einer zukünftigen Kunst kaum vereinbar. Der rührige Bayreuther Festspielunternehmer Wagner, der sich Kaiser und Reich an den Hals warf,um ein "Bismarck der Nationalkunst" zu werden, und von dem sich die Deutschen("ein gefährliches Volk",konstatierte der Philosoph) berauschen ließen, musste dem Zeitkritiker Nietzsche verdächtig sein. Hinzu kam die von Nietzsche am späten Wagner kritisierte"verfluchte Antisemiterei".

Das äußere Datum des Zerwürfnisses zwischen Wagner und Nietzsche fällt mit dem Eintreffen des ersten Teils von "Menschliches-Allzumenschliches" in Bayreuth am 25.April 1878 zusammen. Wagners "Lob" darüber fällt vernichtend aus. "R.meint, er erweise dem Autor ein Gutes, wofür dieser ihm später danken würde, wenn er es nicht lese. Mir scheint viel Ingrimm und Verbissenheit darin", notierte Cosima Wagner in ihr Tagebuch (S.1319).Nietzsche warf Wagner alsbald Verlogenheit vor. "Richard Wagner trägt für mich - zu viel falsche Diamanten"klagte er.(S.780). "Wie arm, künstlich und schauspielerisch klingt mir jetzt die ganze Wagnerei", ließ er 1882 Franz Overbeck wissen (S. 828).

Wagners Tod am 13.Februar 1883 setzte Nietzsche dennoch sehr zu. Für ihn ging damit gewissermaßen die alte Kultur zu Ende. Wagners "Tod spiegelt den Tod der Götter", behaupten die beiden Herausgeber, "aus dem nach der Lehre Zarathustras der 'Übermensch' hervorgehen soll." Als der Zarathustra ("Gegenentwurf zur Welt des späten Wagner - Nietzsches Anti-Parsifal") erschien, war Wagner bereits tot.

Nietzsche selbst,dem sich aufgrund seiner Krankheit und Labilität die Dunkelheiten der künftigen Welt schneller und tiefer erschlossen haben als seinen Zeitgenossen, hat mit seiner Diagnose der Gegenwart als einer krankhaften Scheinwelt, aus der sich der Erkennende nicht befreien könne, fraglos einer neue Epoche der Reflexion sowie der modernen Kulturkritik den Weg geebnet.

So unterschiedlich die Ansätze und Intentionen der einzelnen Autoren auch sind, so zeigt sich doch deutlich, dass sich gegenwärtig im Widerstreit der Meinungen die einfühlsamen Stimmen für Nietzsche stärker Gehör verschaffen als Vorbehalte und Ablehnungen gegenüber dem angeblichen "Allesverneiner" Friedrich Nietzsche.

(Der Literaturbericht erschien in "Philosophischer Literaturanzeiger" ,Herausgegeben von G.Wolandt, R.Lüthe und S.Nachtsheim. Band 50 Heft 1 Januar - März 1997).


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