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Geschichte und Bedeutung des literarischen Expressionismus
(Vortrag, gehalten am 4.März 2004 vor der Literarischen Gesellschaft Arnsberg im Salon Jutta Kramer)

Nachspiel als Einleitung

Im Jahr 1925 veröffentlichte ein ansonsten erfolgloser Anstreicher und Maler ein Buch, das er während seiner Haftzeit geschrieben hatte und in dem er der Kunst der Moderne den Prozess machte. Zu dieser Kunst der Moderne gehörten der Dadaismus, der Kubismus und der Expressionismus. Später erlebte das Buch des Anstreichers, obwohl es ein elendes Machwerk und eine entsetzliche Hetzschrift war, zahllose Auflagen und wurde 12 Jahre lang frisch getrauten Ehepaaren zur Hochzeit überreicht. Sein Verfasser hatte in dieser Schrift Künstler, die den erwähnten Richtungen angehörten, als "geistige Degeneraten" gebrandmarkt und ihre Werke "Wucherungen", "Halluzinationen von Geisteskranken oder Verbrechern" genannt. Später hat er seine Drohung, sie alle, die Künstler und ihre Werke, zu vernichten, auf furchtbare Weise wahr gemacht.

Sie werden es längst erraten haben. Ich spreche von Adolf Hitler und seiner Schrift "Mein Kampf". 1937 wurden in der Ausstellung "Entartete Kunst" viele Kunstwerke, auch solche des Expressionismus, unter dem Etikett "Machwerke von Geisteskranken" ausgestellt und den Schöpfern dieser Werke das Existenzrecht in Deutschland abgesprochen. Doch schon vier Jahre zuvor, nämlich am 10.Mai 1933, hatten deutsche Professoren und Studenten der modernen Literatur durch Bücherverbrennungen den Garaus gemacht. Wieder waren es bevorzugt literarische Werke aus dem Umkreis des Expressionismus, die hier vernichtet und den Flammen übergeben wurden.

Keine Schriftstellergeneration hat im 20.Jahrhundert unter der Geschichte wohl so sehr gelitten wie die expressionistischen Dichter und Schriftsteller. Viele Künstler verschwanden nach 1933 in Todeslagern oder begingen Selbstmord:

Erich Mühsam, Paul Kornfeld, Jakob von Hoddis, Otto Freundlich, Walter Serner wurden in Lagern umgebracht. Hingerichtet wurde neben vielen anderen Felix Grafe. Das Leben nahmen sich Ernst Toller, Ernst Weiß, Walter Hasenclever, Carl Einstein und Alfred Wolfenstein. Etwa zwanzig expressionistische Schriftsteller und Dichter gingen zwischen 1933 und 1945 ins Exil. Viele von ihnen sind im Ausland gestorben.

Die deutsche Kultur ist damals, als man versucht hat, alle diese Schriftsteller und Künstler im wahrsten Sinne des Wortes auszumerzen, sehr viel ärmer geworden, und jene, die sich vorgenommen hatten, die deutsche Kunst und Kultur von sogenannten, angeblich fremden Elementen zu reinigen, haben dieser selbst am meisten geschadet.

Was aber ist oder war der Expressionismus?

Er war eine künstlerische Bewegung, die im frühen 20.Jahrhundert besonders in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, als Kunst des seelischen Ausdrucks dem Impressionismus entgegentrat und alle Künste erfasste, nicht nur die Malerei, die Bildende Kunst und die Literatur, sondern auch die Architektur, die Schauspielkunst, den Tanz, die Musik und den Film.

Der Expressionismus wurde von der damaligen jungen deutschen Schriftsteller-Generation getragen. Die meisten von ihnen waren zwischen 1875 und 1895 geboren worden. So sehr sich auch die einzelnen in ihren Ausprägungen und künstlerischen Arbeiten individuell unterschieden, so stimmten sie doch in der Radikalität ihrer Kunsttheorie und Kunstpraxis überein, mit der sie die Tradition durchbrachen.

Der Begriff selbst wurde 1911 von Herwarth Walden, dem damaligen Ehemann von Else Lasker-Schüler, geprägt und zwar im Zusammenhang mit der 22.Ausstellung der "Berliner Sezession" zur Bezeichnung der Bilder junger französischer Maler (Braque, Derain, Dufy, Picasso, Vlaminck).

- 1914 hat Walden übrigens in seiner "Sturm"-Galerie die erste Einzelausstellung Chagalls organisiert. Chagalls Bilder fanden sofort Sammler und Käufer. Chagall wurde auf der Rückreise in seine weißrussische Heimatstadt Witebsk vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht. Er kam erst 1922 wieder nach Berlin. Inzwischen waren die fast zweihundert Werke verkauft worden. Allerdings hatte die Inflation den Erlös dahinschmelzen lassen. Später wurden seine Werke von den Nazis als Inbegriff "Entartete Kunst" denunziert und aus den deutschen Museen entfernt. -

Kurt Hiller hat den Begriff Expressionismus dann als erster auf die jungen Dichter übertragen. Er schreibt u.a.: "..wir sind Expressionisten. Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an." Davon war weder im Impressionismus noch im Naturalismus jemals die Rede gewesen.

Ausgelöst wurde die Bewegung durch das Erlebnis der inneren Krise vor dem Ersten Weltkrieg. Den aufmerksamen Geistern war nämlich schon um die Jahrhundertwende um 1900, dann durch den Krieg selbst und spätestens seit 1918 klar, dass die wilhelminische Gesellschaft aus den Fugen geraten oder vielmehr erstarrt war und sich überall eine innere Leere breit machte.

Die Jugend protestierte gegen die autoritäre wilhelminische Vater-Gesellschaft, durch die sie sich als Außenseiter diskriminiert fühlte. Das Ende des Krieges 1918 und die fehlgeschlagene deutsche Revolution brachten dann den Höhepunkt des Gefühls, an einer Zeitwende zu stehen. Was damals geschah, bestimmte die politische und die literarische Entwicklung auf viele Jahre hinaus.

Eines der aufschlussreichsten Dokumente für die damalige Krisenerfahrung in einer veränderten Welt ist ein Vortrag von Hugo Ball. Hier nennt er drei Faktoren, die die Kunst jener Tage "bis ins Tiefste erschütterten": Die von der kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt - schon Max Weber hatte von der Entzauberung der Welt durch Technik und Wissenschaft gesprochen -, die Auflösung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der Bevölkerung im heutigen Europa. Damit sind philosophie-, wissenschafts- und sozialgeschichtliche Umwälzungsprozesse angesprochen, die für das expressionistische Krisenbewusstsein konstitutiv waren.

Geburtsstunde war die Erfahrung der Krise

Die Literatur des Expressionismus lässt sich als symbolischer Ausdruck kollektiver Krisenerfahrung lesen, die von den jungen Autoren des vorigen Jahrhunderts einerseits als Möglichkeit zur Befreiung von überalterten und nur noch zwanghaft aufrecht erhaltenen Orientierungsangeboten wahrgenommen, andererseits jedoch auch als Verlust begriffen wurden. Denn wenn man alles über Bord wirft, entstehen Leerstellen, die wieder gefüllt werden müssen.

Zudem litten die Schriftsteller und Dichter an ihrer metaphysischen Obdachlosigkeit. Sie hatten keinen Halt in einer transzendenten Welt. Sie fühlten sich wurzellos und suchten nach einer neuen Verankerung. Immerhin hatten vielfach die Kirchen in der Wilhelminischen Epoche durch ihre Anpassung an die damalige Obrigkeit und Oberflächlichkeit ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und sein Freund Franz Overbeck hatten diese Entwicklung frühzeitig erkannt und zur Sprache gebracht.

Die expressionistischen Schriftsteller verachteten die hinfällig gewordene traditionelle Ordnung in allen ihren Formen und fühlten sich mit einer oft geradezu ekstatisch-zarathustrischen Schau berufen, das Neue zu verkünden, den Menschen aufzurütteln und die Wirklichkeit zu verändern. Nietzsche, der 1900 gestorben war und dessen Philosophie erst nach seinem Tod ihre Wirkung entfaltete, hatte bei vielen Expressionisten Pate gestanden.

Im Grunde stellt der Expressionismus eine Reaktion der Seele dar gegen die materiellen Wirklichkeitsnachbildungen im Naturalismus und gegen die bloße Wiedergabe äußerer Eindrücke im Impressionismus. Man wollte tiefer schürfen. Die künstlerische Gestaltung erfolgte nun als rein geistiger Ausdruck innerlich geschauter Wahrheiten und seelischer Erlebnisse des Ichs unter freier Benutzung der äußeren Gegebenheiten wie Natur und Sprache. Man kehrte das Innerste nach außen. Die herkömmlichen ästhetischen Formen wurden durch Umkehr oder Aufhebung der Sprachlogik gesprengt. Das wiederum führte zu einem spielerischen Umgang mit der Sprache, einem für die damalige Zeit unerhörten Phänomen.

Kunst wurde dabei zum Agitationsmittel. Denn die Forderung nach ästhetischer Neuerung verband sich zugleich mit Gesellschaftskritik, politischen Ideen und utopischem Entwurf. Der Expressionismus war mithin alles andere als eine "l'art pour l'art"-Bewegung.

Man empörte sich über das Grauen der entseelten Welt. Man machte Front gegen eine "ungeistige" beziehungsweise avitale Wirklichkeit der zivilisatorischen Moderne, der Wissenschaft, der Technik und gegen das Phänomen der Masse, weil man fühlte, dass das Leben, die Seele oder das Gefühlsleben, menschliche Wärme und der Geist durch die zunehmende Vorherrschaft von Technik und Wissenschaft zu kurz kamen (Phänomene, an denen auch unsere Gegenwart leidet), und man wehrte sich dagegen mit allen Mitteln, vor allem mit den Mitteln der Kunst. Ernst Bloch schrieb in der zweiten Fassung von "Geist der Utopie"(1922) von der "technischen Kälte" .

Man protestierte, revoltierte, suchte nach neuen Werten und forderte einen neuen Menschen und ein neues Menschenideal. Der Expressionismus ist vielfach mit dem Schlagwort "O-Mensch-Pathos" charakterisiert und auch abgewertet worden. "Mensch" ist geradezu zu einem Schlüsselwort des Expressionismus geworden.

Die Forderung nach dem neuen Menschen kommt in vielen Titeln zum Ausdruck, wie "Der Mensch in der Mitte", "Menschheitsdämmerung" oder "Masse Mensch".

Das gesuchte und zugleich erlittene Außenseitertum vieler expressionistischer Autoren und ihrer literarischen Hauptfiguren ist eng verknüpft mit ihrer Antibürgerlichkeit. Der Bürger als solcher war damals die alles beherrschende Figur, und gegen die machte man Front. Die negative Darstellung der bürgerlichen Welt stand somit im Zentrum der Gesellschaftskritik, wobei sich die Schriftsteller nicht selten einer chiffrenhaft verknappten, "geballten" oder rhythmisch ausgreifenden Sprache bedienten, sowohl in der expressionistischen Prosa, als auch in der Lyrik und im symbolhaft gestaltetem Drama.

Ernstnehmen jüdischer und christlicher Werte

Gekennzeichnet war die Bewegung ferner durch existentielles Ernstnehmen jüdischer und christlicher Gestalten und ihrer Motive und Werte wie Demut, Liebe, Opfer, Leiden. Die Bewegung besaß also durchaus eine religiöse und theologische Qualität, die jedoch von Kirche und Theologie nicht erkannt worden sind. Wie so oft erwiesen sich wieder einmal beide blind, so wie sie sich gegenwärtig noch immer blind und taub stellen gegenüber den Anliegen und Inhalten der modernen Kunst - abgesehen von einigen wenigen rühmlichen Ausnahmen, zu denen auch der Kölner Pfarrer Friedhelm Mennekes gehört.

Die oben aufgestellte Behauptung, die Künstler der expressionistischen Bewegung litten unter ihrer metaphysischen Obdachlosigkeit ist indes kein Widerspruch zu der Feststellung, dass jüdische und christliche Gestalten und Werte von Expressionisten ernst genommen wurden, schließlich kann man Werte und Ideale einer Religion übernehmen, ohne deren Kern, in diesem Falle die biblische Botschaft, zu akzeptieren. Brecht und andere erklärte Atheisten ließen sich beispielsweise von der Bibel anregen, ohne überzeugte Christen zu sein oder geworden zu sein.

Peter Maser schlägt daher im "Wörterbuch des Christentums" vor, den Expressionismus als quasi-religiös zu bezeichnen. Die oft negative Haltung gegenüber der Religion im Expressionismus hat wohl am krassesten Gottfried Benn zum Ausdruck gebracht. Zwar vermochte er an Gott, den Vater, und an Jesus nicht zu glauben und hat die Menschen verachtet, "die mit ihren eigenen Dingen nicht fertig werden und nun eine andere Stelle um Aushilfe angehen". Doch glaubte er selbst, ohne Klarheit darüber zu haben, an einen, wenn auch dunklen Auftrag und eine metaphysische Bindung. Den religiösen Glauben indes, den betrachtete er als vorschnellen Schluss, der dem heutigen Menschen nicht mehr möglich sei.

Dagegen haben sich Maler aus dem Umkreis der Brücke durchaus mit religiösen Motiven auseinander gesetzt wie etwa Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff, Paul Klee in seinem Spätwerk, ferner Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, der immer wieder menschliche Grundsituationen mit hohem religiösen Gehalt dargestellt hat.

Die Idee vom neuen Menschen

Die Nähe der expressionistischen Idee des neuen Menschen zu religiösen Denkformen zeigte sich nicht zuletzt im predigtähnlichen Ton und messianischen Pathos, mit dem der Einzelne zum Umdenken aufgerufen wurde. "Das einzige Mittel, das der Einzelne hat, um die Welt zu ändern, ist das, sich selbst zu ändern", postulierte Paul Kornfeld 1918.

Als Wunschvorstellung ist die Idee vom neuen Menschen freilich in gleichem Maße Ausdruck von Missbehagen wie von Hoffnung. Es entwickelte sich zu guter Letzt eine Art messianischer Spätexpressionismus.

- Nebenbei bemerkt: Die Idee von "Wandlung" und "neuem Menschen" ist so alt wie der Traum vom Paradies. Bereits in der Bibel findet sie sich und hat zählebig bei Lenins Nachfahren überwintert. Allerdings haben die einen das Paradies im Jenseits erwartet, während die anderen dieses schon auf Erden verwirklichen wollten und stattdessen nicht selten eine Hölle hervorbrachten.

Gestützt wurde der allgemeine Aufschwung durch die einzigartige Symbiose der Literatur mit gleichgesinnten Vertretern anderer Künste. Nicht wenige waren in verschiedenen Künsten gleichzeitig tätig: Ernst Barlach als Bildhauer, Grafiker und Dichter, Oskar Kokoschka und Ernst Weiß als Maler und Dichter.

Der Expressionismus war, wie bereits angedeutet, eine literarische Jugendbewegung, die sich selbst in der Tradition des "Sturm und Drang" und des "Jungen Deutschland" sah, in der Jugendlichkeit hoch bewertet wurde und in der man sich intensiv mit Autoritäts- und Generationenkonflikten in sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhängen befasste. Man beschränkte sich folglich nicht nur auf die Familie, sondern griff weiter aus. Seit der Romantik ist der Expressionismus fraglos der erste große Aufbruch einer Jugend in Deutschland.

Viele Juden waren Expressionisten

Besonders hoch war der Anteil von Juden an dieser Bewegung. Dabei waren sich über das Ziel die nichtjüdischen wie die jüdischen Expressionisten einig. Es sollte nach der radikalen Umkehr eine humanistische Gemeinschaft des Geistes etabliert werden, in der mit der allgemein menschlichen auch die "jüdische Frage" gelöst werden sollte. Eine Frage, die im Grunde vor allem Nichtjuden beschwert hat, seltener Juden selbst.

- Diesem Trugschluss, man könne mit der Errichtung einer idealen Gesellschaft alle Fragen lösen, waren 1945 auch kommunistische Juden erlegen, die nach dem Zusammenbruch des Nazis-Regimes in die DDR gegangen war, um bei der Verwirklichung von Kommunismus und Sozialismus mitzuhelfen, und von denen schon viele 1953 mit dem Aufkommen eines neuen alten Antisemitismus, ausgelöst durch die Slánsky-Prozesse in der damaligen Tschechoslowakei, eines Besseren oder vielmehr Schlechteren belehrt wurden. -

Die "Explosion des jüdischen Talents" verdankte sich, laut Walter Benjamin, der Idee, die Gesellschaft in Richtung auf mehr Humanität und Geist umzukrempeln. Auf allen Ebenen des literarischen und kulturellen Lebens traten Juden für die expressionistische Utopie ein. Annähernd die Hälfte der expressionistischen Autoren entstammten dem Judentum. Sie gaben wichtige Anthologien und Zeitschriften heraus: Kurt Hiller "Der Kondor" (1912) und Kurt Pinthus "Menschheitsdämmerung" (1919). Der bedeutendste expressionistische Verleger (u.a.von Kafka, Werfel, Kraus, Hasenclever) war Kurt Wolff, der mit seiner Buchreihe "Der jüngste Tag" einen repräsentativen Querschnitt durch die neue Dichtung vorlegte.

Aufbruch- und Revolutionsstimmung, ekstatisches Verbrüderungs- und O-Mensch-Pathos (Werfel: "Der Weltfreund"1911) bestimmten das Bild des frühen Expressionismus. Zugleich wurden in der Großstadtlyrik, mit der zwei neue Sujets eingeführt worden war, Entfremdung und Heimatlosigkeit zu den eigentlichen Themen. Dabei konnte sich jüdische Existenz als Paradigma oder Modell der Gesamtbefindlichkeit des modernen intellektuellen Menschen verstehen. Das hat auch Marcel Reich-Ranicki immer wieder herausgestellt, vor allem in seinem Büchlein "Über Ruhestörer", dass Juden Unbehaustheit und Heimatlosigkeit des modernen Menschen vorweggenommen haben durch ihr Dasein in der Diaspora. Das Gefühl, fremd und unwillkommen zu sein, kein Boden unter den Füßen zu haben, nirgendwohin zu gehören ist für viele unseres und des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere für Flüchtlinge und Vertriebene, zur elementaren Erfahrung geworden, eine Erfahrung, die Intellektuelle mit seismografischem Gespür vorweggenommen haben.

Pazifismus prägte den Expressionismus

Später nach dem Ersten Weltkrieg und auch schon während der Kriegsjahre prägte außerdem noch der Pazifismus den Expressionismus. Zunächst hatte allgemein lautes patriotisches Getöse den Ausbruch des Krieges begrüßt, während Hermann Hesse für seinen berühmt gewordenen Aufsatz "O, Freunde nicht diese Töne" heftig angegriffen wurde. Der kriegsbegeisterten Stimmung der Bevölkerung konnten sich anfangs selbst die Künstler nicht entziehen. Oskar Kokoschka, Rudolf Leonhard, Franz Marc und Ernst Toller meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Andere wie Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz oder Reinhard J.Sorge drückten feierlich ihre "Schicksalsbereitschaft" aus.

Der Krieg wurde als kulturrevolutionäres Ereignis gefeiert, schien er doch all jene Werte zu verwirklichen, die der Expressionismus der Welt des mittlerweile vierzigjährigen Friedens so aggressiv entgegengestellt hatte. Man hoffte jetzt auf die Realisierung einer Gesellschaft, die die Isolation des Künstlers überwindet, auf eine Vitalität, die die bisherige Dekadenz aufhebt, sowie auf die Zunahme von politischer Verantwortlichkeit, die den bis dahin sozial unverbindlichen Ästhetizismus verabschiedet.

Schon ein Jahr danach findet man kaum mehr einen, dem Expressionismus nahe stehenden Intellektuellen oder Künstler, der mit Pro-Kriegsäußerungen an die Öffentlichkeit getreten wäre. Eigene Kriegserlebnisse hatten viele nachdenklich gemacht wie etwa Ernst Toller. Viele waren gefallen. Auch Künstler wie August Macke, Franz Marc, Albert Weisgerber, die Dichter August Stramm und Alfred Lichtenstein haben den Krieg nicht überlebt. Die Kunde von Materialschlachten an der Front, von der Zerstörungskraft der neuen Kriegstechniken und vom Massensterben in den Schützengräben - man denke nur an das Morden bei Verdun - hat viele Expressionistischen umgestimmt. Überdies hatte ihre anfängliche Kriegsbegeisterung oft nur wenige Monate angedauert. Ja, man darf mit Fug und Recht behaupten, dass die aktiven Pazifisten während des Ersten Weltkrieges zu weiten Teilen aus der expressionistischen Bewegung stammten.

So entstand im Expressionismus der pazifistische Ruf nach einer übernationalen und überreligiösen Gemeinschaft der Menschen. Ein Beleg hierfür sind Ludwig Rubiners "Der Mensch in der Mitte" (1917), seine Anthologie "Kameraden der Menschheit" (1919) und Ernst Blochs "Geist der Utopie" (1918).

Jüdisches Wesen und deutsche Sprache, so sah es Alfred Wolfenstein, begegneten und vereinigten sich auch hier in einer besonders intensiven Weise.

Der starke Anteil jüdischer Autoren äußerte sich ferner in einer dichterischen Mystik, bei Paul Adler, Simon Kronberg, Arno Nadel, Efraim Frisch und Martin Buber. Der Expressionismus ist recht vielgestaltig, und im Grunde hätte fast jeder der expressionistischen Künstler ein eigenes Kapitel verdient. Wir müssen uns hier mit simplen Aufzählungen begnügen.

Als Lyriker traten hervor: Johannes R.Becher, Gottfried Benn, Ernst Blass, Max Brod, Albert Ehrenstein, Georg Heym, Jakob van Hoddis, August Stramm, Georg Trakl, Franz Werfel und Paul Boldt.

Als Erzähler wirkten Alfred Döblin, Kasimir Edschmid, Carl Einstein, Leonhard Frank, Klabund, Gustav Sack, Ernst Weiß und Hans Leypold.

Am reinsten kommt der Expressionismus zweifellos in der Lyrik, und zwar in monologischen Reflexionen und in schwelgenden Tönen, zum Ausdruck. Ein in formaler Hinsicht nicht weniger uneinheitliches Bild als in der Lyrik zeigt auch die Prosa des expressionistischen Jahrzehnts. Das Drama besteht dagegen oft aus einer visionären Aneinanderreihung von 'Stationen', in denen apsychologisch gezeichnete Bekenner-Helden agieren, vor allem bei Ernst Barlach, Reinhard Goering, Walter Hasenclever (Der Sohn 1914) Hanns Henny Jahn, Hanns Johst, Georg Kaiser (Die Bürger von Calais 1914), Paul Kornfeld, Reinhard Johannes Sorge, Carl Sternheim, Ernst Toller und Fritz von Unruh.

Ernst Tollers literarischer Ruhm wuchs im Siegeslauf des expressionistischen Dramas. Als ehemaliger Vorsitzender des Zentralrates der Bauern- und Soldatenräte und Heerführer einer Roten Armee war er 1919 wegen Hochverrats zu mehreren Jahren Festungshaft verurteilt worden. Während der Haft von 1920 bis 1924 schrieb er seine wichtigsten expressionistischen Dramen, wie "Masse Mensch" und das Anti-Kriegsstück "Der deutsche Hinkemann", in denen er seine durch die Kriegserlebnisse erlangte pazifistische Haltung umsetzte. Von ihm stammte eine Reihe von Gedichten und kritischen Schriften, die Tollers pazifistische und seine antifaschstische Haltung eindrucksvoll dokumentieren.

Das Ende zeichnet sich ab

Als Toller in die Freiheit entlassen wurde, begann sich eine neue realistische Generation auf der Bühne, im Roman und in der Poesie Geltung zu verschaffen. Der Expressionismus schien erledigt. Die vielen hoch gespannten Erwartungen und Hoffnungen, die die Dichter und literarische Aktivisten gehegt hatten, hatten sich nicht erfüllt. Dennoch gehören die Jahre um 1918 und davor sicherlich zu den bewegtesten und geistig lebendigsten in der deutschen Literatur und Geschichte des 20.Jahrhunderts.

Spätestens ab 1920 zeichnete sich allmählich das endgültige Scheitern der expressionistischen Utopie ab. Mit dem Erlöschen seiner eschatologischer Hoffnungen infolge der innenpolitischen Entwicklung - das Scheitern der Novemberrevolution 1918 hatte zu einer sozialen Restauration geführt -, zerfiel der Expressionismus, der sich in knapp zehn Jahren von einer Literaturrevolution zu einer umfassenden Kulturbewegung mit hohem Utopiepotential ausgeweitet hatte.

Unterschiedliche Bewertung

Der Expressionismus wurde und wird recht unterschiedlich bewertet. Für Ludwig Marcuse war er ein "Sammelsurium von Tendenzen, Namen und Compagnons", für Otto F.Best jedoch, "eines der impulsreichsten Ereignisse in unserem Jahrhundert". Es ging nicht um künstlerische Form, sondern um Gesinnung, befand wiederum Iwan Goll. Zugegegeben, Gesinnung kann vieles verderben, vor allem dann, wenn der gute Wille stärker ist als das Talent.

"Es war jene Kunst", schreibt Jürgen Serke in "Die verbrannten Dichter", "welche die Zerfallserscheinungen des Kapitalismus offen legte und die gegen eine Restauration ankämpfte, die mit dem Nationalsozialismus in die Katastrophe führte."

Einige Dichter und Autoren wie Johannes R.Becher, Arnold Bronnen, Hanns Johst und kurzfristig auch Gottfried Benn wurden später anfällig für totalitäre Ideologien. Die einen wurden kommunistisch, andere wie Benn nationalsozialistisch.

Hierzu eine kleine Anekdote: Nach der Machtergreifung wurde unter Schriftstellern diskutiert, ob sich jetzt wohl auch Gottfried Benn zu den neuen Machthabern bekennen würde. Bert Brecht sagte. es wäre verfehlt, "aus der Unverkäuflichkeit seiner Bücher auf die Unverkäuflichkeit seiner Seele zu schließen." Andere wurden später katholisch wie Franz Werfel und Alfred Döblin.

Heute haben sich die Koordinaten längst verschoben. Unsere Gesellschaft ist nicht mehr wie im Kaiserreich auf selbstgefälliges Beharren fixiert - selbst wenn sie es möchte, kann sie es nicht mehr - , sondern auf Innovation bis hin zur Selbstverleugnung. Gefahr droht ihr durch Werteverfall, aber auch durch Werte-Fundamentalismus. Die Literatur braucht nicht mehr vom "Neuen Menschen" zu schwärmen, das besorgt inzwischen die Gentechnologie. Die ästhetische Moderne des 20.Jahrhunderts hat sich, auch in ihrer expressionistischen Spielart, erschöpft. Die Kunst muss heutzutage andere Strategien entwickeln.

Festzuhalten bleibt, dass der Expressionismus die bislang letzte literarische Richtung in Deutschland war, die eine Vielzahl von Autoren mit großem Engagement für ihr Programm verpflichten konnte.

Quellen:


. . auf uhomann@UrsulaHomann.de Inhaltsverzeichnis