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Italien(1786)
Es muss eine tiefe, die ganze Existenz betreffende Krise gewesen sein, in die der fast Siebenunddreißigjährige geraten war und der er nicht anders zu begegnen wusste als durch zeitweilige Absonderung von seinem früheren Leben. Kein Wunder, dass er das italienische Ereignis mit großen Worten wie "Wiedergeburt" und "neues Leben" bedacht hat.
Als er seine Italienreise antrat, hatte er in einer Identitätskrise gesteckt. Er hatte nicht mehr gewusst, worin seine eigentliche Bestimmung lag. Er lebte nicht mehr in Übereinstimmung mit sich selbst. Er hatte unter den Bedingungen des Weimarer Staates in seiner amtlichen Tätigkeit nicht die Erfüllung gefunden, die er sich erhoffte. Er hatte Abstand gewinnen müssen.
"In Weimar hatte sein künstlerischer Genius nach Gegenständen geschmachtet, die seiner Kraft würdig waren. Er glaubte, dass er 'die große Welt' in Italien finden könnte”, und war geflohen.Die Italienische Reise diente mthin vorwiegend der Selbstfindung des Dichters in einer Lebens- und Schaffenskrise.
Aus der Kur in Karlsbad floh er im September 1786 nach Italien. Von Verona aus schreibt er über antike Grabreliefs: "Sie falten nicht die Hände zusammen, sie schauen nicht gen Himmel, sondern sie sind, was sie waren, sie stehen beisammen, nehmen Anteil aneinander, sie lieben sich." Gefaltete Hände, himmelwärts gerichtete Blicke, solch weltflüchtiger Unsinn war, nach Goethe, dem Denken der Alten fremd.
Rom erreichte Goethe am 29.Oktober 1786."In Rom habe ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden."(14.3.1788)
Goethes Aufenthalt in Italien ist vor allem durch die Begegnung mit der klassischen Antike gekennzeichnet. Dabei erweiterte er nicht nur sein literarisches Repertoire und die Gegenstände seiner Kunstbetrachtung. Auch seine Religionsauffassung vertiefte sich durch Einsichten in die antike Mythologie.
"Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention, kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht."
Goethe beginnt mit der genauen Beobachtung verschiedener Bevölkerungsgruppen, ganz so, wie er es als Naturforscher gewohnt war, Gesteine und Pflanzen zu untersuchen. "Ich fing meine Beobachtungen bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da still stehend oder ruhend fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte."
Goethe schreibt, er habe sich "ganz hingegeben", und "je mehr ich mich selbst verleugnen muss, desto mehr freut es mich." Er sucht das fremdartige Leben aus den jeweiligen Bedingungen des Ortes zu verstehen. Der Dichter hat Zweck und Ziel der Bildungsreise so zusammengefasst: "Ich werde meinen Aufenthalt hier so zu nutzen suchen, dass ich mir und anderen zur Freude, bereichert zurückkehre."
In Neapel blieb er bis Ende März 1787. Hier fühlte er zum ersten Mal, was es bedeuten könnte, ein Südländer zu sein. Neapel erschien ihm wie ein Paradies, hier hatte er sich einem Stück Griechenland genähert. Mit dem Maler Kniep besuchte er Pästum. Von Neapel aus zog es ihn nach Sizilien. Hier fand er endlich, was er suchte, das echte unverfälschte Hellas, frei von nördlichen Nebeln, von römischer Gewöhnlichkeit und christlicher Weltflucht. "Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in meiner Seele: Hier ist der Schlüssel zu allem”, schwärmt Goethe in der "Italienischen Reise".
Goethe vermutete einmal sogar, dass die Odyssee in Sizilien verfasst worden sei. Sein Interesse für Brennpunkte der Geschichte war nicht historisch bedingt, es verlangte ihn nach einer tiefen geistigen Erfahrung. In Sizilien wollte er die von römischem Einfluss noch gänzlich unberührte Kultur sehen und das Land, auf dem diese erblüht war.
Am 2.April war er in Palermo angekommen. Die Seereise von Neapel nach Palermo führte ihn in die Welt des Odysseus hinein: Ein Sturm brach los, Homer hatte die Welt geschildert, die ihn umgab. Für Goethe hörte die "Odyssee" in diesem Augenblick auf, ein Gedicht zu sein, sie schien ihm die Natur selbst zu sein. Als er Sizilien verließ, war seine Sehnsucht gestillt.
Zurückgekehrt nach Rom malte und zeichnete er. In Italien ist er endlich wieder Künstler unter seinesgleichen, kein Geheimer Rath, kein Höfling, kein Ombudsmann, sondern ein Freigeist, der sich sogleich eine einheimische Mätresse zulegt. Denn allem Anschein nach hatte Goethe in Rom auch seine ersten sexuellen, erotischen Abenteuer erlebt.
Doch hatte er nur Augen für die griechische Antike gehabt, keinen Blick für die Kunst des Barock. Jetzt erst erschloss sich ihm das Wesen griechischer Kunst. Ihm ging es um die Kunst, die Natur und die "Sitten der Völker". Er begann, sich Antikes als zeitlos Vollkommenes anzueignen und von den Griechen zu träumen. Mit Hingebung wandte er sich in Italien dem Leben des einfachen Volkes zu.
Er war in Italien nicht nur Kunstbetrachter, er wollte die Zeit auch ernsthaft nutzen, um sich selbst als praktizierender Künstler und beschreibender Schriftsteller weiter auszubilden. Aber "täglich wird mir's deutlicher, dass ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin.” Auf das Ausüben der bildenden Kunst hat er dann bald verzichtet.
Herder teilte er auf der Rückreise aus Konstanz mit, dass er in Rom in seinem Leben "das erstemal unbedingt glücklich" gewesen sei (Juni 1788). "Ich war in Italien" an Jacobi am 21.7.1788, "sehr glücklich." Nur in Rom habe er empfunden. "was eigentlich ein Mensch sei", will Eckermann noch am 9.Oktober 1828 von ihm gehört haben.
Als er seinem Herzog bekannte, er habe sich "in dieser anderhalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden" und zwar als Künstler (vor jedem steht ein Bild des das er werden soll ), zeigte dieses Geständnis vor allem den Willen, sich künftig auf das zu konzentrieren, was ihm gemäß schien, um produktiv zu sein.
Die Kunstwerke, die Abgüsse, die Inschriften, Steine, die Goethe in Rom einpacken ließ, verschönerten sein Haus in Weimar. Der Besucher am Frauenplan muss seither über das Wort SALVE eintreten. Das Klassische nannte er das Gesunde, das Romantische das Kranke.
Doch wurde Goethe nicht erst in Italien zum Klassizisten, zum Griechen. Mindestens seit 1779 war er vom Streben nach Wahrheit,, Klarheit, Einfachheit und Stille beseelt. Aber erst Italien gab ihm in Landschaft und Volkstum, in den Bauten der Römer und der Renaissance, in Plastik und Malerei den majestätischen Orchesterklang, während er bisher an einem Klavierauszug sich hatte genügen lassen müssen. Der Augenmensch Goethe hatte für sein Leben genug zu schauen. Jetzt ist ihm nicht das Einmalige und Individuelle wichtig, er preist von nun an das Allgemeine und Typische, er bemüht sich um Formung des Gedankens oder des Bildes nach dem Muster der Antike.
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