Goethe und das Griechentum
"Das Land der Griechen mit der Seele suchend.." oder:
Die Griechen haben "den Traum des Lebens am schönsten geträumt"
Einleitung
Goethe hat die alten Griechen uneingeschränkt bewundert. Er sah sie fast immer groß, groß im Geiste wie in der körperlichen Gestalt.Seiner Meinung nach hatten sie von der wesenhaften Dreieinigkeit der Güte, Wahrheit und Schönheit eine einzigartige Offenbarung der Schönheit erfahren. Den Griechen galt Goethes ganze Liebe. Griechentum war ihm gleichbedeutend mit Menschsein. Unter allen Völkerschaften haben die Griechen "den Traum des Lebens am schönsten geträumt" heißt es in seinen “Maximen und Reflexionen”. Wo er die Griechen erwähnt, geschieht es stets mit dem Ausdruck oder der Andeutung begeisterter Ehrfurcht. Ihre Wirklichkeitsnähe galt ihm als Grundtugend, aus der alle anderen entsprangen.
Für ihn war die griechische Lebensweise der christlichen Lebensauffassung scharf entgegengesetzt, zudem glaubte er, dass zwischen moderner Falschheit und griechischer Aufrichtigkeit ein Gegensatz bestünde ("Götter; Helden und Wieland").
Er hielt die Griechen für ein Volk, das es besser verstanden habe, das Leben im großen Maßstab zu formen, unbedenklich auszugreifen, das Dasein bis zur Grenze zu erfahren, wobei es ihnen gelungen sei, diesen Drang in Grenzen zu halten, so dass er sich niemals in Formlosigkeit verlor, auch wenn die griechische Form bisweilen übermenschliche Dimensionen erreichen konnte. Die Griechen erlangten, laut Goethe, die Vollendung der Humanität durch harmonisches Zusammenspiel aller menschlichen Fähigkeiten und dadurch, dass sie sich begnügten, innerhalb der Welt und in der Gegenwart, zu leben, zu wirken und zu leiden.
Für Goethe waren sie Vorbilder, aber kopieren wollte er sie nicht, nur ihnen nacheifern. Seine Bewunderung für Homer verlockte ihn nicht dazu, Epen in Hexametern zu verfassen. Neben Homer beruft er sich auch auf Sophokles und Theokrit, denn "die haben's mich fühlen gelehrt." Vor allem die "Ilias" und die "Odyssee" offenbarten ihm viel über das Wesen des Menschen und der Welt sowie über Genie und Kunst. Aus diesem Wissen entstanden dann sein "Götz", sein "Werther", sein "Prometheus" und sein "Faust".
Goethes Wendung zur Antike drückt auf eine persönliche Weise den welthistorischen Konflikt zwischen dem Polytheismus und dem Monotheismus aus, zwischen Heidentum und Christentum. In der Antike sah er eine humane und zugleich religiöse Form des Heidentums, zu der er sich selbst mehrfach bekannte wie etwa in dem Gedicht “Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht..”
Zweifellos hat sich Goethe in vielen Phasen seines Lebens der Poesie der Bibel nahe gefühlt. Aber es setzte auch immer wieder die Gegenbewegung des antiken Geistes ein, deren feste epische Form, klare irdische Ordnung, reine sinnliche Schönheit er vor allem pries. In einer solchen Gegenstimmung schrieb er an den Philologen Karl August Böttiger 1790:
"Beim erneuerten Studium Homers empfinde ich erst ganz, welches unnennbares Unheil der Jüdische ('und Christliche' heißt es in einigen Dokumenten) Praß uns zugefügt hat. Hätten wir die Sodomitereien und Ägyptisch-Babylonischen Grillen nie kennen lernen, und wäre Homer unsere Bibel geblieben! Welch eine ganz andere Gestalt würde die Menschheit dadurch gewonnen haben!"
Goethe war eben so sehr ein Schüler der homerischen Griechen wie ein Jünger des biblischen Volkes. Der Dichter schöpfte aus vielen Quellen, aus griechischen, römischen, germanischen, orientalischen. Gegensatz und Versöhnung der Religionen sind die Stichworte, unter denen Goethes Begegnung auch mit der Antike zu verstehen ist. "Juden gibt es unter den Heiden: die Wucherer; Christen unter den Heiden: die Stoiker; Heiden unter den Christen: die Lebemenschen", meinte er 1807 gegenüber Friedrich Wilhelm Riemer, und im Gespräch mit Kanzler von Müller äußerte er am 6.Juni 1824: "Die Gegensätze der heidnischen und christlichen Religion bieten allerdings eine reiche Fundgrube für die Poesie: "Doch dann folgt der Satz: "Aber eigentlich taugen beide nichts."
Als Wilhelm Meister seinen Sohn Felix der Obhut der "Pädagogischen Provinz" übergeben hat, lernt er auch die Heiligtümer kennen, sieht an den Wänden die erste echte Religion der Geschichte, der Griechen, die philosophische Religion, die der Weisen, die auch Christus lehrte.
In seinen Sprüche in Prosa aus dem Jahr 1821 heißt es:
"Antike Tempel
conzentrieren den Gott im Menschen,
des Mittelalters Kirchen
Streben nach dem Gott in der Höhe."
Abgesehen von der Zeit, die Goethe mit Schiller verbrachte, "erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht. mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei" meinte Nietzsche in “Menschliches, Allzumenschliches”, und bei Eckermann heißt es: “Der griechischen Kunst, Philosophie und Literatur haftet der Charakter des Großartigen an, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der reinkräftigen Anschauung und welche Eigenschaften man sonst noch aufzählen könnte.”
Kindheit und Jugend
In Goethes Knabenzeit war die Begeisterung für die Griechen häufig größer als eine gründliche Vertrautheit mit ihrer Literatur und Kunst. Die Welt, in der Goethe groß wurde, seine Umgebung, wusste nichts von den Griechen, “aber sie war bereit, das Beste von ihnen zu glauben”, schreibt Humphry Trevelan in seiner Monographie ”Goethe und die Griechen”. Der Dichter hatte sozusagen eine angeborene oder unbewusst angenommene Sympathie für die Griechen.
Erst allmählich entdeckte man in Deutschland wieder die Bedeutung der griechischen Überlieferung für die westliche Kultur. In der Familie am Hirschgraben gab es keine Tradition des Interesses an griechischen Dingen. Goethes griechischer Sprachunterricht begann in seinem neunten Jahr. Mit zehn oder elf kannte er die griechische und lateinische Mythologie. Unter den Bildern des Vaters waren Szenen aus Ovid, die der ältere Tischbein gemalt hatte.
Die ersten Eindrücke von Griechenland wurden Wolfgang durch die alten Sagen vermittelt, die sich im Deutschland des 18.Jahrhunderts, wenn auch häufig in seltsamer Form, noch eines kräftigen Weiterlebens erfreuten. Wolfgangs Kenntnisse in alter Geschichte und Literatur blieben allerdings in den Jahren vor der französischen Besatzung Frankfurts (Januar 1759) neben der Mythologie gering. Wichtig war nur, dass sein Kopf schon die Fülle griechischer Götter und Helden beherbergte, und dass ihm Hellas eine mindestens ebenso reiche Grube der Phantasie bedeutete wie das alte Israel.
In "Dichtung und Wahrheit" erzählt der Dichter einiges über seine Studien und Fortschritte im Griechischen während seiner Kindheit und berichtet, dass er eher mit Hilfe des Ohres als durch grammatische Regeln gelernt habe.
Das erste Entzücken an der neuen Sprache (Wolfgang war ein lebendiger Schüler) ließen seine Lehrer verkümmern. Die herrliche Fülle griechischer Literatur, die ihn unter sicherer Leitung von Stufe zu Stufe bis zu hoher Vollendung hätte führen können, blieb ungenutzt. Er dachte sich seine eigenen Wege aus, um die Sprache in ein lebendiges Wesen zu verwandeln. Er verfasste einen Roman in Briefen: Sieben Geschwister sollten in verschiedenen Sprachen miteinander korrespondieren: in zwei stilistischen Varianten des Deutschen, in gutem Deutsch der älteste Bruder, einem "frauenzimmerlichen" Stil mit kurzen Sätzen die Schwester, dann in förmlichem Latein und mit griechischen Nachschriften ein Theologe, ein in Hamburg tätiger Handelsgehilfe in Englisch, ein Musiker in Italienisch, ein weiterer Bruder in Französisch, und schließlich der Jüngste, weil für ihn nichts übrig blieb, in "Judendeutsch". Mit den verschiedenen Sprachen hatte Goethe die einzelnen Personen typisieren wollen. Aber wie hier deutlich wird, war Griechisch offenbar noch ein Aschenbrödel unter den vielen Sprachen, die im Kopf des jungen Goethe gegeneinander stießen. Durch Dr. Albrecht, von dem er Hebräisch lernte, ist er vielleicht mit den Werken Lukians in Berührung gekommen, wahrscheinlich die einzige Gelegenheit zu jener Zeit, um Griechisch lesen zu können. Doch wirkten die Namen von Orpheus und Hesiod auf den jungen Goethe (um 1764) ebenso mächtig wie die von Hiob und Salomo.
Zu Orpheus fühlte er sich schon als Knabe hingezogen. Die Welt "als der Gottheit lebendiges Kleid" ist eine orphische Konzeption (Faust). Goethe verehrte ferner Sokrates am meisten von allen griechischen Philosophen und zwar nicht so sehr wegen seiner Lehre, sondern wegen seines christengleichen Lebens und edlen Todes. Die Haltung der Stoiker bewunderte er. Er las Epiktet, Plotin und den Neuplatonismus. Als er fünfzehn war, hatte er noch kein Werk der griechischen Literatur gelesen, abgesehen von der Ilias in einer schlechten deutschen Übersetzung.
Leipzig (1765-1768)
Die Leipziger Jahre trugen ihm dann seine erste Bekanntschaft mit der plastischen Kunst des Altertums ein. Adam Friedrich Oeser, Freund und Lehrer des Archäologen Johann Joachim Winkelmanns, ermunterte ihn, Schüler in seiner Akademie zu werden. Das war Weihnachten 1765. Er regte ihn auch an, Winkelmanns Werke zu lesen.
Der stärkste Eindruck, den er von der antiken Welt mit sich nach Leipzig genommen hatte, waren die Mythen. Er zog sie zur Symbolisierung seiner eigenen Gefühle heran. Seine vergebliche Liebe zu Käthchen und die süßen, marternden Einbildungen, die sie entzündete, verglich er mit den Qualen des Tantalus. (In Prometheus). In “Dichtung und Wahrheit erzählt er von der Ehrfurcht, mit der über die Gedanken und die Abhandlungen Winkelmanns brütete und wie er sich abquälte, auch noch aus den rätselhaftesten Stellen einen Sinn herauszufinden. Er berichtet von der Hochstimmung, mit der Winkelmanns Ankunft in Leipzig im Sommer 1768 erwartet wurde und von der Bestürzung, die ihren kleinen Kreis befiel, als statt des angebeteten Meisters die Kunde von seinem tragischen und schrecklichen Tod eintraf. Winkelmann war nämlich am 8. Juni 1768 in Triest von einem Italiener namens Arcangeli erdolcht worden, der auf goldene Medaillen gierig war, die Winkelmann besaß.
- Vor Winkelmanns "Geschichte der Kunst des Altertums” im Jahr 1763 lag noch kein Buch vor, das einen genauen Bericht von der Entwicklung der antiken Kunst gab. 1755 erschienen Winkelmanns "Gedanken über die Nachahmung der Griechen in der Malerei und Bildhauerkunst". Sie wurden von der gebildeten Gesellschaft mit begeisterter Zustimmung begrüßt. Für Winkelmann war die griechische Kunst das absolute Ideal, dem sich anzunähern das Bestreben eines jeden Künstlers sein sollte. Winkelmann wurde über Nacht berühmt, die kultivierte Elite Deutschlands wartete begierig auf seine nächsten Botschaften aus Rom. -
Durch Winkelmann, der das Wesen griechischer Kunst als "eine edle Einfalt und eine stille Größe" umschrieben hatte, lernte Goethe ein Griechenland der Palaistra kennen, Palaistra war im antiken Griechenland ein architektonisch gestalteter, meist von Säulenhallen umgebener Platz für die sportliche Erziehung der Jugend. "Sämtliche Räume waren mit Kunstwerken aller Art ausgeschmückt, vor allem mit Standbildern von Göttern und Helden wie Hermes, Apollo und den Musen der schönen Leiber und der Sonne, wo der Geist des Philosophen und das Auge des Künstlers für den Anblick der Schönheit gebildet waren: ein Land, in dem ein freundliches Klima die gesamte Natur zur glücklichsten Entwicklung brachte, wo die Schönheit über alles hoch geachtet wurde und keine bürgerliche Steifheit den freien und ungezwungenen Ausdruck der jugendlichen Freuden hemmte.”
Im Brief an Friederike Oeser vom 11.Februar 1768 schreibt Goethe: "Unter Deutschlands Eichen wurden keine Nymphen geboren wie unter den Myrten im Tempel." Die Idee der "glücklichen Natur der Griechen” sei ihm klar gegenwärtig. In Leipzig las Goethe wahrscheinlich um 1766 Lessings "Laokoon" und erweiterte damit sein Bild von den Griechen auf entscheidende Weise. Wäre nicht Lessings "Laokoon" erschienen (1767), so wäre Goethe vielleicht bei der Winkelmannschen Vorstellung von Griechen stehen geblieben, in der ein kalter Stoizismus ihre Daseinsfreude überwog. Von Lessings "Laokoon" erfuhr er jedoch, dass die Griechen tiefe Gefühle besaßen und zu ihnen ein ebenso gesundes wie natürliches Verhältnis hatten wie zu allen anderen Gegenständen des Lebens. Gesund und natürlich war auch ihr Verhältnis zum Tod. Ihnen war er nicht das abschreckende Knochengerippe, sondern ein lieblicher Knabe, der Bruder des Schlafs.
Lessing hatte in "Laokoon" geschrieben: "Wut und Verzweiflung schändete keines ihrer Werke.” Goethe hingegen meinte, dass die Gestalten, auf die sich Lessing bezog, sehr wohl Zorn und Verzweiflung äußerten. "Sie scheuten nicht so sehr das Häßliche als das Falsche." Man müsse "die Fürtrefflichkeit der Alten in etwas anderes als in der Bildung der Schönheit" suchen.
Goethe wusste nun dreierlei, dass die Griechen das Leiden kannten, dass Aufrichtigkeit das erste Gesetz ihrer Kunst war, und dass sie sich deshalb nicht fürchteten, auch das schrecklichste Leiden sowohl in der Plastik als auch in der Dichtung darzustellen. Sie besaßen (ähnlich sah es Wieland) die höchste ästhetisch-moralische Qualität, die Sterblichen erreichbar ist. Durch Wielands "Grazien" (1769 erschienen) wurde der Dichter Wolfgang Goethe zu dem Glauben ermutigt, dass die gesamte ästhetische Sinnlichkeit aus dem Wesen griechischer Kunst stammt. Lessing hatte nämlich sein Gedankensystem auf die Laokoon-Plastik übertragen. Er hatte sie zwar nicht gesehen und kannte sie nur aus primitiven Abbildungen und erblickte gleichwohl mehr als die Augen der Ästhetiker. "Man muss Jüngling sein, um sich zu vergegenwärtigen, welche Wirkung Lessings Laokoon auf uns ausübte, indem dieses Werk uns aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hinriss", schrieb Goethe.
Nachdem Goethe Lessings "Laokoon" gelesen hatte, legte er dessen Erkenntnisse dem eigenen Werk und seinem von Winkelmann mitbestimmten Verständnis der antiken Kunst zugrunde. Die Ausgangsfrage allerdings, warum Laokoon nicht schreie, beantwortete Goethe in einem Brief an Oeser und in seinem Aufsatz "über Laokoon" 1798 in einer von Lessing abweichenden Art. In diesem Aufsatz berührte Goethe zum ersten Mal einen Punkt, der von grundlegender Bedeutung für ein angemessenes Verständnis seiner Ansicht über die Griechen ist. Er sagte dort, dass sich das Schönheitsgefühl des Künstlers in seiner höchsten Energie und Würde zeige, wenn es "die leidenschaftlichen Ausbrüche der menschlichen Natur in der Kunstnachahmung " zu mäßigen und zu bändigen versteht."
Im Oktober 1769 besuchte Goethe den Mannheimer Antikensaal, der damals berühmt war, denn nirgends sonst in Deutschland fanden sich so viele Gipsabgüsse antiker Plastiken. Hier sah er die ersten griechischen Statuen. In einem französisch geschriebenen Brief berichtete er Langer am 30.November von seinen Eindrücken. Auf die Laokoon-Gruppe, so in “Dichtung und Wahrheit”, sei seine größte Aufmerksamkeit gerichtet gewesen. Im Aufsatz “Laokoon” (1798) kam er auf die Frage, warum Laokoon nicht schreie, zurück. Er könne nicht schreien. Die kunstreiche Stellung des Hauptkörpers sei aus zwei Anlässen zusammengesetzt worden: aus dem Streben gegen die Schlangen und aus dem Fliehen vor dem augenblicklichen Biss. Um diesen Schmerz zu mildern, musste der Unterleib eingezogen und das Schreien unmöglich gemacht werden.
Rückkehr nach Frankfurt und Straßburg
Während der fünf Jahre, die zwischen Goethes Begegnung mit Herder und dem Aufbruch nach Weimar lagen, schritt er im Kennen und Verstehen der griechischen Kunst beträchtlich voran. Seine Gedanken und sein Denken wandte er den griechischen Dichtern und Denkern wieder zu, als er in Straßburg war, wohin er sich im April 1770 zur Fortsetzung seines Rechtsstudiums begeben hatte. Pindar verschlang Goethe mit krampfhaftem Enthusiasmus, in Euripides, Orpheus und Aischylos tauchte er förmlich unter, Homer war sein ständiger Begleiter Mit Ilias und der Odyssee war er gut bekannt. "Homer und Theokrit, Platon und Pindar sollten wie zum Ausgleich für die intensivere Hingabe an die eigene schöpferische Tätigkeit, nacheinander angepackt und bezwungen werden", schreibt Trevelan.
Besonders folgenreich war für Goethe die Begegnung mit Johann Gottfried Herder gewesen, den er später als Generalsuperintendenten nach Weimar holte und von dem er eine Fülle religiöser und theologischer Anregungen empfing. Das Griechenbild, das er sich in Leipzig und danach erworben hatte, erlitt die allergrößten Veränderungen durch Herder. "Ich habe hier meine griechische Weisheit so vermehrt, dass ich fast den Homer ohne Übersetzung lese."
Und Herder schrieb an Merck 1772: "Goethe fing Homer in Straßburg zu lesen an, und alle Helden wurden bei ihm so schön, groß und frei watende Störche.”
Zunächst erprobte Goethe seine neue Fertigkeit, griechisch zu lesen, an Platon und Xenophon, dann an Theokrit, Pindar und Sophokles. Dabei lernte er mehr durch Intuition als durch Grammatik.
"Götter; Helden und Wieland" (September 1773) enthält den ersten Beweis, dass Goethe ein griechisches Drama gelesen hatte. Doch bei griechischen Tragödien blieb er vielfach noch auf Übersetzungen angewiesen. Um Kenntnis und Verständnis griechischer Kunst zu gewinnen, hatte er soviel getan als überhaupt einer tun konnte, der nicht ausschließlich Archäologe war und in Deutschland lebte.
In Sokrates sah er einen heroischen Streiter für Wahrheit und Züchtiger des Irrtums, in Herkules den großen Lebensheld, den “Übermenschen" im Nietzschen Sinne, in Ganymed die Verkörperung der mystischen Ekstase, in Prometheus wiederum den Lebensspender und glich ihn durch seine Schöpfermacht den Göttern an. Die großen Dulder waren für Goethe Tantalus, Ixion und andere mehr.
Griechenland schenkte Goethe neun Gestalten, die er in seinem Werk auf unterschiedliche Weise verwertete: Ganymed, Herkules, Prometheus, Apollo, Bromius, Jupiter, Merkur, Venus und Minerva. Die erste dichterische Einführung griechischer Gestalten als Symbole geschah in "Wandrers Sturmlied" (Frühjahr 1772).
Jupiter Pluvius war für Goethe nicht nur der "Gott des Regens", sondern Symbol für alle Mächtigkeit und Energie des Gewitters, für die befruchtende Kraft, die sich im Regen wie im Genius, gleich dem Pindars, offenbart. Ganymed versinnbildlichte die mystische Fähigkeit, Herkules den "Sakermentskerl" und Prometheus den Künstler in seiner göttlichen Selbstgenügsamkeit. Alle waren Erscheinungsweisen der dämonischen Kraft des Genius. So konnte Goethe Erlebnisse, die ihm sein Dämon brachte, dichterisch darstellen und sich so von den verderblichen Folgen der Verbindung mit dem Dämon befreien. In erster Linie war dieses Bild ein Reflex des Sturms und Drangs in der eigenen Brust. Ja, er stand dem griechischen Genius niemals näher als in den sorglosen Tagen des Sturms und Drangs, die in Weimar endeten.
Zeit in Weimar
In Weimar (ab 1775) begann die Beschäftigung mit den alten Griechen mehr zu werden als ein bloßes Beruhigungsmittel. Die Rolle der griechischen Kultur beschäftigte Goethe im neuen Leben sowohl als persönliches wie auch als soziales Problem. Seine Erkenntnisse haben sich im "Triumph der Empfindsamkeit" (1777/78) sowie in dem Monodrama "Proserpina" niedergeschlagen.. In Weimar fand eine historische Rückbindung durch die Antike statt. Ihre Diesseitigkeit, ihre Einbeziehung des Göttlichen in Natur und Lebenswelt korrespondierte Goethes eigenen Überzeugungen. Antikes begann er nun, sich als zeitlos Vorbildliches anzueignen und von den Griechen zu träumen, als dem Volk, dem eine Vollkommenheit, die wir wünschen und nie erreichen, natürlich war.
Die antike Götterwelt wird nun Motiv zahlreicher Gedichte. Die alte Sehnsucht nach der südlichen Kultur, die wir im frostigen Norden nur durch die Dichter Griechenlands und Roms kennen, war jetzt in Goethe so groß wie nie zuvor, auch wenn er sich schon immer durch einige Anschauungen der Griechen hatte inspirieren lassen, um den Angriffen seines Dämons stand zu halten. Die Seiten des Griechentums, die Winkelmann hervorgehoben hatte, gewannen an Bedeutung. Auch von Herder hatte er gelernt, sich unter Griechenland das goldene Zeitalter, das unbeschwerte Leben des Tanzes und Gesanges, der Schönheit und unschuldigen Liebe vorzustellen. Er sah in den Griechen alles. wonach er sich sehnte. Griechenland war sein Ideal.
Ein fortgesetztes Studium griechischer Plastik half ihm, etwaige Zweifel an der Gültigkeit der sittlichen Botschaft Griechenlands zu beschwichtigen. Mitte Juli 1772 schrieb Goethe aus Wetzlar an Herder über den tiefen Eindruck, den das Studium der Griechen, vor allem Pindars, auf ihn gemacht habe. Selbstfindung und Selbstbestätigung zeichneten sich ab: "Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müsst' ichs sein." Homer, Xenophon, Platon, Anakreon und Pindar hatten ihn ganz mit Beschlag belegt.
Italien(1786)
Es muss eine tiefe, die ganze Existenz betreffende Krise gewesen sein, in die der fast Siebenunddreißigjährige geraten war und der er nicht anders zu begegnen wusste als durch zeitweilige Absonderung von seinem früheren Leben. Kein Wunder, dass er das italienische Ereignis mit großen Worten wie "Wiedergeburt" und "neues Leben" bedacht hat.
Als er seine Italienreise antrat, hatte er in einer Identitätskrise gesteckt. Er hatte nicht mehr gewusst, worin seine eigentliche Bestimmung lag. Er lebte nicht mehr in Übereinstimmung mit sich selbst. Er hatte unter den Bedingungen des Weimarer Staates in seiner amtlichen Tätigkeit nicht die Erfüllung gefunden, die er sich erhoffte. Er hatte Abstand gewinnen müssen.
"In Weimar hatte sein künstlerischer Genius nach Gegenständen geschmachtet, die seiner Kraft würdig waren. Er glaubte, dass er 'die große Welt' in Italien finden könnte”, und war geflohen.Die Italienische Reise diente mthin vorwiegend der Selbstfindung des Dichters in einer Lebens- und Schaffenskrise.
Aus der Kur in Karlsbad floh er im September 1786 nach Italien. Von Verona aus schreibt er über antike Grabreliefs: "Sie falten nicht die Hände zusammen, sie schauen nicht gen Himmel, sondern sie sind, was sie waren, sie stehen beisammen, nehmen Anteil aneinander, sie lieben sich." Gefaltete Hände, himmelwärts gerichtete Blicke, solch weltflüchtiger Unsinn war, nach Goethe, dem Denken der Alten fremd.
Rom erreichte Goethe am 29.Oktober 1786."In Rom habe ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden."(14.3.1788)
Goethes Aufenthalt in Italien ist vor allem durch die Begegnung mit der klassischen Antike gekennzeichnet. Dabei erweiterte er nicht nur sein literarisches Repertoire und die Gegenstände seiner Kunstbetrachtung. Auch seine Religionsauffassung vertiefte sich durch Einsichten in die antike Mythologie.
"Meine Übung, alle Dinge, wie sie sind, zu sehen, meine völlige Entäußerung von aller Prätention, kommen mir einmal wieder recht zustatten und machen im stillen höchst glücklich. Alle Tage ein neuer merkwürdiger Gegenstand, täglich frische, große seltsame Bilder und ein Ganzes, das man sich lange denkt und träumt, nie mit der Einbildungskraft erreicht."
Goethe beginnt mit der genauen Beobachtung verschiedener Bevölkerungsgruppen, ganz so, wie er es als Naturforscher gewohnt war, Gesteine und Pflanzen zu untersuchen. "Ich fing meine Beobachtungen bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da still stehend oder ruhend fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte."
Goethe schreibt, er habe sich "ganz hingegeben", und "je mehr ich mich selbst verleugnen muss, desto mehr freut es mich." Er sucht das fremdartige Leben aus den jeweiligen Bedingungen des Ortes zu verstehen. Der Dichter hat Zweck und Ziel der Bildungsreise so zusammengefasst: "Ich werde meinen Aufenthalt hier so zu nutzen suchen, dass ich mir und anderen zur Freude, bereichert zurückkehre."
In Neapel blieb er bis Ende März 1787. Hier fühlte er zum ersten Mal, was es bedeuten könnte, ein Südländer zu sein. Neapel erschien ihm wie ein Paradies, hier hatte er sich einem Stück Griechenland genähert. Mit dem Maler Kniep besuchte er Pästum. Von Neapel aus zog es ihn nach Sizilien. Hier fand er endlich, was er suchte, das echte unverfälschte Hellas, frei von nördlichen Nebeln, von römischer Gewöhnlichkeit und christlicher Weltflucht. "Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in meiner Seele: Hier ist der Schlüssel zu allem”, schwärmt Goethe in der "Italienischen Reise".
Goethe vermutete einmal sogar, dass die Odyssee in Sizilien verfasst worden sei. Sein Interesse für Brennpunkte der Geschichte war nicht historisch bedingt, es verlangte ihn nach einer tiefen geistigen Erfahrung. In Sizilien wollte er die von römischem Einfluss noch gänzlich unberührte Kultur sehen und das Land, auf dem diese erblüht war.
Am 2.April war er in Palermo angekommen. Die Seereise von Neapel nach Palermo führte ihn in die Welt des Odysseus hinein: Ein Sturm brach los, Homer hatte die Welt geschildert, die ihn umgab. Für Goethe hörte die "Odyssee" in diesem Augenblick auf, ein Gedicht zu sein, sie schien ihm die Natur selbst zu sein. Als er Sizilien verließ, war seine Sehnsucht gestillt.
Zurückgekehrt nach Rom malte und zeichnete er. In Italien ist er endlich wieder Künstler unter seinesgleichen, kein Geheimer Rath, kein Höfling, kein Ombudsmann, sondern ein Freigeist, der sich sogleich eine einheimische Mätresse zulegt. Denn allem Anschein nach hatte Goethe in Rom auch seine ersten sexuellen, erotischen Abenteuer erlebt.
Doch hatte er nur Augen für die griechische Antike gehabt, keinen Blick für die Kunst des Barock. Jetzt erst erschloss sich ihm das Wesen griechischer Kunst. Ihm ging es um die Kunst, die Natur und die "Sitten der Völker". Er begann, sich Antikes als zeitlos Vollkommenes anzueignen und von den Griechen zu träumen. Mit Hingebung wandte er sich in Italien dem Leben des einfachen Volkes zu.
Er war in Italien nicht nur Kunstbetrachter, er wollte die Zeit auch ernsthaft nutzen, um sich selbst als praktizierender Künstler und beschreibender Schriftsteller weiter auszubilden. Aber "täglich wird mir's deutlicher, dass ich eigentlich zur Dichtkunst geboren bin.” Auf das Ausüben der bildenden Kunst hat er dann bald verzichtet.
Herder teilte er auf der Rückreise aus Konstanz mit, dass er in Rom in seinem Leben "das erstemal unbedingt glücklich" gewesen sei (Juni 1788). "Ich war in Italien" an Jacobi am 21.7.1788, "sehr glücklich." Nur in Rom habe er empfunden. "was eigentlich ein Mensch sei", will Eckermann noch am 9.Oktober 1828 von ihm gehört haben.
Als er seinem Herzog bekannte, er habe sich "in dieser anderhalbjährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden" und zwar als Künstler (vor jedem steht ein Bild des das er werden soll ), zeigte dieses Geständnis vor allem den Willen, sich künftig auf das zu konzentrieren, was ihm gemäß schien, um produktiv zu sein.
Die Kunstwerke, die Abgüsse, die Inschriften, Steine, die Goethe in Rom einpacken ließ, verschönerten sein Haus in Weimar. Der Besucher am Frauenplan muss seither über das Wort SALVE eintreten. Das Klassische nannte er das Gesunde, das Romantische das Kranke.
Doch wurde Goethe nicht erst in Italien zum Klassizisten, zum Griechen. Mindestens seit 1779 war er vom Streben nach Wahrheit,, Klarheit, Einfachheit und Stille beseelt. Aber erst Italien gab ihm in Landschaft und Volkstum, in den Bauten der Römer und der Renaissance, in Plastik und Malerei den majestätischen Orchesterklang, während er bisher an einem Klavierauszug sich hatte genügen lassen müssen. Der Augenmensch Goethe hatte für sein Leben genug zu schauen. Jetzt ist ihm nicht das Einmalige und Individuelle wichtig, er preist von nun an das Allgemeine und Typische, er bemüht sich um Formung des Gedankens oder des Bildes nach dem Muster der Antike.
Warum nicht nach Griechenland?
Historisch interessierte den Weimarer Dichterfürsten Griechenland nicht, auch wusste er, dass sich alle noch erhaltenen Werke griechischer Bildhauerei in Italien befanden.
Rätselhaft bleibt, weshalb Goethe, wo er doch schon bis Süditalien vorgedrungen war, die Reise nach Griechenland nicht gewagt hatte. Ob er befürchtete, die Wirklichkeit könne vielleicht dem Traum von den Griechen und ihrer Kunst nicht standhalten? Offensichtlich war, als er Sizilien verließ, seine Sehnsucht gestillt. Er hatte gesehen und das Gesehene verstanden. Das Vertrauen erfüllte ihn, dass er nunmehr fähig sein würde, wie die Griechen zu schaffen.
Auch Winkelmann, Wilhelm Heinse, Schiller, Hölderlin, die Prediger des Griechentraums, haben das Land mit der verklärten Vergangenheit nie betreten.
Griechen halfen ihm, seine Aufgabe zu finden
Goethe bemühte sich von Jugend an, die Griechen kennen zu lernen, nicht weil er Gelehrsamkeit erwerben wollte, sondern weil er wusste, dass die Kenntnis der Griechen ihm helfen würde, seine große Aufgabe zu erfüllen. Die Griechen halfen dem Menschen Goethe, sein Leben zu bestehen. Denn für ihn war eine befriedigende, schöpferische Produktion ebenso lebensnotwendig wie die gewöhnliche Wirksamkeit der natürlichen Funktionen für durchschnittlichere Leute. Doch war ihm der Hang zur Griechentümmelei zuwider. Er hasste die seichte Begeisterung für alles Griechische.
Iphigenie
Das Drama “Iphigenie” ( die erste Fassung des Stücks Iphigenie entstand im Frühjahr 1779, am 6.April war Premiere mit Corona Schröter als Iphigenie und Goethe als Orest). Das Drama ist der dichterische Ausdruck seines Sieges über die Furien des Sturmes und Dranges. Gleichzeitig war es die Frucht eines neuen Verhältnisses zum Griechentum. Goethe sah dies in der Erfüllung von Iphigenies Sehnsucht, nach ihrem heimatlichen Hellas zurückzukehren.
“Das Land der Griechen mit der Seele suchen”, heißt es im Monolog.. Nach Vollendung der "Iphigenie" diente der Einfluss des Griechen:tums eine Zeitlang der Festigung des Seelenfriedens.
("Elpenor" (1781) sollte wie Iphigenie mit dem Sieg der neuen Sittlichkeit enden, ist aber missglückt.)
Homer
Homer gehörte für Goethe zu den großen produktiven Begegnungen wie Shakespeare. Den Stoff der "Ilias" lernte er schon als Knabe kennen. In Straßburg führte er die "Odyssee" bei sich ähnlich wie Werther. Auch in den ersten Weimarer Jahren war sie ihm eine “Seelenarznei” (an Ch.v.Stein 24,3,1776). Auf der italienischen Reise, in Sizilien, erscheinen ihm Licht, See und Inseln als homerische Welt. Im Gedankenaustausch mit Schiller untersucht er die homerischen Werke als Muster der epischen Gattung und versucht, aus ihnen Gesetze abzuleiten.
Homers Beschreibungen des Menschen in seinen einfachsten Beziehungen zur Natur übten auf Goethe eine besänftigende Wirkung aus. Außer Homer soll auch Aischylos einer seiner Lieblingsdichter gewesen sein.
Schon in den Tagen des Sturms und Drangs war der homerische Mensch für Goethe so etwas wie ein Urmensch gewesen. Die Erkenntnis der sizilianischen Reise und die neu gelesene Odyssee hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, dass die Griechen vollkommene Menschen gewesen seien, die in einer vollkommen natürlichen Umgebung lebten und dass er selbst in Zukunft sein eigenes Schaffen auf die gleichen Gesetze gründen müsse. Er fasste die Männer und Frauen Homers als "Urmenschen" auf.
Bei Homer glaubte er, den Menschen gefunden zu haben, wie Gott ihn ersann, der alle seine Möglichkeiten zur Vollendung brachte. Goethe orientierte seine Kunstauffassung an dem unvergleichlichen Vorbild Homers. Die kanonische Stellung des Homer und Sophokles konnte kaum fester begründet werden als durch Lessing, der Homers Gedichte als Muster hinstellte, von denen man nur zum Schaden der Kunstwirkung abweichen konnte.
"Hermann und Dorothea" erinnert in mancherlei Weise an Homer.
An Herder, der Homer ebenfalls sehr geschätzt hat, schreibt Goethe am 10.Juli 1772 aus Wetzlar: "Seit ich nichts von Euch gehört habe, sind die Griechen mein einzig Studium. Zuerst schränkt ich mich auf den Homer ein, dann um den Sokrates forscht ich in Xenophon und Plato, da gingen mir die Augen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich was an Pindar, wo ich noch hänge."
(Wer über Goethes Homer-Rezeption Genaueres wissen möchte, dem sei der Aufsatz “Immer anders. Goethes Homer” von Ulrike Landfester, erschienen in: “Homer und die deutsche Literatur”. edition text & kritik, München, Heinz Ludwig Arnold (Hg.) 2010 empfohlen.)
Rückkehr nach Weimar
Als der Dichter 1788 nach Weimar zurückkehrte, war er überzeugt, in Italien das Geheimnis der griechischen Überlegenheit in Kunst und Leben enträtselt zu haben. Mit der Rückkehr nach Weimar am 18.Juni 1788 war der von Geheimnis umwitterte Urlaub zu Ende, den sich der Geheime Rat v.Goethe, alias Philipp Müller, fast einunddreiviertel Jahre gegönnt hatte.
Die Vortrefflichkeit der griechischen Kunst beruhte für Goethe auf der Vortrefflichkeit der griechischen Lebensweise. Die "Römischen Elegien" und die "Venezianischen Epigramme" zeigen seinen neuen Stil im Sinne der "Alten". Nach der Rückkehr nach Weimar folgte für Goethe eine unproduktive Epoche von 1790 bis 1793. Er arbeitete an Reineke Fuchs, dessen Welt der Welt Homers nahe kam.
Im Sommer 1794 wurde Goethes Liebe zu Homer durch die Gegenwart des Dichtergelehrten und Übersetzers Johann Heinrich Voß in Weimar von neuem belebt. Der Sommer 1794 brachte ihm die Freundschaft mit Schiller. Dieser gab ihm das Vertrauen, dass es richtig sei, für Leben und Kunst griechische Maßstäbe zu gewinnen und damit die höchste Existenzform zu erreichen, derer der Mensch fähig ist.
Der Gedanke, die griechische Literatur durch Unterdrückung der eigenen Individualität nachzuschaffen, hatte sich jedoch als unausführbar dargestellt. Goethe musste einsehen um 1805, dass er Griechenland nicht wieder lebendig machen konnte. Er musste sich damit zufrieden geben, das Altertum als ein ewig Entferntes, ein Dahingegangenes und Niewiederkehrendes zu betrachten.
Er musste erkennen, dass er ein Moderner und ein Nordmensch war, und nahm sein Schicksal an. Griechenland war “nur” ein Erlebnis gewesen. Doch hatte dieses wie kein anderes seine Weltanschauung gewandelt und bewegt. Lange hatte ihm die deutsche Welt, vor allem um 1785, keinen Stoff für seinen künstlerischen Drang geboten. In Italien erst hatte er die Vision des Menschen gewonnen, vor allem durch die griechischen Statuen und durch Homer.
Wie uneingeschränkt Goethe das Griechentum als Grundlage aller wahren Kunst betrachtete, geht besonders aus seiner Feststellung hervor, dass Homer von jeher die reichste Stoffquelle für Künstler gewesen sei. Die christliche Tradition wird einfach übergangen.
Nachdem er alles aus dem antiken Griechenland gezogen hatte, begann sich sein Geist von dort abzuwenden. Er sah ein, dass seine Leidenschaft für Griechenland ihn für die echten Vorzüge anderer Lebensformen blind gemacht hatte. Aber durch all sein Streben hatte er die Idee des griechischen Menschen gewonnen, die in seiner Seele niemals verwelkte. Für ihn blieb nur die Lebensform gültig und möglich, welche die Griechen vertreten hatten. "Jeder sei auf seine Art ein Grieche! Aber er sei's."
Nun war auch seine Entwicklung beendet. Zwei Drittel seines Lebens waren vorüber. (Man schrieb das Jahr 1805.) Bis dahin hatte er alles, was nicht auf griechischen Maßstäben fußte, als wertlos oder als zweitrangig eingestuft. Jetzt war er bereit, die Welt ohne Leidenschaft oder Vorliebe zu betrachten und Gutes in jedem schöpferischen Einfall zu finden. Sein Interesse wurde allgemeiner. Alles, was sich in der Welt bewegte und regte, zog seine Aufmerksamkeit an. Er wurde duldsamer. Sein Blick hatte sich geweitet, befreit von der Tyrannei eines absoluten Maßstabes. Seine Liebe zum griechischen Wesen lief als eine Unterströmung seiner verstandesmäßigen Tätigkeit durch alle Jahre weiter bis zu seinem Tod.
1821 fing er ein neues Studium des Euripides an. Dieser wurde gegen Lebensende sogar sein Lieblingsautor. Noch drei Wochen vor seinem Tod verteidigte er Euripides mit kräftigen Worten gegen die Gelehrten. Griechenland blieb bis zum Schluss seine erste und einzige Liebe.
Seiner Ansicht nach, konnte die europäische Kultur nur dann voranschreiten, wenn sie sich auf die griechische Tradition gründete. Nach 1805 hatten sich Goethes Interessen so geweitet, dass sie alle bekannten Kulturen der Erde einschlossen: Nun wurde auch der Stil seines Schaffens umfassender. Das zeigt vor allem der zweite Teil des Faust in der Vermählung von Faust mit Helena. Helena ist das Sinnbild zwar nicht des gesamten griechischen Daseins, wohl aber seiner höchsten Leistung. Selbstkontrolle. Rohe Lebendigkeit, hatten die Griechen gelehrt, in Gestalt zu verwandeln, reiner Mensch und nicht halbes Tier, eben human zu sein So weit der moderne Mensch kultiviert war, hatte er dies den Griechen zu verdanken. Das ist in prosaischen Worten die Bedeutung der Helene-Episode im Faust. Die Griechen hatten als erste europäisches Leben gelebt.
Goethe selbst allerdings betrachtete die Griechen als den Idealtyp der gesamten, nicht nur der europäischen Menschheit. Um zu neuem Leben zu kommen, musste ein antikes Ideal erst durch das lebendige Medium eines modernen Geistes hindurchgehen. Goethe war dieses lebendige Medium; darin erkennen wir die Bedeutung und den Wert seiner Bindung an das Griechentum
Einwände
Goethe hat in einer Zeit gelebt, in der die unreflektierte, direkte Tradition der Antike abbrach, soweit sie im 18.Jahrhundert und in der Aufklärung noch vorhanden gewesen war. Mit Goethe bekommt ein Text seine Autorität nicht mehr, weil er sich etwa auf Horaz oder Homer beruft, sondern weil es einen Künstler gibt, der ihn aus innerer Natur schafft - auch wenn er dabei Inhalte und Bilder der Antike benutzt.
Goethes Uminterpretation der Antike, indem er den Künstler zum Helden macht und sich selbst mit Pindar oder Homer identifiziert, hat aber auch eine deutlich negative Seite, deren Schatten bis heute reichen: die Entpolitisierung der Kunst, das Verständnis der Kultur als harmonischer Zusammenhang und die Verdrängung der Notwendigkeit von Streitkultur. "Und das kommt aus der Zeit", so die These von Bernd Witte, "in der Goethe um 1770 bis 1790 die Antike neu interpretiert hat. Er hat das Bild der Antike benutzt, um die damaligen Auseinandersetzungen und Gegensätze zu neutralisieren", um zum Beispiel gegen die Französische Revolution ein gesellschaftliches Gegenbild aufzurichten.
Hinzu kommt, dass seit der deutschen Klassik die Meinung vorherrschte, Dichter und Künstler seien Bürger einer anderen Welt, hoch über den Niederungen der Politik angesiedelten Welt. Allerdings blieb diese Meinung nicht unangefochten und wurde keineswegs von allen geteilt. Doch der Streit, ob die Kunst autonom sein müsse oder politischen Zwecken zu dienen habe, entzündete sich namentlich an Goethe, obwohl dieser doch mindestens ein Jahrzehnt mehr praktischer Politiker als Dichter war, aber sich dann schließlich zu den großen politischen Bewegungen der Zeit, ob es die Französische Revolution oder die Befreiungskriege waren, distanziert verhielt, auch wenn er sie in seinem Werk vielfältig, aber eben nicht "parteilich" widerspiegelt. Literaten verschiedener politischer Couleur haben ihm, angefangen mit Börne und Heine, diese Haltung verübelt, und, wie Friedrich Nietzsche es nannte, "das feine Schweigen", das Tradition wurde und im "Dritten Reich" zum Wegsehen führte, zum Nicht-wissen-Wollen und schließlich zur stillschweigenden Komplizenschaft. Der amerikanische Historiker Fritz Stern machte Goethe in einem Artikel in der Tageszeitung "Die Welt" vom 28.12.1998 zum Ahnherrn des feinen Schweigens. Aber nicht alle Goethe-Kenner und Goethe-Liebhaber sind ihm hierin gefolgt. Max Weber,Friedrich Meinecke, Gustav Radbruch und Ernst Troeltsch, alle drei ausgewiesene Goethe-Kenner und Goethe-Verehrer, hatten durchaus den Mut, politische Wahrheiten offen auszusprechen.
Aber es gibt auch noch andere Einwände zu Goethes Rezeption der griechischen Antike.
In Faust II heißt es: “Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, die Gegenwart allein ist unser Glück.” Damit entspricht er dem Zeiterlebnis antiker Philosophen, insbesondere dem der Epikureer und Stoiker. Doch habe Goethe, meint der Philosoph und Religionswissenschaftler Pierre Hadot in der Beschreibung der antiken griechischen Seele die Griechen der Antike “etwas zu idealisiert und vereinfacht.”
Auch Nietzsche stellte fest, dass Goethe der antiken Realität nicht immer gerecht geworden sei, und wirft “Goethes konzilianter Natur Unverständnis gegenüber dem Phänomen des Tragischen” vor, “das letzten Endes mit einem mangelnden Verständnis des Dionysischen verschwistert gewesen sei”. Nietzsche stilisiere, so Hans-Gerd von Seggern in dem von Christian Niemeyer herausgegebenen “Nietzsche Lexikon”, Goethe mitunter zum Apolliniker, dem die Einsicht in das Untergründige der griechischen Seele abging. “Folglich verstand Goethe die Griechen nicht”, so Nietzsche in “Götzendämmerung”.
Nachtrag:
Kurz sei noch darauf hingewiesen, dass Goethes Vater, Johann Caspar Goethe, im Jahr 1740 eine Reise nach Italien unternommen hatte und Goethes Sohn August 1830 nach Italien gereist war und dort gestorben ist. Er liegt in Rom begraben. Ein schnörkelloser Stein mit einem Relief des Toten ist dort aufgerichtet. "Der Sohn Goethes, dem Vater vorauseilend", steht in Lateinisch darauf. Augusts Name wird nicht genannt.
Goethe selbst soll, obwohl er doch ein urbaner Europäer und Italien-Bewunderer war, im Alter eine unbändige Amerika-Sehnsucht entwickelt und die abendländische Tradition in mancher Hinsicht als belastend empfunden haben. Auch wenn er sich 1786 bei seinem Aufbruch nach Italien für eine klassische Bildungsreise und nicht für ein amerikanisches Lebensideal entschieden hatte, so schwärmt er doch in seinem Gedicht von 1827 von einem Amerika, das vom kulturellen Gedächtnis noch unbelastet ist.
“Amerika, du hast es besserAls unser Kontinent, der alte,
Hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun Eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.”
Der neue Kontinent und das alte Europa - diese Entgegensetzung, die in den weltpolitischen Hegemonialkonflikten des 21. Jahrhunderts wieder virulent geworden ist, wird in diesen Versen Goethes antizipiert. Fünf Jahre vor der Entstehung des Gedichts hatte Goethe notiert, dass jener "Weltteil glücklich zu preisen (sei), dass er vulkanische Wirkungen entbehrt, wodurch denn die Geologie der neuen Welt einen weit festeren Charakter zeigt als die der alten, wo nichts mehr auf festem Fuß zu stehen scheint". Das vulkanische Basaltgestein erschien ihm als Symbol solch negativ-eruptiver Kräfte.
Bibliographie:
- Gesammelte Werke von Johann Wolfgang von Goethe. Band 1-14. Hamburger Ausgabe. München 1998
- Goethe-Briefe Band 1-4. Stuttgart 1988
- Goethes Gespräche. München 1998
- Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Düsseldorf und Zürich 1994
- Wolfgang Drews: Gotthold Ephraim Lessing. Monographie. Reinbek bei Hamburg 1962
- J.P. Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg.Hellmuth Steger, Zürich 1969
- Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Berlin 1991
- Christian Niemeyer (Hrsg.): “Nietzsche Lexikon”. Darmstadt 2009
- Johann Prossliner: “Licht wird alles, was ich fasse”. Friedrich Nietzsche Lesen & Nachschlagen. Zitate. München 1999
- Hans-Joachim Simm (Hrsg.) Goethe und die Religion. Aus seinen Werken, Briefen, Tagebüchern und Gesprächen. Frankfurt/M.und Leipzig 2000
- Humphry Trevelan: Goethe und die Griechen. Hamburg 1949
- Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon, Stuttgart 1998
- Bernd Witte: Goethe. Das Individuum der modernen Schreiben. Würzburg 2007
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