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Die Juden und Goethe

Goethe und Juden, das ist ein Thema, das der Ergänzung durch die Gegenperspektive Juden und Goethe bedarf. Für Generationen von Juden, die in den deutschen Gesellschafts- und Bildungszusammenhang hineinzuwachsen versuchten, war gerade Goethe ein unausweichlicher Bezugspunkt der Orientierung.

Viele Juden, insbesondere deutsche, wurden von Goethe geprägt. Nicht wenige von ihnen haben ihn verehrt und ihre oft ergreifende Anhänglichkeit an ihn bekundet, vielleicht in der Hoffnung, über die Kunst den Weg zur von außen akzeptierten Integration und Assimilation zu finden. Aber kaum einer hat je über seine ambivalente Haltung zum Judentum Klage geführt, allenfalls bedauerten Juden, dass ausgerechnet der wirkungsmächtigste Repräsentant der deutschen Literatur- und Bildungstradition, der große Verkünder der klassischen Humantitätsidee "von den Juden..nicht viel gehalten" und über sie nicht nur positive Worte gefunden habe. Die Juden haben Schiller und Goethe wegen ihrer Lauheit, so Geiger, ihnen gegenüber nicht gezürnt, sondern haben, soweit sie sich als Deutsche fühlten, gehuldigt wie ihre Sprach- und Volksgenossen und sie als nationale und ideale Dichter gefeiert. Schiller waren die Juden, vor allem die Ostjuden, besonders zugeneigt, wegen seines Freiheitspathos, das viele Unfreie mitriß.

Juden, berühmte und unbekannte, haben als Redner, Biographen, als Übersetzer ins Hebräische, als Herausgeber und Verleger, Interpreten, Literaturwissenschaftler und Publizisten das Andenken Goethes und das Wissen um ihn gefördert. Selbstverständlich kann man die Geschichte der Goethe-Rezeption in Deutschland erzählen, ohne die auffallende Mitwirkung der Juden eigens zum Thema zu machen wie es Wolfgang Leppmann getan hat. Ist man aber einmal auf die jüdische Komponente aufmerksam geworden, kommt man nicht umhin, die hervorragende Rolle, die Juden darin gespielt haben, sowie die Gründe, warum sie es taten, zu untersuchen. Juden wirkten häufig  für die Verbreitung des Goetheschen Ruhms gegen noch bestehendes Unverständnis, gewiß nicht isoliert, aber doch mit erkennbar und interpretierbar eigentümlichem Engagement. Manchmal hatte dieses Werbende auch etwas Missionarische.

In derselben Epoche, in der Börne den reaktionären "Monarchen" Goethe voller Haß attackierte und Heine den Weimarer "Kunstgreis" ironisch kritisierte, brachte 1825 ein jüdischer Almanach die erste Übersetzung eines Goethe-Gedichts, "Schäfers Klagelied" ins Hebräische.

Auch waren die meisten der großen Werke Goethes bald Bildungsbesitz des assimilierten Judentums. Der Publizist Berthold Auerbach, der Literaturwissenschaftler Michael Bernay, der Leipziger Buchhändler und Verleger Salomon Hirzel, der jüdische Arzt und Philologe Max Morris,der Ordinarius Hermann Cohen warben um ein tieferes Verständnis Goethes und haben sich für ihn, jeder auf seine Weise in seinem Bereich eingesetzt. 1882 anläßlich der 50.Wiederkehr von Goethes Todestag hat der hessische Landesrabbiner Dr.Julius Landsberger den großen Sohn Frankfurts mit einem Festvortrag über Goethes Faust und das Buch Hiob geehrt.

Neben Geiger, Eduard Engel, Karl Heinemann, Georg Witkowski, Eugen Wolff und Richard Moritz Meyer haben Albert Bielschowsky, Georg Simmel und Friedrich Gundolf über Goethe geschrien. Man spricht sogar von einem faustischen Verhältnis zwischen Juden und Deutschen und sieht in Goethe den deutschen Dichter, der diese Grundspannung in sich, in seinem Leben, in seiner "Gestalt", als Heros "vorbildhaft","urbildhaft"ausgetragen hat, einer, der deshalb auch in einer späteren Bildungswelt, so Gundolf, gleichrangig an die Seite der frühen Nationalautoren wie Dante und Shakespeare treten darf.

Zweifellos haben die Biographien von Geiger bis Bielschowsky und Brandes, Simmel und Gundolf die immer lauter werdende These mit befördert, auch die Goetheforschung und Goethepflege als zentraler Bereich des deutschen Kulturlebens, sei mittlerweile vornehmlich in jüdischer Hand. Mit Walter Benjamin erwuchs hingegen der Gundolfschen Gegenwartsverachtung ein scharfer Kritiker. Auch die literatursoziologischen und psychoanalytischen Richtungen, die dann vorzudringen begannen, waren stark von jüdischen Autoren geprägt, erwähnt seien in diesem Zusammenhang vor allem die Autoren K.R.Eissler, Richard Friedenthal und Hans Mayer.

Auffallend früh meldeten sich jüdische Stimmen als jüdische zu Wort, wo es um Goethes Religiosität ging, um das Überkonfessionelle und um die in seinem Werken früh verankerte Beschäftigung mit den Büchern des Alten Testaments. Faust und Moses, Faust und Hiob, Goethe und das Alte Testament avancierten zu bevorzugten Themen jüdischer Autoren bis weit in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts hinein und die nicht nur Philologen aufgriffen.

Da der Zugang zu öffentlichen, auch akademischen Ämtern selbst getauften Juden oft noch erschwert wurde, bedeutete offensichtlich "dieses Sichwerfen auf das Populäre, nicht nur, aber besonders eindrücklich in der Goethepflege, erzwungenes Ausweichen, wie so oft in der Geschichte des Judentums, und zugleich ostentative nationale Pflichterfüllung", vermutet Wilfried Barner in seiner kleinen, aber gehaltvollen Schrift "Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf. Juden als deutsche Goethe-Verehrer".

Es gab aber auch zunehmend bis weit in die 20er Jahre hinein Kritik an Goethe und Goetherummel und Goethekult, bei Sternheim und später bei Tucholsky. Es regten sich Ressentiments gegen den Olympier, in der Linie von Börne vorgezeichnet,zum Teil auch sozialistisch-revolutionär zugespitzt wie bei Max Grunwald, Alfred Döblin oder Gustav Landauer. Doch in alledem sind spezifisch jüdische Sozialerfahrungen nur noch bedingt identifizierbar. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ist eine neue, widersprüchlichere Periode auch im Verhältnis jüdischer Intellektueller zu Goethe erreicht. Im Zeichen der bei vielen weit vorangetriebenen Assimilation, oft genug als Antwort auf verstärkten Antisemitismus, mischen sich die immer schwerer unterscheidbaren Motive und Tendenzen. Hatte Geiger als Goethe-Propagator noch in wichtigen Problempunkten bewußt und explizit seinen jüdischen Glaubenshintergrund durchscheinen lassen, so verschwindet dieser jetzt bei Bielschowsky bis zur Unkenntlichkeit.

Die bald fällige "antipositivistische"Gegenbewegung, das Beschwören der großen Gestalt Goethe jenseits aller Biographik und Werkanalysen, wird ebenfalls von jüdischen Autoren getragen. Georg Brandes, dänischer Jude, schrieb eine Goethe-Monographie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Für ihn war Goethe das "ideale Deutschland". Er zitierte gerne für sich Berthold Auerbachs Wort"goethereif". Für ihn war Goethe das Muster einer großen Persönlichkeit.

An Goethes Todestag 1932 fand in Köln im Haus des Rektors Coblentz vor Vertretern der Kölner Synagogengemeinde eine Goethefeier statt. Als im März 1932 schon unter den Warnzeichen des erstarkenden Antisemitismus und der nationalsozialistischen Machtübernahme, Kölner Juden das Gedenken Goethes mit Poesie und der "Kleinen Nachtmusik" begingen, da wurde denjenigen kein Gehör geschenkt, die mahnten, sich eher den Bedrohungen der Gegenwart zuzuwenden. Die Mahner behielten recht.

Es hat auch nach 1933 in Deutschland jüdische Goethe-Verehrung gegeben, privat, in Zirkeln und im "Kulturbund deutscher Juden", zunächst unter Julius Bab, der 1926 noch selbst eine große Studie über "Goethe und die Juden" veröffentlichte. Im Dritten Reich haben sich die deutschen Juden keineswegs unter dem Eindruck der NS-Politik von der deutschen Kultur abgewandt. Die Tätigkeit des jüdischen Kulturbundes beweist sogar,dass man an seinen "assimilatorischen"Bildungsgewohnheiten festhielt und dass man sich weder von Goethe noch von den anderen Klassikern trennen wollte.

Die Goethe-Verehrung scheint unter zeitgenössischen Juden noch immer ungebrochen zu sein. Zwei Beispiele mögen genügen: Frank Mecklenburg vom Leo Baeck-Institut New York ließ mich am 20.11.98 per E-Mail wissen:"Goethe war wahrscheinlich und ist noch unter deutschen Juden der beliebteste Schriftsteller und auch Philosoph." Für Marcel Reich-Ranicki gehört Goethe neben Thomas Mann und anderen Dichtern und Musikern mit zum portativen Vaterland, ein Ausdruck, den Heinrich Heine geprägt hat, um das Schicksal der Juden in der Diaspora auf den Begriff zu bringen.

Warum eigentlich dieses immer neue Bemühen gerade um Goethe, dieses insistente Werben? Hätte die Verehrung Lessings nicht näher gelegen? Goethe in seiner schwankenden, bisweilen verwirrenden Einschätzung und Behandlung der Juden zieht gerade dadurch an, dass er sich entzieht, zu Goethe bedurfte es im Gegensatz zu Schiller der Umwege. Diese reizten insbesondere Juden. Zudem hielten das Erschließen und Vermitteln konkrete historische Aufgaben bereit. Trotz aller seiner Schwächen und seiner ambivalenten Haltung Juden gegenüber, sahen viele Juden in ihm den Repräsentanten der Humanität und Garanten für den humanen Kern des Deutschtums. Kein anderer bot eine solche identifikatorische Vielfalt mit seinem Leben und seinem Werk wie gerade er.

Für nicht wenige deutschsprachige Juden war Goethe ein Anreiz zu Engagement, auch im Bereich der Wissenschaft. In den Bücherschränken der gebildeten deutschen Juden nahmen seine Werke fast überall einen Ehrenplatz ein und wurden nicht selten auch bibliophil gepflegt. Mit manchen, die sich vor der Nazibarbarei retten konnten, gelangten solche kostbaren Besitztümer auch nach Israel. In der Jüdischen National- und Universitäts-Bibliothek in Jerusalem nahm man das Goethejahr 1982 zum Anlaß, das Bezeichnendste und Anschaubarste über Goethe, aus seinem Werk und Leben zu präsentierten. Es war wohl die erste Ausstellung eines nichtjüdischen deutschen Autors in der Geschichte dieser Bibliothek. Unter den nicht selten plötzlich durchbrechenden Bekenntnissen waren Sätze wie "Goethe hat auch an meinem Israel mitgebaut" zu hören. Der Weimarer Museumsdirektor Rolf Bothe berichtet allerdings von einer anderen Erfahrung in Israel. Als Israelis hörten, dass er aus Weimar kommt, meinten einige: "Weimar - das sei doch eine kleine Stadt in der Nähe von Buchenwald."


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