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Studienjahre in Leipzig und Rückkehr nach Frankfurt
Im Oktober 1765 ging Goethe zum Studium nach Leipzig. Doch die konventionelle Kirchenfrömmigkeit seines Vaters, die von Abwegigem nicht ganz freie innerliche Religion der Mutter und der orthodoxe protestantische Religionsunterricht der Aufklärungszeit waren als frühe Einflüsse nicht stark und nachhaltig genug, um Zweifel an der Bibelwahrheit und an dem durch Sekten und Konventikel verwischten Kirchenchristentum zu beseitigen und das anerzogene Christentum vor der allgemeinen Skepsis zu bewahren, die Goethe in Leipzig ergriff, einer Stadt, die sich gegenüber dem engen und provinziellen Frankfurt als Zentrum der deutschen Aufklärung und des Rokoko durch weltläufige Eleganz auszeichnete. Goethe, der in den Leipziger Jahren auf der Suche nach Orientierung blieb, hörte Vorlesungen aus vielen Fachgebieten, so auch aus der Philosophie und Theologie. Mit Freunden führte er Gespräche über Fragen der Ästhetik, der Gesellschaft, der Psychologie und der Religion. Besonders die pietistischen Thesen, die der angehende Theologe Ernst Theodor Langer in manchen nächtlichen Zusammenkünften vortrug, bei denen eifrig über Bibel und Christentum diskutiert wurde, wirkten über viele Jahre noch in Goethe nach.
Obgleich Langer "Gelehrter und vorzüglicher Bücherkenner war", schrieb Goethe im 8.Buch seiner Lebenserinnerung, "so mochte er doch der Bibel vor anderen überlieferten Schriften einen besonderen Vorzug gönnen und sie als ein Dokument ansehen, woraus wir allein unsern sittlichen und geistigen Stammbaum dartun können." ("Dichtung und Wahrheit", 8.Buch S.334)
Eines Nachts bricht Goethe mit einem Blutsturz zusammen. Langer, der mit Goethe auf dem gleichen Flut wohnt, nimmt sich seiner an. Nach der Rückkehr des an Körper und Seele Leidenden nach Frankfurt 1768 - Goethe war "gleichsam als ein Schiffbrüchiger" in das Elternhaus zurückgekommen und befand sich weiterhin auf der Suche nach umfassenden Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Daseins - intensivierte er seinen Kontakt mit der Pietistin Susanna Katharina von Klettenberg, die in ihm ein "nach einem unbekannten Heile strebendes Wesen" entdeckte.
Bei Frau von Klettenberg traf man sich in einem mit Blumen geschmückten Raum, in dem auch ein kaltes Buffet aufgebaut war, zu Andachten und religiöser Musik. Am Flügel wurde musiziert, vor allem Choräle aus dem Herrnhuter Gesangbuch. Goethe selbst trug erbauliche Sprüche bei, entzündete die Kerzen, und erging sich mit den anderen in biblischen Betrachtungen.
Mit dem Legationsrat J.F.Morgenstern, einem befreundeten Frankfurter Pietisten, nahm Goethe 1769 an der Herrnhuter Synode in Marienborn in der Wetterau teil und wäre dort - wie er später äußerte - "beinahe zum Anhänger geworden". Es war eine Zeit, "die so aufklärerisch wie okkult, so experimentierfreudig wie konservativ war".
So flüchtete er sich in der durch die Krankheit bewirkten Glaubenskrise, die ihn an das Wohlwollen Gottes oder der Götter sich gegenüber zweifeln ließ, in die Glaubensgemeinschaft der Pietisten und zeigte sich anfangs durchaus empfänglich für pietistische Frömmigkeit, wie er sie im Umgang mit der "schönen Seele" Susanna von Klettenberg (deren "Bekenntnisse" man in Wilhelm Meisters Lehrjahre 6.Buch eingeschaltet findet) und ihrem Kreise erfuhr.
Man las daneben auch "mystische, chemisch-alchimistische Bücher" der Neuplatonischen Schule, um die "Geheimnisse der Natur im Zusammenhang" kennen zu lernen. Zu jener Zeit ist Goethe vielen Menschen begegnet, die von pietistischer Frömmigkeit erfüllt waren, wie etwa dem Arzt Johann Friedrich Metz, der ihn zusammen mit Susanna Katharina von Klettenberg in die Geheimnisse der Alchemie einführte, die bei den radikalen Pietisten eine recht verbreitete Rolle spielte. Von großem Einfluss war sodann Gottfried Arnolds Kirchen-und Ketzer-Geschichte, deren geschichtsspekulative Lehren Goethes weitere Religionsentwicklung nachhaltig bestimmten und vielfach in seinem Werk aufzuspüren sind, vom Werther bis zur Farbenlehre.
Erst im Jahre 1922 tauchten in Wolfenbüttel, wo Langer als Bibliothekar gewirkt hatte, Briefe auf, die Goethe unmittelbar nach seiner Rückkehr an Langer gerichtet hatte. Sie erweisen seine tiefe geistliche Bewegung. Er spricht von seinem Ernst, "die Winke der Gnade begierig aufzunehmen", und gesteht sogar: "Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind. Da kriegt er mich bey den Haaren..ich halte den Glauben an die göttliche Liebe, die unter dem Namen Jesus Christus eine kleine Zeit dahinzog, für den einzigen Grund meiner Seligkeit."
Auch dem Kreis der Empfindsamen in Darmstadt, der sich "Gemeinschaft der Heiligen" nannte, schloss sich Goethe für kurze Zeit an. Zu ihm gehörten Herders Verlobte Caroline Flachsland, Friedrich Karl von Moser sowie Kriegsrat Johann Heinrich Merck, mit dem sich Goethe befreundete und der sein wichtigster Berater in den nächsten Jahren werden sollte. Goethe, der in diesem Kreis wegen seines Umherschweifens in der Gegend zwischen Frankfurt, Darmstadt und Homburg den Namen "Der Wanderer" erhalten hatte, (Wandern als suchendes Unterwegseins zur Selbstverwirklichung, das Motiv des Wanderns zieht sich auch durch Goethes Werk mit unterschiedlichen Nuancen) weilte in den Jahren 1772 und 1773 oft und lange in dem Kreis, las hier seine Arbeiten vor und empfing mannigfaltige Aufmunterungen und Anregungen. Auch hierüber berichtet Goethe in "Dichtung und Wahrheit" .
Die pietistische Phase fand in Goethes späterem Leben allerdings keine Fortsetzung, im Gegenteil. Goethe fühlte sich auf die Dauer zunehmend abgestoßen von Heuchelei, Schwärmertum und der Weltabkehr der "Stillen im Lande, wie sie halb im Scherz, halb im Ernst genannt wurden, jener frommen Seelen, welche ohne sich zu irgend einer Gesellschaft zu bekennen, eine unsichtbare Kirche bildeten." Zu guter Letzt hatte auch der pietistische Privatmythos sich seinem Selbstverständnis und seiner Auffassung von Kunst unterzuordnen. Denn auf die Dauer konnte die sektiererische Enge, die der Welt des Künstlers keinen Raum gab, einen Dichter wie Goethe, für den gerade das Schöne das Göttliche ausdrückte, nicht zufrieden stellen. Seinen Widerspruch erregte auch diesmal die übertreibende Lehre von der völligen Verderbnis der menschlichen Natur durch die Sünde, die ihn schon dem orthodoxen Protestantismus entfremdet hatte. Daher trennte sich Goethe, der in der pietistischen Szene ohnehin als unverbesserliches Weltkind angesehen wurde, wieder von diesem Kreis.
Gleichwohl war für den späteren Dichterfürsten der Pietismus ein anregendes Erlebnis seiner Jugend gewesen, das er in seinem Gedächtnis bis in sein hohes Alters bewahrte. Als er 81jährig Anfang Mai 1830 Karl August Varnhagen von Enses Biographie über den Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf las, fühlte er sich sogleich lebhaft an seine Kindheit und Jugend erinnert, in denen christliches Leben und herrnhutische Frömmigkeit ihn eine Zeitlang gefesselt hatten, und er notierte in sein Tagebuch: "Mir besonders willkommen, da es mir die Träume und Legenden meiner Jugend wieder vorführt und auffrischt."
Tatsächlich lassen sich, ob in "Wanderers Sturmlied", in "Pater Brey", im "Ewigen Juden", in "Wilhelm Meister" (hier entfaltet Goethe sein Religionsverständnisses in dem Kapitel über die Pädagogische Provinz) oder im "Werther"- überall Spuren seiner Auseinandersetzung mit der pietistischen Glaubensrichtung erkennen, die Religion, Mystik und Alchemie zu integrieren versprach. Was gerade den jungen Dichter zunächst angezogen, hatte, das waren die kühnen Sprachschöpfungen, die Eigenständigkeit des schöpferischen Subjekts und die Religion als Herzenssache gewesen.
Die Frankfurter Rekonvaleszenzzeit hatte den Geschwächten also nur vorübergehend einem schlichten Gottvertrauen und einem mit Aberglauben und Mystizismus vermengten Pietismus zugänglich gemacht, den er dann trotz der zunehmenden Einflüsse Klopstocks, Herders und Lavaters in Straßburg gegen Ende seiner Straßburger Zeit zugunsten einer kirchlichen natürlichen "Urreligion" ablegt. Diese und der Spinozismus stehen von da an seinem Denken näher als die gleichgültig betrachtete und nie intensiver durchdachte christliche Glaubenslehre mit ihren Vorstellungen von Erbsünde und Erlösung und dem für ihn unannehmbaren Ausschließlichkeitsanspruch der Kirche.
Bewusst bildete Goethe sich nun mehr und mehr seine "eigene Religion", dem der neue Platonismus zu Grunde lag. "Das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah."("Dichtung Wahrheit", 8.Buch S.350) Mehr und mehr fühlte er sich vom Neuplatonismus Plotins angezogen, der lehrte, dass sich die Seele des Menschen durch Ekstase und mystische Vision mit dem Ursprung, mit dem Allwesen wiedervereinigen könne.
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