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Beschreibungen des Ostjudentums

Im slawischen Osten empfahl Rabbi Nachman von Bratzlaw seinen chassidischen Anhängern, täglich eine Stunden jiddisch zu beten, weil es für sie zu schwer sei, in der hebräischen Sprache alles auszudrücken, was das Herz bedrückt.

Solomon Zainwil Rappoport (1863 in Witebsk -1920 Warschau), bekannt geworden unter dem Pseudonym S.An-Ski, verfasste das jiddische Gedicht "Die Shvueh"(Der Schwur), das später zur Hymne der jüdischen Arbeiterpartei "Der Bund" wurde. Anfangs schrieb er in russischer, später in jiddischer Sprache und veröffentlichte Erzählungen, Romane, Dramen und Folklore-Sammlungen. Sein bekanntestes Werk ist das durch chassidische Mentalität angeregte Drama "Der Dibbuk" (1920) mit symbolischem und mystischem Charakter. Es gehört heute noch zu den am meisten gespielten Bühnenstücken der jüdischen Schauspieltruppen in aller Welt. Vor allem aber widmete S.An-Ski sich der Aufgabe, das jüdische Erbe vergangener Generationen zu bewahren. Er besuchte über siebzig Schtetl, insbesondere in der Ukraine, und sammelte Dokumente, Alltagsgegenstände, religiöse Objekte, Schmuck, Kleidung, Musikinstrumente, Märchen und Gleichnisse, Sprichwörter und Zaubersprüche. Er zeichnete Melodien und Volkslieder auf und fotografierte das reiche Leben der Menschen, die in kargen Verhältnissen lebten.

Auch die Fotografien von Roman Vishniac (geboren 1897 in Petersburg, gestorben 1990 in New York) zeigen das Ostjudentum, als es trotz Dezimierung durch Pogrome und als es trotz der vielen Auswanderer, die irgendwo in der Welt, am liebsten im gelobten Land Amerika, ihr Glück suchten, noch intakte Lebens- und Glaubensgemeinschaften bildete. Vishniac reiste zwischen 1932 und 1939 mit einem lettischen Pass ins ehemalige Galizien, in die Tschechoslowakei, in die Karpaten, ins frühere Ruthenien und hielt bei seinen Streifzügen durch die Schtetl mit der Kamera eine Welt fest, die dem Untergang geweiht war, ohne es zu ahnen.

Roman Vishniac war nicht der einzige Intellektuelle seiner Zeit, der ein reges Interesse am Ostjudentum bekundete. Während die politische und soziale Strategie der Juden in Westeuropa seit dem 18.Jahrhundert fast auschließlich auf Assimilation ausgerichtet war, entdeckten deutsche Intellektuelle durch ihre Teilnahme am Ersten Weltkrieg in Polen, Russland, auf dem Balkan Gemeinwesen von fast mittelalterlicher Abgeschiedenheit , in denen noch Gottesfurcht regierte und die von der Wohltätigkeit ihrer besser gestellten Mitglieder unterhalten wurden. Sie stießen auf eine Gesellschaft von Rebben, Thoraschreibern, Gebetmäntelherstellern, Wachslichterziehern, rituellen Schlächtern, träumerischen Chassidim, kleinen Händlern und Bettlern, wie sie in einem Schtetl üblich waren.

Arnold Zweig hat im "Ostjüdischen Antlitz" (1920) diese Welt mit fast religiöser Inbrunst beschrieben. Joseph Roths Faszination in "Juden auf Wanderschaft" (1927) ist dagegen differenzierter, gebrochener, gemischt mit dem Schrecken des Abgelebten. Sein "Hiob" liest sich ebenfalls wie ein Nekrolog auf das Ostjudentum. Martin Buber wiederum versuchte, die Mythen des Chassidim zu retten, die Jahre zuvor Marc Chagall in sanften Farben gemalt hat.

Lange nach der Shoah lässt der 1922 in einer jüdischen Familie im bulgarischen Plowdiw geborene Angel Wagenstein in seiner Geschichte "Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks" den in die Jahre gekommenen Isaak Jakob Blumenfeld Revue über sein Leben passieren, wobei auch die untergegangene Welt des osteuropäischen Judentums lebendig wird mit dem Sprachengemisch Jiddisch, Polnisch, Russisch, Deutsch und Ungarisch, mit vielen zwischen Lachen und Weinen angesiedelten Geschichten. Gott habe den Sand unseres Lebens bis auf das letzte Sandkörnchen bemessen, doch eine leichtfertig vergebene Sekunde Liebe versinkt unwiederbringlich in die Ewigkeit. Die Gemetzel unseres Jahrhunderts vermag der arme kleine Schneider Blumenfeld indessen einfach nicht zu verstehen, und "wenn Gott Fenster hätte", meint er, "hätte man ihm schon längst die Scheiben eingeschlagen!"


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