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Neubeginn nach 1945
Heute existiert in Hessen,insbesondere in Frankfurt, ein anderes Judentum als vor dem Krieg. Denn nur wenige Juden sind nach der Shoah in ihre hessische Heimat zurückgekehrt. Wer von den Immigranten nach Deutschland zurückkam, tat es aus eigenem Antrieb. Kaum eine Stadt, nicht einmal die Bundesregierung dachte daran, die Exilanten um Rückkehr zu bitten. Eine Ausnahme bildete die Stadt Frankfurt, die 1948/49 die beiden Professoren Max Horkheimer und Theodor W.Adorno zurückrief, die dann gemeinsam das Institut für Sozialforschung wieder aufbauten und leiteten. An Stelle der ehemaligen deutschen Juden kamen die meisten Juden aus Osteuropa. Am 1.Oktober 1947 zählte man in Hessen 1294 Juden. Durch den Zuzug der sogenannten Displaced Persons war die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in zahlreichen Städten, vor allem im nordhessischen Raum, in den Jahren 1946-1948 weit höher als in den späteren Jahren. Manche jüdische Gemeinde wie die in Eschwege, Hofgeismar und Bad Wildungen ist wenig später, nachdem die DPs ausgewandert waren, wieder eingegangen. 1950 hatte Hessen 14 jüdische Gemeinden, 1983 nur noch elf.
Bei der Wiederherstellung jüdischer Gebäude und Einrichtungen leistete die amerikanische Besatzungsmacht oft tatkräftige Hilfe. Die ersten Synagogen konnten schon im Jahr 1945 in Bad Nauheim und in Frankfurt(Westend)eingerichtet werden.
Die Teilnehmer des ersten jüdischen Gottesdienstes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Synagoge von Bad Nauheim waren fast ausnahmslos amerikanische Soldaten. Für die Bewohner der nahe gelegenen DP-Lager wurden vorübergehend auch die Synagogen in Wetzlar (1945) und Dieburg (1947) wiederhergestellt. In Darmstadt entstand eine eigene jüdische Fachschule, um jüdischen Jugendlichen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen, und im Schloss von Rauischholzhausen unweit Marburg eine Landwirtschaftsschule, in der junge Juden auf den Siedlerberuf in Palästina vorbereitet wurden.
Die Neugeburt der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, die sich im Januar 1947 konstituierte, war anfangs mit Schwierigkeiten verbunden. Hierzu trug auch das gespaltene Selbstverständnis der Gemeindemitglieder bei. Viele lebten in ihrer ostjüdischen Tradition und konnten nur mühsam einen Einklang zwischen ihrem Wohnort und dem Begriff Heimat herstellen. So blieb die Jüdische Gemeinde in den ersten Jahren in einer freiwilligen Isolation. Das Provisorium jüdischer Existenz im Nachkriegs-Deutschland hielt noch an, als in der 50er und 60er Jahren die jüdischen Gemeinden Deutschlands langsam wuchsen. Nur wenige Juden suchten den Kontakt
und den Dialog mit der nichtjüdischen Bevölkerung. Die meisten waren voller Misstrauen gegenüber ihrer Umwelt. Doch der Prozess der Anpassung und Integration war auf Dauer nicht aufzuhalten, zumal das stürmische Prosperieren der Handelsmetropole Frankfurt die Jüdische Gemeinde stark anwachsen ließ, die alsbald ein eigenes kulturell-geistiges Profil gewann. Hinzu kam, dass die Kinder der Holocaust-Generation, die in der Bundesrepublik aufwuchsen und sich durchaus als Teil dieser Gesellschaft fühlen, den Dialog suchten und sich politisch engagierten.
Die Jüdische Gemeinde Frankfurt, bei weitem die größte in Hessen, war von Anfang an die Gemeinde mit dem jüngsten Durchschnittsalter in Deutschland. Fast vierzig Prozent ihrer Mitglieder wurde nach dem Krieg geboren, etwa die Hälfte davon gehört der dritten Generation an, so dass die Struktur der Jüdischen Gemeinde Frankfurts schon vor der Einwanderung russischer Juden keineswegs durch Überalterung und Nachwuchssorgen gekennzeichnet war.
Offiziell endete der anfänglich provisorische Zustand hier 1986 mit der Eröffnung des neuen Jüdischen Gemeindezentrums in der Savignystraße. Die partielle Rekonstruktion der Westend-Synagoge bedeutete ein Anknüpfen an die Vergangenheit der vormaligen Israelitischen Gemeinde und ein weiteres Bekenntnis zur Zukunft der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt.
Längst ist das Gemeindezentrum zu einem Brennpunkt des Kulturlebens der Mainmetropole geworden. Am 9.November 1988 kam ein weiterer kultureller Brennpunkt hinzu: das Jüdische Museum im ehemaligen Rothschild-Palais. Seit 1986 finden alljährlich im Herbst jüdische Kulturwochen statt, die zu einem besseren Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden beitragen und zugleich zeigen, dass die jüdische Kultur mittlerweile wieder ein Bestandteil der Kultur in Deutschland geworden ist. Frankfurt hat auch erneut eine jüdische Grundschule, die Lichtigfeldschule .Es ist die dritte der vier jüdischen Schulen in Deutschland nach Berlin und München und vor Düsseldorf. Der jüdische Kindergarten im Frankfurter Westend, in dem Kinder aus Russland, Amerika, Polen, Ungarn und Rumänien spielerisch miteinander Hebräisch und liturgische Inhalte lernen, gilt als multikulturelles Paradebeispiel. Außerdem verfügt die Frankfurter Jüdische Gemeinde über ein weit gespanntes Netz von Einrichtungen, die nicht nur dem religiösen Leben, sondern auch gesellschaftlichen und sozialen Bedürfnissen dienen wie das jüdische Jugendzentrum und die Theatergruppe Haskala. Die Bundeszentrale der zionistischen Jugend ist mit einer Bildungsstätte hier ebenso vertreten wie die Zentrale des Verbandes jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, eine jüdische Studentengruppe und seit 1965 auch ein jüdischer Sportverein.
Natürlich klingt das Trauma der Shoa bei nicht wenigen Juden bis in die dritte und vierte Generation hinein noch nach, da häufig Eltern und Großeltern ihre nicht verarbeiteten Ängste unausgesprochen weitergeben. Eine eigene Erziehungsberatungsstelle mit psychologischer Betreuung steht diesen Menschen zur Verfügung. Auch kommen täglich neue Probleme auf die Gemeinde zu, vor allem seit dem Zuzug von mehr als tausend russischen Juden in den letzten Jahren, die aber nicht nur Belastung und Arbeit bedeuten, sondern auch geistige Verstärkung, deutlich an Veranstaltungen zu erkennen, die von den neuen Mitglieder mit klassischen Konzerten, Ausstellungen und Lesungen bestritten werden.
Ferner sollte nicht übersehen werden, dass einzelne Frankfurter Juden bemerkenswerte Beiträge zum politischen und geistigen Leben der Bundesrepublik nach 1945 geleistet haben: der frühere Vorsitzende des deutschen Gewerkschaftsbundes Ludwig Rosenberg und das IG-Metall-Vorstandsmitglied Moneta, und junge jüdische Intellektuelle wie Dan Diner, Micha Brummi, Michel Friedman, Daniel Cobh-Bendix, die sich politisch engagieren und verschiedenen Parteien angehören oder nahe stehen. Bedeutsam für das kulturelle Leben war auch die Rückkehr des S.Fischer-Verlages nach Frankfurt. Die Frankfurter Juden haben häufig schon Zivilcourage bewiesen und ihre Stimme erhoben, wenn sie sich provoziert fühlten. Etwa durch Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod". Als dieses von nicht wenigen Menschen zu Recht als antisemitisch empfundenes Theaterstück in Frankfurt aufgeführt werden sollte, stürmten Juden aller Altergruppen auf die Bühne und verhinderten die Vorstellung.
Die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Hessen nach Frankfurt existiert in Offenbach. Offenbachs ehemalige Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 geplündert, aber nicht zerstört worden ist, wurde im Frühjahr 1995 zu einem Musicaltheater umgebaut - zum Unbehagen nicht nur vieler Juden. Seit November 1997 hat die Offenbacher Gemeinde, die von 20 auf 900 Mitglieder angewachsen ist, auch wieder eine neue Synagoge mit einem großen Gemeindezentrum. In Wiesbaden zählt die Gemeinde gegenwärtig rund 550 Mitglieder, darunter 370 Übersiedler aus Russland. In Kassel ist die Gemeinde von 70 auf über 800 Mitglieder angestiegen und ist, neben der von Offenbach und Wiesbaden, eine der regsten im hessischen Landesverband.
Bemerkenswert ist ferner das Schicksal der heutigen Synagoge in Gießen. Ursprünglich stand sie seit Mitte des 19.Jahrhunderts in dem Dörfchen woher im Marburger Land. Dort wurde sie im Frühjahr 1992 behutsam abgetragen, restauriert und in Gießen wieder aufgebaut, als "lebendiges Denkmal für das Landjudentum und eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart." Sie bietet sechzig Menschen Raum und ist das Herzstück des neuen jüdischen Gemeindezentrums. In Darmstadt zeichnet sich das dort ansässige Judentum ebenfalls durch ein ausgeprägtes religiöses und kulturelles Gemeindeleben aus und leistet hervoragende Arbeit, um die große Zahl von Einwanderern aus fünfzehn verschiedenen Ländern zu integrieren. Längst ist die Gemeinde mit ihrem kleinen Museum, das sich eines regen Zuspruchs erfreut, zu einem wichtigen kulturellen Faktor in der Stadt geworden. Das kann man auch von der Jüdischen Gemeinde in Bad Nauheim sagen, deren Mitgliederzahl sich von achtzig seit 1991 verdreifacht hat. Schon 1950 war hier wieder ein jüdisches Erholungsheim eröffnet worden. 1980 folgte das Grand Hotel Accademia, ein 100-Betten-Hotel, das mit seinen Sport-und Badeeinrichtungen sowie der koscheren Küche speziell auf jüdische Kurgäste eingerichtet war, aber seit mehr als zehn Jahren nicht mehr existiert. In Fulda und Marburg bestanden die nach 1945 neugegründeten Jüdischen Gemeinden bis zum Zeitpunkt der russischen Einwanderer nur auf dem Papier. Das ist jetzt anders geworden. Auch hier bemüht man sich, zusammen mit dem Landesverband, die Zuwanderer einzugliedern. Das gelingt ihnen oft schneller und besser als nichtjüdischen Institutionen, da jüdische Gemeinden von jeher multikulturell ausgerichtet waren und ihnen Berührungsängste fremd sind. Sorgen bereitet überall die Finanzierung, da der Staat trotz vielversprechender Feiertagsreden seiner Politiker nicht ausreichende Geldmittel zur Verfügung stellt. Eine weitere traurige Bilanz aus den letzten fünfzig Jahren darf nicht verschwiegen werden: Als der Krieg zu Ende war, gab es in Hessen noch 245 Synagogen. Statt alle zu erhalten, wurden sechzig Prozent von ihnen nach 1945 durch Abbruch oder Umbau noch zerstört.
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