Juden in Hessen
Geschichte und Gegenwart
Im Jahr 1925 beherbergte Frankfurt am Main mit knapp 30.000 jüdischen Einwohnern, nach Berlin, die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Aber nicht nur das, durch das politische Gewicht dieser Gemeinde und den Ruf seiner Rabbiner, deren Entscheidungen überall in Europa respektiert und als bindend angesehen wurden, war die Mainmetropole jahrhundertelang ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens. Seine innerreligiösen Auseinandersetzungen waren ebenso wegbereitend für die Ideen der jüdischen Aufklärung, der Haskala, wie die in Berlin. Zu Recht galt die Stadt daher lange Zeit als das "Jerusalem des Nordens".
Die heutige Jüdische Gemeinde Frankfurts kann sich mit der früheren, durch das Nazi-Regime brutal zerstörten Gemeinde zwar nicht messen, gleichwohl ist sie mit ihren mehr als 7000 Juden (von vier hessischen Juden leben etwa drei in Frankfurt) die aktivste Gemeinde in der Bundesrepublik. Bis zur Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten war Frankfurt unbestritten die Stadt, mit der man jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 am ehesten identifiziert hat. Zudem stößt man noch heute hier auf Spuren vergangenen jüdischen Daseins, die deutlich machen, wie segensreich das Wirken vieler Juden Kultur und Wohlergehen dieser Stadt beeinflusst haben. Allerdings war ihr Zusammenleben mit den Frankfurter Nichtjuden nicht immer durch Eintracht, freundschaftliches Miteinander oder fairen Streit geprägt gewesen. Auch davon künden verdeckte Spuren. Man schaue sich nur einmal den Frankfurter Dom an. (Direkt ihm gegenüber befand sich einst die erste Synagoge.) Am Portal des Domes steht Josef in mittelalterlicher Kleidung - mit einem Judenhut. Offensichtlich war ihm die Aufgabe zugedacht worden, Juden zum Konvertieren zu bewegen. War man doch in der Vergangenheit keineswegs gewillt gewesen, selbst in Zeiten nicht, in denen man Juden unter sich duldete, diese ihren Glauben leben zu lassen und in ihrem Selbstverständnis zu akzeptieren. Werfen wir also einen Blick auf die jüdische Geschichte in Frankfurt und in Hessen. Es lohnt sich. Sie ist aufschlussreich genug.
Wahrscheinlich lebten schon seit dem 11.Jahrhundert, zumindest aber seit 1180, Juden in Frankfurt. Im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte entstanden auch im übrigen Bereich des heutigen Hessen eine Reihe von Judengemeinden, wie etwa in Bingen, Lorch, Oppenheim, Friedberg, Münzenberg, Fulda, Fritzlar, Nidda und Wolfhagen. Der nordöstlich von Frankfurt zwischen Friedberg und Hanau gelegene Ort Windecken hatte von 1288 bis 1941, also mehr als 650 Jahre, ununterbrochen einen jüdischen Bevölkerungsteil. In Kassel beginnt die Geschichte der Juden im 13.Jahrhundert. Schon 1262 wird hier eine Judengasse erwähnt und 1318 der Grundbesitz einer Jüdin. Die erste Gemeinde entstand 1398. Vermutlich hat auch in Marburg im 13. und 14.Jahrhundert eine große jüdische Gemeinde existiert. Wie überall in Deutschland kam es auch im heutigen Hessen immer wieder zu Krisen im Zusammenleben zwischen Juden und Christen sowie zu Verfolgungen und Vertreibungen der Juden. Eine der Verfolgungswellen begann Ende März 1349 mit einem Massaker in Fulda und erreichte ihren traurigen Höhepunkt mit der Ermordung der Gelnhauser Juden und der Vernichtung der Frankfurter Judengemeinde und einer Reihe kleinerer Gemeinden in der Umgebung. Nur wenigen Juden gelang die Flucht. Nach einiger Zeit kam es sporadisch wieder zu ersten jüdischen Ansiedlungen, 1360 in Frankfurt und 1368 in Kassel.
Frankfurt und seine Judengasse
Seit Beginn des 15.Jahrhunderts reglementierte in Frankfurt der Rat der Stadt das Leben der Juden durch zahlreiche Vorschriften. 1460 entschloss sich der Rat auf Drängen von Kaiser Friedrich III. und der Kirche, die Juden aus den Straßen am Dom in eine winzige entlegene Gasse umzuquartieren. Daraufhin wurde am Wollgraben, dem städtischen Abwasserkanal gegenüber der alten staufischen Stadtmauer in einem wenig bewohnten Teil der damaligen Neustadt, eine zweite Mauer errichtet. So entstand zwischen den beiden Mauern eine knapp 300 Meter lange und drei bis 4,5 Meter breite Gasse - von den Juden "Neu-Ägypten" genannt - mit drei Toren, die nachts und an Sonn- und Feiertagen geschlossen wurden. Hier lebte fortan bis zum Einmarsch der Truppen Napoleons die jüdische Gemeinde mit all ihren Einrichtungen und unterschiedlichen Menschen: Erwachsene und Kinder, Kranke und Gesunde, Arme und Reiche; Hausierer unmittelbar neben Hoffaktoren und den Baruchs, Sterns, Schönbergs und Rothschilds, deren Begründer Meyer Amschel Rothschild in der Judengasse, im Wohnhaus "Zum toten Schild", geboren wurde. Auch berühmte Schriftgelehrte und Rabbiner stammten von dort. Erwähnt sei nur der Dichter Ludwig Börne (1786-1837), der ursprünglich den Namen Löb Baruch trug. Anfangs wohnten in der Judengasse ungefähr 100 Bewohner in 15 Häusern, um 1560 waren es bereits über 1.000 in 77 Häusern (Frankfurt hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt ungefähr 12.000 Einwohner) und um 1600 ungefähr 2.700. Das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung führte, wie man sich denken kann, zu einer immer dichteren Bebauung der Gasse.
Während Juden ihr Ghetto möglichst nicht verlassen sollten, wurden Christen freundschaftliche oder gesellige Beziehungen mit Juden untersagt. Die weltlichen Machthaber fürchteten wohl auch Übergriffe des Pöbels auf Juden, und diese wiederum fühlten sich in der Zeit der Verfolgungen hinter Mauern und geschlossenen Toren sicherer als außerhalb. Auf diese Weise überlebte die Frankfurter Judengemeinde die Vertreibungen des 16.Jahrhunderts, die mörderischen Umtriebe des Judentäuflings Pfefferkorn und Ritualmordbezichtigungen. Die besonnene Haltung des Rates und eine Reihe günstiger Konstellationen in Krisensituationen sorgten mit dafür, dass Frankfurt eine Art Bollwerk des deutschen Judentums wurde. Zugleich entwickelte sich die Mainmetropole zum Anziehungspunkt für Juden aus dem Umkreis, die im 16.Jahrhundert in großer Zahl aus den benachbarten Orten im Rhein-Main -Gebiet und aus Süddeutschland hierher kamen, entweder weil man sie aus den Städten und Territorien des Reiches vertrieben hatte oder weil sie von den wirtschaftlichen Chancen, die Frankfurt bot, angelockt wurden. Der stark verschuldete Rat duldete die Einwanderung, da ihm die Steuern der eingewanderten Juden eine zusätzliche Einnahmequelle bescherten.
Um 1612 erschütterten heftige Auseinandersetzungen zwischen der Bürgerschaft und dem Rat die Stadt. Die Bürger verlangten die Reduzierung des von den jüdischen Geldverleihern geforderten Zinssatzes. Als die Konflikte eskalierten, überfielen Frankfurter Bürger und Handwerksgesellen unter Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch die Judengasse. Die Juden wurden aus der Stadt gewiesen und verließen diese auf Schiffen. Der Kaiser und benachbarte Fürsten griffen jedoch sofort ein, so dass der Aufstand gegen den Rat schnell zusammenbrach. Die Anführer der Bürgerschaft wurden hingerichtet und die Frankfurter Juden unter dem Geleit kaiserlicher Truppen in die Judengasse zurückgeführt. Zur Erinnerung an ihre Errettung feierten die Frankfurter Juden seit jener Zeit an diesem Tag das Vinzenz-Purim-Fest. Ihr bisheriges dreijähriges Aufenthaltsrecht wurde nun in ein unbefristetes Bleiberecht umgewandelt. Hin und wieder brachen in der Judengasse schlimme Brände aus, zum Beispiel im Januar 1711 im Haus des Rabbiners Naphtali Cohen. Da dieser Feuersbrunst fast sämtliche Häuser der Judengasse zum Opfer gefallen waren, gewährten christliche Bürger der Stadt obdachlos gewordenen Juden Unterkunft. Kaum aber waren die Schäden behoben, wurde der alte Zustand auf Anordnung des Rates wieder hergestellt. 1721 brannte der Nordteil der Gasse ab, und 1774 wurde ein Teil der Judengasse abermals durch ein Großfeuer zerstört. Viele Familie erlitten große materielle Verluste und verarmten. - Beim Löschen des letzten Brandes soll sogar der
junge Johann Wolfgang Goethe mitgeholfen haben. In seiner Kindheit hatte auf ihn die enge dunkle, von Menschen wimmelnde Judengasse den Eindruck eines düsteren Geheimnisses gemacht, das ihn einerseits abstieß und andererseits seine Neugierde weckte. Die jiddische Sprache in ihrer besonderen Frankfurter Ausprägung wiederum empfand er im Alter von zehn Jahren als "barock und unerfreulich". - Aber zurück zur Judengasse. Die Juden blieben dort bis 1796, bis französische Truppen Frankfurt und den Nordteil der Judengasse in Brand schossen, so dass die Juden erneut gezwungen waren, sich in anderen Teilen der Stadt eine Unterkunft zu suchen. Inzwischen hatte auch in Frankfurt die Diskussion um die rechtliche Gleichstellung der Juden begonnen. Infolgedessen brauchten die Juden nach dem Wiederaufbau der Häuser nicht mehr, in ihre alte Gasse zurückzukehren. Da aber die Mauern des Ghettos letztlich nicht durch eine liberale Verfügung des Stadtrates niedergerissen worden waren, sondern durch französische Revolutionsheere, bedankte sich die jüdische Gemeinde später bei Napoleon mit einer Ode. Als 1811 die Frankfurter Juden offiziell die Erlaubnis erhalten hatten, sich auch in den übrigen Stadtteilen niederzulassen, folgten ihr freilich nur die Wohlhabenderen, die ärmeren blieben zurück. Zu ihnen gesellten sich nun auch arme Christen. Allerdings waren inzwischen statt der engen Fachwerkhäuser großzügige Bauten im klassizistischen Stil errichtet worden. Das Bankhaus der Familie Rothschild beispielsweise nahm jetzt den Raum von fünf abgebrannten Häusern ein. Später wurde die Judengasse ganz abgerissen und geriet in Vergessenheit. Man erinnerte sich erst wieder an sie, als im Herbst 1987 bei Erdarbeiten der Stadtwerke siebzehn Kellerfundamente freigelegt wurden. Die Reste dieser unwiederbringlich steinernen Zeitzeugen deutsch jüdischer Stadtgeschichte - ein erheblicher Teil fiel trotz Proteste engagierter Bürger dem Bauprojekt zum Opfer - sind heute in einer modernen Schalterhalle zu besichtigen.
Die Jüdische Gemeinde zu Kassel
Auch in Kassel war das Schicksal der jüdischen Gemeinde vom Wohlwollen der jeweiligen Herrscher abhängig. 1524 verwies Landgraf Philipp der Großmütige die Juden für kurze Zeit des Landes. Doch schon 1532 wurde ihnen der Aufenthalt in Hessen wieder erlaubt, nachdem 1530 Michel Jud of Berenburg für zehn Jahre als Hofbankier zugelassen worden war. 1539 wurde die Zahl der Juden auf einige Familien und ihre Tätigkeit auf nur wenige Berufszweige beschränkt. Unter ihnen gab es einen Arzt und einige Seidensticker. Jetzt wurde eine neue, verhältnismäßig milde Judenordnung erlassen, in der der Landgraf Philipp von Hessen die Bestimmungen des Römischen Rechts in einem für Juden günstigeren Sinne auslegte. Glaubte er doch, er könne auf diese Weise die jüdische Minderheit in das Christentum integrieren und sie als Juden unversehens von der Bildfläche verschwinden lassen. So verfügte er, dass Juden jeden Sonntag die christlichen Gottesdienste besuchen sollten. Ähnliche Anstalten traf hundert Jahre später, 1647, die regierende Landgräfin Amalie Elisabeth. Die Eschweger Juden mussten zum Beispiel alle sechs Wochen auf dem Rathaus erscheinen, um sich durch christliche Geistliche im Christentum unterweisen zu lassen. Wer sich nicht einfand, wurde hart bestraft. Um den Bekehrungsversuchen der Landgräfin Amalie Elisabeth zu entgehen, kehrten nicht wenige Juden ihrem Heimatort den Rücken. Subtiler fiel dagegen die Diffamierung der Juden durch Christian Dohm aus. Dohm, ein Freund von Moses Mendelssohn und Dozent am Carolinum in Kassel, veröffentlichte 1781 die Schrift: "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", in der er die angeblichen Mängel des jüdischen Charakters auf den Druck zurückführte, unter dem Juden bisher leben mussten. Dohm forderte die bürgerliche Gleichstellung von Juden, denn durch sie werde, meinte er gönnerhaft, ihre "sittliche und religiöse Hebung von selbst erfolgen."
Juden im hessischen Odenwald
In Michelstadt,dem Handelsmittelpunkt des Odenwaldes, erschienen die ersten Juden um 1560 als Pächter der gräflichen Münze. Ihre Hauptaufgabe war nicht das Prägen von Geld, sondern die Beschaffung von Silber für die Münzherstellung, wobei ihnen ihre internationalen Beziehungen zustatten kamen. Um 1658 bestand die Judengemeinde Michelstadt aus zwei Familien und erreichte ihren höchsten Stand um 1860 mit rund 200 Seelen. Im übrigen Kreisgebiet hatten sich ab 1680 in Höchst, ab 1700 in Bad König, ab 1760 in Neustadt, ab 1800 in Reichelsheim und in Beerfelden ebenfalls kleine jüdische Gemeinden gebildet, die im Bezirksrabbinat Michelstadt zusammengefasst waren und von diesem betreut wurden. In Erbach haben dagegen nie Juden gewohnt, obwohl sich das Grafenhaus Erbach ihrer Dienste in Geldangelegenheiten gern bediente.
Manchmal zeigten sich die weltlichen Herrscher gegenüber den in ihrem Herrschaftsbereich ansässigen Juden humaner und christlicher als ihre Untertanen und die erlauchte Geistlichkeit. Als die Städte 1657 den Landgrafen zur Vertreibung der Juden aufforderten, trat er diesem Ansinnen mit der Bemerkung entgegen: "dass die Juden aus dem Lande vertrieben und unter den Christen nicht mehr geduldet werden, ist göttlichen und menschlichen Rechten zuwider." 1694 bestimmte der Landgraf Ernst von Hessen-Rotenburg: "Des Scheltens auf die Juden haben sich die christlichen Prediger in den Predigten zu enthalten."
Mit der Französischen Besetzung nahm die Geschichte der hessischen Juden nicht nur in Frankfurt eine für sie durchaus erfreuliche Wendung. Nach 1807 wurde Kassel Residenz des Königreichs "Westphalen" unter JérĂ´me Napoleon, der als erster Herrscher im hessisch-nassauischen Raum die Gleichberechtigung der Juden verwirklichte. Als "König von Westphalen" erließ er am 15.November 1807 eine Verfassung, die sämtlichen Bürgern Gleichheit vor dem Gesetz und freie Religionsausübung garantierte und verabschiedete am 27.Januar 1808 ein Dekret, das allen "Untertanen, welche der mosaischen Religion zugetan sind", zusicherte, dass sie die gleichen Rechte und Freiheiten wie die übrigen Untertanen genießen dürften.
Die im Großherzogtum Frankfurt sesshaften Juden wiederum wurden durch Karl Theodor von Dalberg mit dem Organisationspatent vom 16.August 1810 den christlichen Bürgern theoretisch gleichgestellt. Allerdings mussten sie die künftige Freiheit von allen Sonderabgaben mit der hohen Ablösesumme von 440000 Gulden bezahlen.1824 schlossen die jüdische Gemeinde und der Rat der Stadt einen Kompromiss. Den Juden wurde der Status "Israelitischer Bürger" zuerkannt, der einer weitgehend privat-rechtlichen Gleichstellung mit den christlichen Bürgern entsprach. Doch wichtige politische Rechte wurden ihnen weiterhin verwehrt. Auch einige demütigende Bestimmungen wurden beibehalten. Weniger günstig verlief um diese Zeit die Entwicklung in Kassel. Nachdem das westfälische Zwischenspiel 1813 mit der Niederlage Napoleons zu Ende gegangen war, erklärte der Kurfürst nach seiner Rückkehr die Emanzipation der Juden für null und nichtig.
Emanzipation - Assimilation
Mit der Niederlage Napoleons hatte die Gleichberechtigung der hessischen und nassauischen Juden somit ein vorläufiges Ende gefunden. Gleichwohl blieb die Frage nach der künftigen Rechtsstellung der Juden auf der politischen Tagesordnung und wurde in der nassauischen und kurhessischen Regierung in den folgenden Jahren immer wieder lebhaft erörtert. Durch die französische Julirevolution 1830 geriet in Kurhessen die Gleichberechtigung der Juden erneut stärker in die öffentliche Diskussion. Aber die antijüdischen Vorbehalte sind dennoch nie völlig verstummt, weder bei Behörden, bei der Landbevölkerung noch im Landtag. Nicht wenige Abgeordnete erwarteten von den Juden als Vorleistung für ihre Gleichstellung die völlige Bereitschaft zur Assimilierung, teilweise sogar den Verzicht auf religiöse Grundsätze oder zumindest die Verlegung der Sabbatfeier auf den Sonntag. In einigen Landstädten und Dörfern Kurhessens kam es, wie in Hofgeismar, zu exzessartigen Straßenkrawallen gegen die jüdischen Einwohner. Die meisten von ihnen flohen vorübergehend nach Kassel oder Karlshafen. Nicht einmal das Emanzipationsgesetz von 1869 bereitete den Judenverfolgungen ein Ende. Wenig später kam im hessischen Raum ein neuer Antisemitismus auf, in deren Fahrwasser der Marburger Reichstagsabgeordnete Otto Böckel die Forderung erhob, Juden unter "Fremdenrecht" zu stellen.
Der mühsam erreichten Emanzipation und Gleichstellung der Juden folgte die Assimilation etlicher Juden. Manche wollten nur noch als Deutsche gelten und bemühten sich, ihre religiösen und kulturellen Besonderheiten zu verbergen. Vor allem in Kassel ließ sich die Gemeinde mehr und mehr von liberalen Ideen leiten. Man ging dazu über, Gebete und Predigten in deutscher Sprache abzuhalten. Die Rabbiner trugen Talar und Bäffchen und waren in ihrer Amtstracht von protestantischen Geistlichen kaum noch zu unterscheiden. Als indessen eine Orgel in der Synagoge eingebaut und 1872 in Gebrauch genommen wurde, war für einige Juden das Maß voll. Es kam zur Abspaltung einer konservativ-orthodoxen Gruppe, die 1898 eine eigene Synagoge mit 200 Plätzen bezog. Die Große Synagoge bot dagegen Platz für 300 Beter und auf den Emporen für 340 Beterinnen. In anderen Gemeinden bildeten sich ebenfalls separate Synagogengemeinden, sogenannte Austrittsgemeinden, die sich "Adaß Jisroel" oder "Adaß Jeschurun" nannten, so auch in Frankfurt unter Rabbiner Samson Raphael Hirsch.
In der Mainmetropole haben vor allem die dort ansässigen Juden mit dafür gesorgt, dass aus der protestantischen Krönungsstadt eine richtige Weltstadt wurde. Allein auf die Aktivitäten eines einzigen Juden gingen die Gaswerke, der Hauptbahnhof, das Opernhaus, der Palmengarten und das Hotel "Frankfurter Hof" zurück. Auch andere vermögende jüdische Familien errichteten repräsentative Bauten. Insbesondere am Mainufer entstanden klassizistische Wohnhäuser, die den Anspruch zahlreicher Juden auf Integration in das Frankfurter Bürgertum sichtbar machten. Manche Juden nahmen Spitzenpositionen ein, die sie weit über die Stadt hinaus berühmt machten. Zu diesen gehörten neben den schon erwähnten Rothschilds die Bankiers Speyer, Oppenheimer, Sulzbach, Wertheimer und Ladenburg. Leopold Sonnemann wiederum gehörte zu den Gründern der Frankfurter Zeitung. Die Universität und das Senckenberg-Museum wurden ebenfalls von Juden gegründet. Der jüdische Bürgermeister Ludwig Landmann baute in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts die ersten Sozialsiedlungen. Rund um den Zoo wohnten dagegen überwiegend fromme Juden, die durchweg der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft angehörten. Während der Zeit der Aufklärung wurden ferner reformierte jüdische Schulen gegründet, von denen eine, nämlich das 1804 eröffnete Philanthropin, bis 1942 bestand.
Auch andere hessische Städte haben ihrer jüdischen Bevölkerung viel zu verdanken. Bad Nauheims Blütezeit als Badestadt im Zeitraum von 1890 bis 1933 geht auf das Wirken jüdischer Ärzte zurück. Zahlreiche jüdische Hotel- und Pensionsbesitzer sorgten für das Wohl der Gäste. Man schätzt, dass 25 bis 30% von ihnen, die Nauheim alljährlich aufsuchten, jüdische Kurgäste waren. Diese kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem übrigen Europa und aus Übersee. In Nauheim selbst wohnten damals etwa 300 Juden.
In Bad Soden im Taunus bildeten nahezu 50 Juden die zum Rabbinatsbezirk Wiesbaden gehörende Israelitische Kultusgemeinde, Hier gab es seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert die private "Israelitische Kuranstalt für Lungenkranke". Die Wiesbadener Judengemeinde hingegen unterschied sich in ihren historischen Wurzeln grundlegend von den sie umgebenden Traditionsgemeinden wie Mainz oder Frankfurt. Das heute mondäne Wiesbaden war ursprünglich rein dörflich strukturiert und besaß schon vor dem 18.Jahrhundert eine jüdische Gemeinde mit Synagoge und Ritualbad, die jedoch lange im Schatten der florierenden jüdischen Gemeinde in Mainz stand. Aber dann kamen Juden aus dem Rheingau, um in der wachsenden und aufblühenden Kurstadt Geschäfte zu machen. Jüdische Badeärzte, Pelzhändler - manche waren auf dem Weg aus dem Zentrum des Rauchwarenhandels Leipzig nach Frankfurt in Wiesbaden hängen geblieben - und Juweliere ließen sich hier nieder. Konflikte zwischen den aus zwei grundverschiedenen Traditionssträngen zugewanderten Juden blieben nicht aus. Während die orthodox geprägten "Landflüchtigen" sich als Kleinbürger etablierten, betätigte sich das liberale, weltoffene Judentum meistens in gehobeneren Berufen. Zunächst bildete sich in Wiesbaden eine Einheitsgemeinde heraus, die alle Juden unter einem Bekenntnis zusammenfasste. Begründet und geleitet wurde diese von dem liberalen Rabbiner Abraham Geiger(1810-1874). Bis 1876 hielt das gemeinsame Bekenntnis alle Juden am Ort zusammen, bis sich dann die erste "Austrittsgemeinde" Preußens abtrennte, nicht zuletzt durch Zuwanderer aus dem Osten, denen die liberale Struktur suspekt war. Immerhin zählte die jüdische Gemeinde Wiesbadens zu ihren Glanzzeiten 3.000 Mitglieder. Das entsprach 2% der damaligen Bevölkerung.
Die rechtliche Gleichstellung der Juden seit Mitte des 19. Jahrhunderts führte auch in Hessen zu einem Schrumpfungsprozess der kleineren Gemeinden. Da die Aufnahmebeschränkungen in Berufe, die bislang ausschließlich Christen vorbehalten gewesen waren, nun wegfielen und die expandierenden Großstädte an wirtschaftlicher Attraktivität gewannen, insbesondere für kaufmännische Berufe, zogen zahlreiche jüdische Familien in größere Städte um, wie etwa von Hofgeismar in das nahe gelegene Kassel, dessen jüdische Einwohnerzahl seit 1861 stetig anstieg. Überdies war mit der Forderung nach Emanzipation im Zeitalter der Aufklärung der Gedanke entstanden, jüdische Jugendliche "produktiven Berufen" wie Handwerk und Landwirtschaft zuzuführen. Tatsächlich ließ sich eine Anzahl hessischer Juden in Handwerksberufen ausbilden, nicht zuletzt dank der Bemühungen des einflussreichen Bankiers Israel Jacobson, der in Kassel eine "Religions- und Industrieschule" einrichten ließ. Zu den Ausbildungsberufen gehörten Maler, Schneider, Schumacher, Schlosser, Buchbinder, Sattler, Tischler und andere. Die Chancen für eine gesellschaftliche Integration der Juden standen auf lange Sicht nicht schlecht.
Viele Juden bekannten sich zu Deutschland
Nach der Gründung des Wilhelminischen Kaiserreiches 1871 bekannten sich nicht wenige Juden geradezu überschwänglich zu Deutschland als ihrer neuen Heimat. Sichtbar wurde diese neue Einstellung auch in der veränderten Bauweise neuer jüdischer Gotteshäuser, zum Beispiel in der 1910 in Frankfurt erbauten Westend-Synagoge, die die Nazis wie viele andere Synagogen in der Pogrom-Nacht des 9.November 1938 in Flammen aufgehen ließen. Ferner nahmen jetzt immer mehr Juden aktiv am politischen Leben teil. In Kassel, wo bis 1933 über 2500 Juden lebten, saßen 1913 fünf jüdische Bürger in der Stadtverordnetenversammlung, unter ihnen Georg Rosenzweig, der Vater des Religionsphilosophen Franz Rosenzweig. Ab 1928 hatte die Stadt Kassel, in der Roland Freisler in den zwanziger Jahren eine Anwaltspraxis führte, sogar einen jüdischen Polizeipräsidenten: Dr. Adolf Hohenstein.
Auch in kleineren Orten, in denen der jüdische Bevölkerungsanteil durchweg bei fünf Prozent lag, fühlten sich die meisten Juden vor dem "Dritten Reich" durchaus als Bürger und Bewohner ihrer Stadt. Sie führten ein bescheidenes Leben und unterschieden sich kaum von ihren christlichen Nachbarn. In einzelnen Ortschaft waren manche Familien schon seit über hundert Jahren ansässig. Am Passah in der Osterzeit oder am Sabbat verdienten sich die christlichen Nachbarskinder gern ein Stück Matze oder ein paar Pfennige, wenn sie in den Häusern orthodoxer Juden Licht und Feuer anzündeten.
Mit dem Hitler-Regime, spätestens jedoch mit den Deportationen der letzten hessischen Juden in die Gaskammern 1942, endete auch in Hessen wie überall in Deutschland die Geschichte der jüdischen Gemeinden. "Wenn keine Stimme sich für uns erhebt, so mögen die Steine der Stadt für uns zeugen, die ihren Aufschwung zu einem guten Teil jüdischer Leistung verdankt, in der so viele Einrichtungen vom Gemeinsinn der Juden künden, in der aber auch das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern stets besonders eng gewesen ist. "Mit diesen Worten kommentierte Eugen Mayer, Syndikus der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, deren Ende. Gießen hatte bis zu Hitlers Machtantritt im Jahre 1933 drei jüdische Gemeinden mit drei Synagogen. Seligenstadt am Main besaß eine der größten jüdischen Gemeinden im ganzen Landkreis. 47 der über zweihundert jüdischen Seligenstädter konnten ins Ausland fliehen, die anderen endeten fast alle in Konzentrationslagern. Ausgerechnet der evangelische Ortspfarrer vermerkte 1942 triumphierend in seiner Chronik: "Ab heute ist Seligenstadt judenfrei." 1989 wurde an der Stelle, wo einst die Synagoge stand, ein Obelisk mit einer Gedenktafel aufgestellt.
Neubeginn nach 1945
Heute existiert in Hessen,insbesondere in Frankfurt, ein anderes Judentum als vor dem Krieg. Denn nur wenige Juden sind nach der Shoah in ihre hessische Heimat zurückgekehrt. Wer von den Immigranten nach Deutschland zurückkam, tat es aus eigenem Antrieb. Kaum eine Stadt, nicht einmal die Bundesregierung dachte daran, die Exilanten um Rückkehr zu bitten. Eine Ausnahme bildete die Stadt Frankfurt, die 1948/49 die beiden Professoren Max Horkheimer und Theodor W.Adorno zurückrief, die dann gemeinsam das Institut für Sozialforschung wieder aufbauten und leiteten. An Stelle der ehemaligen deutschen Juden kamen die meisten Juden aus Osteuropa. Am 1.Oktober 1947 zählte man in Hessen 1294 Juden. Durch den Zuzug der sogenannten Displaced Persons war die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in zahlreichen Städten, vor allem im nordhessischen Raum, in den Jahren 1946-1948 weit höher als in den späteren Jahren. Manche jüdische Gemeinde wie die in Eschwege, Hofgeismar und Bad Wildungen ist wenig später, nachdem die DPs ausgewandert waren, wieder eingegangen. 1950 hatte Hessen 14 jüdische Gemeinden, 1983 nur noch elf.
Bei der Wiederherstellung jüdischer Gebäude und Einrichtungen leistete die amerikanische Besatzungsmacht oft tatkräftige Hilfe. Die ersten Synagogen konnten schon im Jahr 1945 in Bad Nauheim und in Frankfurt(Westend)eingerichtet werden.
Die Teilnehmer des ersten jüdischen Gottesdienstes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Synagoge von Bad Nauheim waren fast ausnahmslos amerikanische Soldaten. Für die Bewohner der nahe gelegenen DP-Lager wurden vorübergehend auch die Synagogen in Wetzlar (1945) und Dieburg (1947) wiederhergestellt. In Darmstadt entstand eine eigene jüdische Fachschule, um jüdischen Jugendlichen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen, und im Schloss von Rauischholzhausen unweit Marburg eine Landwirtschaftsschule, in der junge Juden auf den Siedlerberuf in Palästina vorbereitet wurden.
Die Neugeburt der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, die sich im Januar 1947 konstituierte, war anfangs mit Schwierigkeiten verbunden. Hierzu trug auch das gespaltene Selbstverständnis der Gemeindemitglieder bei. Viele lebten in ihrer ostjüdischen Tradition und konnten nur mühsam einen Einklang zwischen ihrem Wohnort und dem Begriff Heimat herstellen. So blieb die Jüdische Gemeinde in den ersten Jahren in einer freiwilligen Isolation. Das Provisorium jüdischer Existenz im Nachkriegs-Deutschland hielt noch an, als in der 50er und 60er Jahren die jüdischen Gemeinden Deutschlands langsam wuchsen. Nur wenige Juden suchten den Kontakt
und den Dialog mit der nichtjüdischen Bevölkerung. Die meisten waren voller Misstrauen gegenüber ihrer Umwelt. Doch der Prozess der Anpassung und Integration war auf Dauer nicht aufzuhalten, zumal das stürmische Prosperieren der Handelsmetropole Frankfurt die Jüdische Gemeinde stark anwachsen ließ, die alsbald ein eigenes kulturell-geistiges Profil gewann. Hinzu kam, dass die Kinder der Holocaust-Generation, die in der Bundesrepublik aufwuchsen und sich durchaus als Teil dieser Gesellschaft fühlen, den Dialog suchten und sich politisch engagierten.
Die Jüdische Gemeinde Frankfurt, bei weitem die größte in Hessen, war von Anfang an die Gemeinde mit dem jüngsten Durchschnittsalter in Deutschland. Fast vierzig Prozent ihrer Mitglieder wurde nach dem Krieg geboren, etwa die Hälfte davon gehört der dritten Generation an, so dass die Struktur der Jüdischen Gemeinde Frankfurts schon vor der Einwanderung russischer Juden keineswegs durch Überalterung und Nachwuchssorgen gekennzeichnet war.
Offiziell endete der anfänglich provisorische Zustand hier 1986 mit der Eröffnung des neuen Jüdischen Gemeindezentrums in der Savignystraße. Die partielle Rekonstruktion der Westend-Synagoge bedeutete ein Anknüpfen an die Vergangenheit der vormaligen Israelitischen Gemeinde und ein weiteres Bekenntnis zur Zukunft der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt.
Längst ist das Gemeindezentrum zu einem Brennpunkt des Kulturlebens der Mainmetropole geworden. Am 9.November 1988 kam ein weiterer kultureller Brennpunkt hinzu: das Jüdische Museum im ehemaligen Rothschild-Palais. Seit 1986 finden alljährlich im Herbst jüdische Kulturwochen statt, die zu einem besseren Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden beitragen und zugleich zeigen, dass die jüdische Kultur mittlerweile wieder ein Bestandteil der Kultur in Deutschland geworden ist. Frankfurt hat auch erneut eine jüdische Grundschule, die Lichtigfeldschule .Es ist die dritte der vier jüdischen Schulen in Deutschland nach Berlin und München und vor Düsseldorf. Der jüdische Kindergarten im Frankfurter Westend, in dem Kinder aus Russland, Amerika, Polen, Ungarn und Rumänien spielerisch miteinander Hebräisch und liturgische Inhalte lernen, gilt als multikulturelles Paradebeispiel. Außerdem verfügt die Frankfurter Jüdische Gemeinde über ein weit gespanntes Netz von Einrichtungen, die nicht nur dem religiösen Leben, sondern auch gesellschaftlichen und sozialen Bedürfnissen dienen wie das jüdische Jugendzentrum und die Theatergruppe Haskala. Die Bundeszentrale der zionistischen Jugend ist mit einer Bildungsstätte hier ebenso vertreten wie die Zentrale des Verbandes jüdischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, eine jüdische Studentengruppe und seit 1965 auch ein jüdischer Sportverein.
Natürlich klingt das Trauma der Shoa bei nicht wenigen Juden bis in die dritte und vierte Generation hinein noch nach, da häufig Eltern und Großeltern ihre nicht verarbeiteten Ängste unausgesprochen weitergeben. Eine eigene Erziehungsberatungsstelle mit psychologischer Betreuung steht diesen Menschen zur Verfügung. Auch kommen täglich neue Probleme auf die Gemeinde zu, vor allem seit dem Zuzug von mehr als tausend russischen Juden in den letzten Jahren, die aber nicht nur Belastung und Arbeit bedeuten, sondern auch geistige Verstärkung, deutlich an Veranstaltungen zu erkennen, die von den neuen Mitglieder mit klassischen Konzerten, Ausstellungen und Lesungen bestritten werden.
Ferner sollte nicht übersehen werden, dass einzelne Frankfurter Juden bemerkenswerte Beiträge zum politischen und geistigen Leben der Bundesrepublik nach 1945 geleistet haben: der frühere Vorsitzende des deutschen Gewerkschaftsbundes Ludwig Rosenberg und das IG-Metall-Vorstandsmitglied Moneta, und junge jüdische Intellektuelle wie Dan Diner, Micha Brummi, Michel Friedman, Daniel Cobh-Bendix, die sich politisch engagieren und verschiedenen Parteien angehören oder nahe stehen. Bedeutsam für das kulturelle Leben war auch die Rückkehr des S.Fischer-Verlages nach Frankfurt. Die Frankfurter Juden haben häufig schon Zivilcourage bewiesen und ihre Stimme erhoben, wenn sie sich provoziert fühlten. Etwa durch Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod". Als dieses von nicht wenigen Menschen zu Recht als antisemitisch empfundenes Theaterstück in Frankfurt aufgeführt werden sollte, stürmten Juden aller Altergruppen auf die Bühne und verhinderten die Vorstellung.
Die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Hessen nach Frankfurt existiert in Offenbach. Offenbachs ehemalige Synagoge, die in der Pogromnacht 1938 geplündert, aber nicht zerstört worden ist, wurde im Frühjahr 1995 zu einem Musicaltheater umgebaut - zum Unbehagen nicht nur vieler Juden. Seit November 1997 hat die Offenbacher Gemeinde, die von 20 auf 900 Mitglieder angewachsen ist, auch wieder eine neue Synagoge mit einem großen Gemeindezentrum. In Wiesbaden zählt die Gemeinde gegenwärtig rund 550 Mitglieder, darunter 370 Übersiedler aus Russland. In Kassel ist die Gemeinde von 70 auf über 800 Mitglieder angestiegen und ist, neben der von Offenbach und Wiesbaden, eine der regsten im hessischen Landesverband.
Bemerkenswert ist ferner das Schicksal der heutigen Synagoge in Gießen. Ursprünglich stand sie seit Mitte des 19.Jahrhunderts in dem Dörfchen woher im Marburger Land. Dort wurde sie im Frühjahr 1992 behutsam abgetragen, restauriert und in Gießen wieder aufgebaut, als "lebendiges Denkmal für das Landjudentum und eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart." Sie bietet sechzig Menschen Raum und ist das Herzstück des neuen jüdischen Gemeindezentrums. In Darmstadt zeichnet sich das dort ansässige Judentum ebenfalls durch ein ausgeprägtes religiöses und kulturelles Gemeindeleben aus und leistet hervoragende Arbeit, um die große Zahl von Einwanderern aus fünfzehn verschiedenen Ländern zu integrieren. Längst ist die Gemeinde mit ihrem kleinen Museum, das sich eines regen Zuspruchs erfreut, zu einem wichtigen kulturellen Faktor in der Stadt geworden. Das kann man auch von der Jüdischen Gemeinde in Bad Nauheim sagen, deren Mitgliederzahl sich von achtzig seit 1991 verdreifacht hat. Schon 1950 war hier wieder ein jüdisches Erholungsheim eröffnet worden. 1980 folgte das Grand Hotel Accademia, ein 100-Betten-Hotel, das mit seinen Sport-und Badeeinrichtungen sowie der koscheren Küche speziell auf jüdische Kurgäste eingerichtet war, aber seit mehr als zehn Jahren nicht mehr existiert. In Fulda und Marburg bestanden die nach 1945 neugegründeten Jüdischen Gemeinden bis zum Zeitpunkt der russischen Einwanderer nur auf dem Papier. Das ist jetzt anders geworden. Auch hier bemüht man sich, zusammen mit dem Landesverband, die Zuwanderer einzugliedern. Das gelingt ihnen oft schneller und besser als nichtjüdischen Institutionen, da jüdische Gemeinden von jeher multikulturell ausgerichtet waren und ihnen Berührungsängste fremd sind. Sorgen bereitet überall die Finanzierung, da der Staat trotz vielversprechender Feiertagsreden seiner Politiker nicht ausreichende Geldmittel zur Verfügung stellt. Eine weitere traurige Bilanz aus den letzten fünfzig Jahren darf nicht verschwiegen werden: Als der Krieg zu Ende war, gab es in Hessen noch 245 Synagogen. Statt alle zu erhalten, wurden sechzig Prozent von ihnen nach 1945 durch Abbruch oder Umbau noch zerstört.
Quellen
- Yehuda Ben-Avner: Vom orthodoxen Judentum in Deutschland zwischen zwei Weltkriegen. Hildesheim-Zürich-New York 1987
- Erica Burgauer:Zwischen Erinnerung und Verdrängung - Juden in Deutschland nach 1945. Reinbek 1993
- Helmut Burmeister und Michael Dorhs(Hrsg.):Juden-Hessen
- Deutsche. Beiträge zur Kultur und Sozialgeschichte der Juden in Nordhessen. Hofgeismar 1991
- Helmut Burmeister und Michael Dorhs(Hrsg.):"Suchet der Stadt Bestes". Die jüdische Gemeinde Hofgeismars zwischen Assimilation und Untergang. Hofgeismar 1990
- Karl-Heinz Dörbecker:Die Juden in Ziegenhain in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts. Manuskript unveröffentlicht
- Michel Friedman: Zukunft ohne Vergessen. Ein jüdisches Leben in Deutschland. Mit Ernst Dieter Lueg. Köln 1955
- Nachum T.Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik. Köln 1997
- Juden in Kassel 1808-1933. Eine Dokumentation anlässlich des 100. Geburtstages von Franz Rosenzweig. "Ich bleibe also Jude". Kassel 1987
- Wanda Kampmann:Deutsche und Juden. Frankfurt/Main 1979
- Museum Judengasse, Katalog zur Dauerausstellung, Frankfurt am Main 1992
- Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wiesbaden 1983,Martin Schmall: Die Juden in Michelstadt 1650-1943. Michelstadt 1988
- Gedenk- und Begegnungsstätte Rotenburg an der Fulda
- AG Spurensuche an der Jakob-Grimm Schule in Rotenburg an der Fulda
Der geringfügig korrigierte Artikel erschien erstmals in ?Juden in Deutschland nach 1945. Bürger oder 'Mit'-Bürger?. (Hrsg. Otto R.Romberg & Susanne Urban-Fahr)
Tribüne-Verlag , Frankfurt am Main 1999.
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