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Meine Mecklenburger Jahre

Eine Studienfahrt nach Mecklenburg unter Leitung im Jahr 2006 verhalf mir zu einer Begegnung mit einem nicht unwichtigen Teil meines Lebens, die nachhaltiger und vielseitiger ausfiel, als ich es erwartet hatte. Aber keine Bange, liebe Leser, dies wird kein von Wehmut und Erinnerungsschmerz durchtränkter Bericht, denn auch Kindheit und Jugend haben bekanntlich ihre Schattenseiten, zumal wenn sie noch dazu durch Krieg, Bombennächte, Verlust von Hab und Gut, Vertreibung und Flucht gekennzeichnet waren.

Mit Mecklenburg verbinden mich zunächst einmal enge verwandtschaftliche Beziehungen. Stammen doch beide Eltern von dort. Meine Großeltern mütterlicherseits besaßen in der Nähe von Eldena, Kreis Ludwigslust, einen Bauernhof. Der Großvater väterlicherseits stammt zwar aus dem pommerschen Gollnow, kam allerdings schon in jungen Jahren nach Mecklenburg. Seine Frau, meine Großmutter, wuchs in der Gastwirtschaft Püsserkrug in der Nähe von Schwerin auf. Leider verstarb sie schon, als ich knapp zwei Jahre alt war. Meinen Großvater, der nach Ausübung verschiedener Berufe eine Zeitlang in Gehlsdorf gegenüber dem Rostocker Warnowufer eine Pension innehatte, lernte ich erst als Rentner kennen. Den Sommer verbrachte er alljährlich in Kühlungsborn,dem früheren Brunshaupten, und lud in den Schulferien seine fünf erwachsenen Kinder mit ihren Familien nach Kühlungsborn ein. Da wir, meine Eltern und ich, zunächst in Ostpreußen unser Zuhause hatten, fuhren wir in den Sommerferien nach Mecklenburg. Die ersten zwei Ferienwochen verbrachten wir in Neuhof, dem Wohnsitz meiner Großeltern mütterlicherseits, die nächsten zwei Wochen in Kühlungsborn und die letzten zwei Wochen wieder in Neuhof. Ich fühlte mich jedesmal an beiden Orten wie im Paradies. Da ich lange Zeit das einzige Kind in beiden Familien war, wurde ich von allen Seiten verwöhnt.

Im Herbst 1938 zogen wir nach Mecklenburg, zuerst nach Neustrelitz. Hier wurde im August 1939 mein Bruder geboren. Hier wurden wir vom Ausbruch des zweiten Weltkrieges überrascht.

Uns Schulkindern wurde diese Tatsache schlagartig klar, als wir am ersten September den Klassenraum betraten und nicht wie gewohnt Herrn Schulz, unseren Klassenlehrer, vorfanden, der bei uns allen man höre und staune sehr beliebt war, sondern einen offensichtlich in großer Eile hingekritzelten Satz auf der Tafel: "Ich muss in den Krieg. Lebt wohl, Ihr Kinder, Euer Lehrer Schulz." Das habe ich bis heute nicht vergessen, wie ratlos und bestürzt wir lange Zeit davor gestanden haben."

Ab November 1939 wohnten wir in Rostock, in der Parkstraße 4. Über diesen Umzug freute ich mich sehr, denn ich hatte eine Vorliebe für größere Städte, in denen man mit der Straßenbahn fahren konnte. Ich erinnere mich, dass ich oft an der Rostocker Universität vorbeifuhr, (damals nahm die Straßenbahnlinie noch diesen Weg) und mir vorstellte, dass ich hier eines Tages studieren würde wie mein Vater vor etlichen Jahren. Doch habe ich weder an der Rostocker noch an einer anderen Universität studiert, denn, um mit Bert Brecht zu sprechen, "die Verhältnisse waren nicht so."

In Rostock besuchte ich die Volksschule, wie die heutige Grundschule damals hieß, und später das Mädchen-Lyzeum, die Goetheschule in der Nähe des Hauptbahnhofs. Allerdings wurden nach den Bombennächten im April 1942, die wir hautnah miterlebten, die unteren Schulklassen in sogenannten KLV-Lagern (Kinderlandverschickungslager), zu denen zwei Hotels am Plauer See umgewandelt worden waren, untergebracht. Unsere 'alten' Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten uns hier weiter, allerdings mehr schlecht als recht, da unsere Unterkünfte abwechselnd immer wieder wegen Ausbruch von Diphtherie oder Scharlach geschlossen werden mussten, so dass der Lehreraustausch von Lager zu Lager dann nicht vonstatten gehen konnte. Hinzu kam, dass im Lager achtzehnjährige BDM-Führerinnen (Bund deutscher Mädchen) "das Sagen" hatten, auch über das Lehrpersonal, und alle einem scharfen Drill unterwarfen. Eine der Lehrerinnen, Fräulein Kegebein, wollte sich ihrem Kommando nicht fügen. Das meldeten die BDM-Führerinnen an ihre vorgesetzte Dienststelle, und Fräulein Kegebein verschwand spurlos, wohin haben wir nie erfahren.

Unter der BDM-Zucht und dem Zwang, der ständig auf uns ausgeübt wurde, haben wir wohl alle sehr gelitten. Wie froh war ich daher, als ich einmal mit Verdacht auf Diphtherie, von allen und allem abgeschirmt, für einige Zeit isoliert das Bett im Krankenzimmer zu hüten hatte. Während ich meine Mitschülerinnen draußen das Exerzieren üben hörte, "vorwärts, links herum, geradeaus, rechtsherum und wieder geradeaus" oder wie die Befehle sonst noch lauteten, erschloss ich mir, mit fiebergeröteten Wangen, die Welt der Schillerschen Balladen - ein freundlicher Geist hatte mir sie verschafft. Ich ließ mich von ihnen fortreißen und habe auch manche laut deklamiert. Es hörte mich ohnehin keiner.

Als sich der Krieg dem Ende näherte und es nun auch am Plauer See immer häufiger Fliegeralarm gab und Flüchtlingsströme das nahe Plau und unser Lager überfluteten, wurde diese aufgelöst und wir nach Hause entlassen.

Den Einmarsch der Russen erlebten meine Mutter, meine beiden jüngeren Geschwister (im Sommer 1944 war noch eine Schwester hinzu gekommen, geboren wurde sie übrigens in Graal-Müritz, sie hatte also auch wie mein Bruder das Licht der Welt in Mecklenburg erblickt) und ich bei meiner Großmutter und anderen Verwandten in Neuhof mit den sattsam bekannten unerfreulichen und unangenehmen Begleiterscheinungen, um es gelinde auszudrücken. Als sich die Lage einigermaßen stabilisiert hatte, machten wir vier uns auf den Weg nach Rostock, um unseren Vater zu suchen. Wir legten die Strecke teils zu Fuß zurück, manchmal nahm uns auch ein Leiterwagen mit, und einmal konnten wir sogar, mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Güterzug mitfahren. Es war Nacht, der Wagon nur spärlich erleuchtet, wir alle saßen auf unseren Rucksäcken, Stimmengewirr erfüllte die Luft, denn jeder wollte seine mehr oder weniger schlimmen Erlebnisse loswerden. Plötzlich sagte eine laute Stimme in die Menge hinein: "Wisst Ihr eigentlich, was die Nazis mit den Juden gemacht haben?" Nach einer Weile gab diese Stimme selbst die Antwort: "Sie haben sie alle vergast!" Von da an hörte und sah ich nichts mehr. Ich saß wie erstarrt auf meinem Rucksack: das also war das Grauen, das in den letzten Jahren in der Luft gelegen hatte und das ich immer wieder zu spüren meinte und das ich in meinem noch kindlichen Gemüt weder zu erklären noch aufzulösen imstande war.

Nach einer Weile war, nach manchem Hin und Her, unsere fünfköpfige Familie wieder zusammen. Die Rostocker Wohnung war beschlagnahmt und ausgeraubt worden, und wir fanden Unterkunft auf dem Lande in der Nähe von Neuhof. Das Wohnhaus meiner Großeltern war durch Brandstiftung inzwischen ein Raub der Flammen geworden. Meine Großmutter (der Großvater lebte damals nicht mehr) wohnte oder besser gesagt, hauste mit meiner Tante, ihrer Schwiegertochter, und dem einjährigen Enkel in einem der Ställe. Der Sohn der Großmutter, der Vater des Enkels, also mein Onkel, war ein Jahr vor dem Krieg gefallen. Unser Unterschlupf wiederum befand sich genau neben einem Schweinestall. Wir lagen im wahrsten Sinne auf Stroh und hatten Mühe, uns der herum huschenden Mäuse zu erwehren. Meine Mutter hat in dieser Zeit, wie sie mir später beichtete, an Selbstmord gedacht. Aber dann sagte sie sich: "Wir wollen doch mal sehen, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauszukommen." Sie sei einfach neugierig darauf gewesen, wie unser Leben weiter gehen würde.

Eine Weile, nachdem die Schulen im Herbst 1945 wieder angefangen hatten, ging auch ich erneut zur Schule und zwar in Schwerin am Pfaffenteich. Gewohnt habe ich dort bei einer Schulfreundin meiner Mutter. Obwohl die Nachkriegsepoche entbehrungsreich und hart war, empfand ich die Schweriner Zeit als die schönste Zeit in meinem Leben. Ich hatte einen großen Freundeskreis, der trotz mancherlei Bedrohung, wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Kein Wunder, dass ich mich mit Händen und Füßen gewehrt habe, als es hieß: Wir gehen in den Westen. Mein Vater war schon drüben. Er hatte ein Jahr zuvor, von den russischen Besatzern den Befehl erhalten, an der Oder Aufbaudienste zu leisten. Da hielt er es für geboten, um nicht womöglich noch weiter in den Osten geschickt zu werden, sich "schwarz über die grüne Grenze" in den Westen zu schleichen. Nun sollten wir nachkommen. Natürlich half mir mein Protest nicht. Ich musste wohl oder übel mit, und so schnürten wir, meine Mutter und wir drei Kinder unser Ränzel - unser Nachbar meinte scherzhaft, als wir von ihm in diesem Aufzug Abschied nahmen, wir erinnerten ihn an den Auszug der Kinder Israel. Mit einem Fluchthelfer, mit seiner Braut und anderen Fluchtwilligen machten wir uns auf den Weg an die Grenze. Aber o' weh, wir hatten die Rechnung ohne die Grenzpolizisten gemacht. In Salzwedel, wo wir nachts ankamen, waren wir plötzlich von einigen dieser Wächter umringt und wurden von ihnen auf die Wache gebracht. Doch wo war unser Fluchthelfer? Er hatte sich rechtzeitig aus dem Staube gemacht und uns samt seiner Braut im Stich gelassen. Wir wurden eine Weile festgehalten und verhört. Schließlich bekamen wir unsere Ausweise zurück, versehen mit dem Stempel: "Wegen versuchten illegalen Grenzübertritts .. verwarnt und zurückgewiesen." Anschließend brachte man uns zum Bahnhof und setzte uns in einen Zug, der uns an unseren Ausgangsort zurückbringen sollte. Aber diesmal war es die Grenzpolizei, die die Rechnung ohne den Wirt oder besser, ohne meine Mutter gemacht hatte. Ihr war mittlerweile eingefallen, dass sie Bekannte in Wittenberge hat, die uns vielleicht aufnehmen und weiterhelfen könnten. Was auch geschah. Die Bekannten behielten uns bis zum Abend in ihrer Wohnung und zeigten uns einen Weg durch den Wald, den wir nehmen sollten, um über die Grenze zu gelangen. Wohlgemut wagten wir das Experiment zum zweiten Mal. Als wir jedoch im Wald bei einer Wegbiegung angekommen waren und noch überlegten, welche Richtung wir einschlagen sollten, erhob sich plötzlich vor uns aus dem Gras ein Grenzpolizist und forderte uns barsch auf: "Stehenbleiben." Diesmal wurden wir zu einer Waldlichtung geführt, auf der schon einige Fluchtwillige deponiert worden waren. Nun ja, bis zum Morgengrauen kamen noch etliche andere hinzu. Wieder stand uns ein langer Marsch Richtung Bahnhof, diesmal war es der von Wittenberge, bevor. Natürlich konnten wir, immerhin war meine kleine Schwester noch keine vier Jahre alt, mit den anderen nicht Schritt halten und wollten es auch nicht. Wir bummelten absichtlich ein wenig, bis der uns begleitende Grenzpolizist endgültig die Geduld verlor. Er händigte uns unseren Ausweis aus mit dem üblichen, uns nun schon bekannten Vermerk (glücklicherweise hatten wir einen noch unbefleckten Ausweis, denn hätte der Grenzwächter von unserem ersten Versuch erfahren, wäre es uns sicher schlechter ergangen) und ermahnte uns, auf jeden Fall mit dem Zug in Richtung Heimat zu fahren. Meine Mutter versprach es ihm hoch und heilig. Gleichwohl gingen wir wieder zu den Wittenberger Bekannten. Wieder wussten sie Rat. Vielleicht sei es besser, meinten sie, den Weg zur Grenze direkt durch Schilf und Morast an der Elbe entlang zu nehmen. Dieser sei zwar länger und mühseliger als der Weg durch den Wald, aber vielleicht auch erfolgsversprechender. Wir müssten vor allem, wenn wir an das Forsthaus kämen, warten bis 6 Uhr, dann sei nämlich Wachablösung und dann würden die Uniformierten die Grenze nicht ständig im Auge behalten. Gesagt, getan, wir warteten am Forsthaus auf die Wachablösung, und als wir diese bemerkten, schlichen wir uns geduckt durch das Schilf an der Elbe entlang, diesmal unbemerkt, und siehe da, nach geraumer Zeit kamen wir tatsächlich an die Grenze bei dem westdeutschen Städtchen Schnackenburg an. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Wir mussten eine kleine Furt überqueren und waren drüben, im "goldenen Westen", zuerst meine Mutter mit meinem Bruder. Ich schleppte mich mit meiner Schwester huckepack hinterher. Meiner Mutter ging das nicht schnell genug, sie kam noch mal zurück und half uns beiden mit einem "dalli, dalli" hinüber. Nun war es geschafft. Wir atmeten tief durch und schauten uns vergnügt an. In einem Gasthaus baten wir um Wasser zum Waschen, das uns dann auch im Hinterhof bereitgestellt wurde von einer etwas unwilligen und brummelnden Gastwirtin, auf die wir, verdreckt wie wir nun einmal waren, nicht gerade einen Vertrauen erweckenden Eindruck machten. Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Schiff auf der Elbe entlang, grüßten nochmal, so lange es möglich war, die östliche Uferseite bei Dömitz, und kamen so nach Hamburg zu Bekannten. Von dort aus ging es in das Auffanglager Lübeck. Mein Vater holte meine Schwester und mich dann ab nach Arnsberg, während mein Bruder, der sich in der feuchten Nacht an der Elbe eine Lungenentzündung eingefangen hatte, erst einmal ins Krankenhaus kam und nun natürlich den Beistand meiner Mutter brauchte.

So endeten meine Mecklenburger Jahre, und es begann die westfälisch-sauerländische, aber keineswegs sauertöpfische Zeit, die offensichtlich noch einige Jahre andauern wird.

Apropos: Die Innenräume der Rostocker Kirchen und viele Dorfkirchen, die sich während unserer Studienfahrten als wahre Kleinodien entpuppten, habe ich jetzt erst auf den Reisen nach der Wende kennen gelernt. Da meine Eltern während des Dritten Reiches aus der Kirche ausgetreten waren, habe ich in meiner Kindheit kaum eine Kirche von innen zu Gesicht bekommen.

Und noch etwas: Lange hatten wir geglaubt, wir würden Mecklenburg nie wieder besuchen können. Doch der Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks hat es möglich gemacht. Für meine Eltern indes kam dieses Ereignis zu spät. Meine Mutter, die davon oft geträumt hatte, sie dürfe ihre Mecklenburger Verwandten und Bekannten wieder besuchen, starb in den siebziger Jahren, mein Vater wenige Monate vor der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.


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