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Ist Nietzsche von Gott losgekommen?

Ob er wirklich vom Christentum loskommen wollte, ist noch die Frage, denn Nietzsche selbst hat in einem Brief an Overbeck den Wunsch geäußert, "dass es mit allen Dingen anders stehen möge als ich sie begreife, und dass mir jemand meine `Wahrheiten` unglaubwürdig mache"

"Mitunter sehne ich mich danach, mit Dir(Overbeck) und Jacob Burckhardt eine heimliche Konferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie ihr um diese Not herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Ich halte mir das Bild Dantes und Spinozas entgegen, welche sich besser auf das Los der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen Gott zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als Einsamkeit kenne. Mir besteht mein Leben in dem Wunsche, dass es mit allen Dingen anders stehen möge, als ich sie begreife; und dass mir jemand meine`Wahrheiten`unglaubwürdig mache."

"Belehret mich, so will ich gerne schweigen!" rief Nietzsche aus. /
"Bin ich im Irrtum, ei so tut mirs kund! /
Wie süß sind ehrliche, gerade Worte! /
Doch was beweist mir Rüg aus eurem Mund? /
Ist eure Absicht, Worte nur zu rügen? /
Ist für den Wind nur, was Verzweiflung meint? /
Ihr würfet Los selbst über eine Waise, /
Würdet verschachern euren eigenen Freund."

Nietzsche ist Gott offensichtlich nicht losgeworden. Er spürt noch die Nachwirkungen des Glaubens. Unverkennbar ist seine starke Beeinflussung durch christliche Gedanken und Ideale. Er hat (Emanuel Hirsch) im tiefsten Grund seiner Seele das christliche Bild der sich hingebenden reinen Liebe als der höchsten Erscheinung menschlich-persönlichen Lebens nicht zu bezwingen vermocht; er hat heimlich - wohl uneingestanden und sicherlich wider Willen - an es geglaubt. Bestimmend bleibt für Nietzsche das christliche Menschenbild in der von Luther geprägten Form. Hirsch meinte:"Nietzsches ethisches Urteil über den Menschen ist lebenslänglich bestimmt gewesen durch den scharf zugespitzten Pessimismus der lutherischen Erbsündenlehre. Wenn er dabei auf die Begriffe Schuld und Sühne verzichtet, so geschieht dies, weil er darauf verzichtet, den Menschen anders machen zu wollen, als er nun einmal geworden ist." Den Menschen so nehmen wie er ist, ihn in seinem Sosein bejahen.

Im Nachlass zum "Zarathustra" heißt es: "Ich habe den ganzen Gegensatz einer religiösen Natur ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Perspektive für Gott." Gott-Teufel darf es das, fragt Ulrich Beer, "für einen areligiösen Menschen überhaupt noch geben!"

Wer so wie Nietzsche Mensch und Welt ausschließlich unter dem Gegensatz Dionysos-der Gekreuzigte interpretiert, der scheint eher einer immer noch letztlich religiös motivierten Deutung des Lebens zuzuneigen als sie gleichmütig hinter sich zu lassen. Die Verabschiedung des Christentums ist dem Antichristen Nietzsche trotz gegenteiliger Beteuerungen offensichtlich misslungen. Von dem Gedanken einer möglich Heimkehr ist er wohl niemals richtig losgekommen. In seinem Nachlass fand sich folgende Notiz: "Das-nicht-fertigwerden mit dem Christentum." Kurz nach dem Ausbruch seiner Krankheit unterschrieb er seine Briefe mit "Dionysos" oder "Der Gekreuzigte". "Dionysos gegen den Gekreuzigten; da habt ihr den Gegensatz." Einmal schreibt er - gleichsam die Signatur einer Kapitulation: "Christus am Kreuz - das erhabenste Symbol, immer noch."

Ist Nietzsche an seinen "Wahrheiten" - oder waren es am Ende doch wieder nur Irrtümer? - zerbrochen? Vielleicht ist es in der Tat eine Illusion, zu glauben, wir könnten auf sogenannte "Wahrheiten" gänzlich verzichten. Vielleicht wäre es in der Tat humaner und ratsamer, man beließe den durchschnittlichen Menschen weiterhin, um mit Nietzsche zu sprechen "in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend."

Wir wissen nichts und bedürfen Gottes oder der Religion, wenn wir diesen Zustand des Nichtwissens und der Gleichgültigkeit der Welt uns gegenüber nicht ertragen können.

Der kranke Nietzsche bat seine Mutter, mit der er auch gelegentlich die Kirche besuchte, hin und wieder ihm Choräle aus einem alten Choralbuch vorzusingen oder Psalmen aus der Bibel vorzulesen. Wenn die Kirchenglocken den Sonntag einläuteten, wurde er still und andächtig.

Aber hören wir selbst, was seine Mutter über ihren Sohn am 7.Juni 1890 an Overbeck schreibt "Er selbst spielt alle Tage ein wenig, teilweise seine kleinen Kompositionen oder aus einem alten Choralbuch Choräle. Überhaupt macht sich bei ihm die religiöse Stimmung mehr und mehr geltend, er erzählte mir auch in den Pfingsttagen, als wir ganz still auf der Veranda saßen, wo ich eine alte Bibel liegen habe, dass er in Turin die ganze Bibel studiert habe und sich tausenderlei notiert habe, als er mich animierte, den und den Psalm oder da und das Kapitel ihm vorzulesen, und ich meine Bewunderung aussprach, woher er so bibelkundig sei."

Natürlich darf man daraus keine Schlüsse auf eine Wandlung ziehen, wenn er der Welt, wie es eine Zeitlang tatsächlich schien, als Gesunder wiedergegeben worden wäre. Aber tiefenpsychologisch beurteilt, sind die von Nietzsches Mutter geschilderten Vorfälle keineswegs irrelevant.

Wegen seiner Krankheit hatte Nietzsche keine Möglichkeit oder Gelegenheit, sich am Ende seines Lebens versöhnlich zu geben oder Kompromisse einzugehen. Aber wahrscheinlich hätte er, wenn er seine letzten Lebensjahre bei geistiger Gesundheit erlebt und so gestorben wäre, keinen Grund gehabt, von seinen Anklagen auch nur ein Jota zurückzunehmen. Gehofft hat er allerdings, dass ihn jemand davon überzeugen könnte, dass er Unrecht habe und dass sich alles ganz anders verhalte als er es gesehen hat.

Im letzen Jahr seines Denkens sprach Nietzsche von dem erst kommenden Werke, das "die nachträgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines aus hundert Gründen ewig problematischen Seins") bringen würde. Es zu schaffen, blieb ihm versagt, aber, so Jaspers, wir würden ihm Unrecht tun, wenn wir dieses Wort von ihm aus dem letzten Jahr seines Denkens vergessen würden.


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