. . auf


Nietzsche und das Christentum

Bekanntlich hat der Philosoph Friedrich Nietzsche das Christentum heftig attackiert und mit einer zügellosen, unerhört schroffen Sprache verworfen. "Mit einem außerordentlichen Reichtum an Gesichtspunkten", so Jaspers, "stellte er christliche Wirklichkeiten bloß, wobei er die Gründe früherer Gegnerschaften mit aufnahm und herkömmliche Maßstäbe radikal ad absurdum führte."

Was warf Nietzsche dem Christentum vor?

Nietzsche warf ihm vor, es habe den Lebenswillen geschwächt. Die Begriffe Gott, Jenseits, Seelenheil und Sünde seien nur erfunden worden, um das Leben in Frage zu stellen, das Diesseits zu entwerten, den Leib zu verachten und die Menschen zu knechten, moralisch zu erniedrigen und zu terrorisieren. "Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit und des Geistes: zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung."

Zudem sei das Christentum eine Religion der kaum maskierten Rachegefühle, weil es ein Sieg der Schlechtweggekommenen, Schwachen und Ohnmächtigen sei. Nietzsche behauptete weiter, das Christentum habe dem Eros Gift zu trinken gegeben, an dem er zwar nicht gestorben, aber zum Laster entartet sei. "So ist es denn dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite - großen idealfähigen Mächten - höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ." Das Christentum mache krank, es habe "die Krankheit nötig, ungefähr wie das Griechentum einen Überschuss von Gesundheit nötig hat", sagte Nietzsche und: "Das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit." Nietzsche lastete dem Christentum "Vergiftung, Verleumdung, Verneinung des Lebens, die Verachtung des Leibes, die Herabwürdigung und Selbstschändung des Menschen durch den Begriff Sünde" an. Die einzige Praxis der christlichen Kirche bestehe darin, der Menschheit jedes Blut, jede Liebe und jede Lebenshoffnung aus den Adern zu saugen. Das Christentum sei die schlimmste Verschwörung, die es je gegeben habe, gegen alles, was gesund, schön, wohlgeraten und gut sei, ja gegen das Leben selbst.

Im Christentum und im Judentum, in dem das Christentum seine Wurzeln hat, sah der Philosoph Phänomene der "Décadence" und im gekreuzigten Gott ein "Ärgernis", "ein Fluch auf das Leben." Denn von Beginn an habe die christliche Religion unser irdisches Leben diffamiert und geschwächt. Der Nihilismus sei nicht, wie oft missverstanden, eine von ihm, Nietzsche, vorgetragene Leugnung von Sinn und Religion, sondern "eine innere Verfassung des Christentums selbst." Christentum war für Nietzsche, infolge seiner moralisch motivierten Weltverneinung, "die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines Willens zum Untergang - ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmutigkeit, Erschöpfung und Verarmung an Leben."

Nietzsche unterstellte dem Christentum extreme Lebensfeindlichkeit: Es macht keinen Mut zum Leben, es erzieht zum Muckertum, zum Herdendasein, zur Verderbnis der Vernunft durch die Erbsünde, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit, weder die Moral noch die Religion berührt im Christentum mit irgendeinem Punkte Wirklichkeit. Es verlegt das Schwergewicht des Lebens ins Jenseits, nicht ins Leben. Richtet nicht, sagen sie, aber sie schicken alles in die Hölle, was ihnen im Wege steht.

Das Christentum ist die lebensfeindliche Macht schlechthin, die auch in einer prinzipiellen Kunstfeindlichkeit zum Ausdruck kommt. Nach ihren anfänglichen Siegen über die Völker des Abendlandes in der Zeit der Renaissance sei das Christentum beinahe schon durch die lebensbejahenden Mächte überwunden worden, hätte sich nicht eine Erneuerung der christlichen Religion in der Gestalt Luthers gegen die Renaissance erhoben und die endgültige Vernichtung der lebensfeindlichen Macht des Christentums und der Kirche aufgehoben. Nietzsche kritisierte die Reformation als Reaktion gegen die frühe Aufklärung der Renaissance, die der Philosoph vor allem durch Petrarca, Erasmus von Rotterdam und Voltaire verkörpert sah. Der Protestantismus glaubte, laut Nietzsche, das Christentum gereinigt zu haben, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte. Nietzsche, der Sohn eines evangelischen Pfarrers, beurteilte Luther und sein Werk in Ausdrücken, die an die heftigste konfessionelle Polemik der älteren katholischen Geschichtsschreibung erinnern. Luther erscheint bei ihm als "der gefährlichste Pessimist", der jenen Grundirrtum gebracht habe, "dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen", der die Menschen mit einem "geistlichen Überfall überrumpelt."

Nietzsche wendet sich oft mit scharfen Worten gegen einen Glauben, zu dem sich, seiner Meinung nach, moderne Menschen, also Menschen seines,nämlich des 19.Jahrhunderts, heuchlerisch bekennen, ohne auch nur im Entferntesten daran zu denken, ihm entsprechend zu handeln - "außer vielleicht zum Abendmahl zu gehen."

Martin Teske schreibt in „Lutherische Monatshefte August 2000, dass Nietzsche unter der Verkündigung eines verniedlichten Christusbildes gelitten habe -“mit Synonymen wie 'Lämmlein' und 'Flämmlein', wie sie im Pietismus des 18.Jahrhunderts üblich sind und zu seiner Zeit durch Erweckungsdichter nachgeahmt und neu belebt werden. Er hat auch darunter gelitten, dass Religion und Glauben in seiner Zeit Kultur verhindern, sich gegen die freie Entfaltung des Geistes stellen. Auf Grund dieser Verlogenheit und Ignoranz von Jahrhunderten, die auf der Kirche lasten, bezeichnet er den christlichen Glauben als 'Dekadenz im Prinzip', und so will er ohne Religion, ohne Kirche auskommen in seinem Denken. Aber er trifft mit seiner Kritik eben nicht die Botshaft des Evangeliums, sondern nur eine in sich konfuse Kirche, die über eigene Begrifflichkeiten stolpert und deren landesweite Repräsentanten ein überwiegend trauriges Bild bieten.“

Wenn Nietzsche den Glauben angreift, dann bedient er sich zweier Argumente: eine Überzeugung beweist keine Wahrheit, und: das Blut der Märtyrer ist ohne Bedeutung, wenn es darum geht, Wahrheit zu beweisen.

Wandlung des jungen"Musterchristen"zum Verächter des Christentums

Doch wie kam es bei Nietzsche, dem Sohn aus einem konservativ und pietistisch gestimmten Pfarrhaus, zu dieser Entwicklung?

Nietzsches Elternhaus war ein Hort protestantischer Frömmigkeit. Durch Generationen war die Familie dem lutherischen Glauben verbunden. Geachtet, gottesfürchtig, rechtschaffen und provinziell, verkörperte sie alle Tugenden und Überzeugungen des deutschen Pfarrhauses, von denen ihr begabtester Spross sich im Laufe seines Lebens so weit und nachdrücklich entfernen sollte. Während seiner Jugend war Nietzsche mit verschiedenartigen Glaubensrichtungen bekannt geworden, die pietistisch erweckliche war für ihn dabei dominant. Stammten doch beide Eltern aus dieser Pfarrhaustradition. Sein Vater, der Pastor Carl Ludwig Nietzsche aus Röcken (Sachsen) wählte für die Taufe seines Sohnes als Bibelspruch die Frage der lukanischen Kindheitsgeschichte: "Was meinst du, will aus diesem Kindlein werden?" Diese Frage hat Nietzsche später mit dem Satz beantwortet:"Ich bin, auf griechisch und auf nicht griechisch, der Antichrist."In seiner Kindheit nannten ihn seine Schulfreunde wegen seines Ernstes und seines Bibelwissens, halb anerkennend, halb ironisch, den "kleinen Pastor". Nietzsche war in der Tat ein ernstes, nachdenkliches Kind, das sich in der Bibel gut auskannte und von rührender Frömmigkeit war. Bezeichnend für seine religiöse Entwicklung ist die Bemerkung seines Jugendfreundes Paul Deussen, der von der "heiligen, weltentrückten Stimmung" zu berichten wusste, von der die beiden Freunde zur Zeit ihrer Konfirmation erfüllt waren. 1861 wurden beide konfirmiert. In Nietzsches Nachlass fand sich der ebenso knappe wie erstaunliche Satz:"Als Kind Gott im Glanze gesehen." Ein ungelenkes Jugendgedicht mit dem Titel "Du hast gerufen" gipfelt in dem Bekenntnis "Von Lieb entglommen/strahlt mir so herzlich/schmerzlich/dein Blick ins Herz ein, Herr, ich komme."

"Ich bin eine Pflanze, nahe dem Gottesacker geboren", schreibt der Neunzehnjährige in einer autobiographischen Skizze. Aber schon als Knabe berichtet er von seinen Zweifeln, "ob nicht zweitausend Jahre die Menschheit ein Trugbild irregeleitet hat." Die Nähe zu Christen und seine Herkunft aus dem protestantischen Pfarrhaus nahmen dann für ihn eine andere Bedeutung an, sobald ihm bewusst zu werden begann, dass die Christen in ihrem Christsein zumeist nicht vollkommen sind. Der innere Erdrutsch, der dann das Gebäude seines Kinderglaubens lautlos zum Einsturz brachte, vollzog sich nicht abrupt, sondern ganz langsam, zunächst mit der glänzenden logischen und philologischen Schulung in Pforta. Diese führte ihn unbemerkt und unversehens in eine kritische Distanz zum Glauben seiner Väter. Die Zweifel am Christentum und dessen völlige Ablehnung waren zunächst also eine unbeabsichtigte Folge von Nietzsches Ausbildung. Er selbst rühmte sich später, dass er als Atheist in Schulpforta niemals das Tischgebet mitgesprochen habe und dass er auch nie zu den üblichen Gebetsübungen herangezogen worden sei. Beeinflusst wurde Nietzsches Gesinnungswandel auch durch entsprechende Lektüre, vor allem durch das Buch"Leben Jesu" von David Friedrich Strauß, den er schon als Schüler zum Entsetzen seiner Familie gelesen hatte. Diese Anregung wirkte fort. (Später allerdings hat Nietzsche, als er die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" schrieb, Strauß heftig angegriffen, weil Strauß in seinem Spätwerk zu einem optimistischen Lebensgefühl auf der Grundlage der Wissenschaft seiner Zeit gekommen war, wonach die Welt vernünftig und gut sei.) Außerdem wirkte sich der Einfluss einiger Lehrer auf Nietzsche aus, die mit Entschiedenheit die historisch kritische Methode, eine Spätfrucht der Aufklärung, vertraten. Gleichwohl hatte Nietzsche bei seinem Schulabgang noch keineswegs mit Christentum und Religion gebrochen. Das Fach Religion hat ihn bis zuletzt interessiert. Im Reifezeugnis ist vermerkt:"Im Unterricht bewies er reges und lebendiges Interesse an den Heilslehren des Christentums, eignete sich dieselben leicht und sicher an, verband damit ein gutes Verständnis des neutestamentlichen Grundtextes und verstand es auch, mit Klarheit sich darüber auszusprechen. Es wird ihm deshalb das Prädikat vorzüglich erteilt, wie er denn in der mündlichen Prüfung vorzüglich bestand."

Religiöse Tradition wurde Nietzsche auch in Bonn durch theologische Vorlesungen und eigene theologische Lektüre vermittelt. Er hatte sogar dem Drängen seines Elternhauses nachgegeben und ein Theologiestudium an der Bonner Universität begonnen, wechselte aber bald zur klassischen Philologie über. In Bonn traf er auf eine mehrheitlich katholische Umgebung und war auch dort noch anfangs bestrebt gewesen, seinen christlichen Glauben existentiell zu leben. Zudem ist er hier Menschen begegnet, für die Leben und Glauben zu einer Einheit verschmolzen. Die durch sie erlebte Praxis der Frömmigkeit(praxis pietatis)hat auf Nietzsche mehr Wirkung ausgeübt als tote Bücherweisheit. Überdies findet man bei Nietzsche, auch in späteren Jahren, Sätze, die mit seiner antichristlichen Einstellung unverträglich erscheinen. In einem Brief an seinen Freund Peter Gast vom 21.7.1881 schreibt er:" Mir fiel ein, lieber Freund, dass Ihnen an einem Buche (Morgenröthe) die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem Christentum fremd, ja peinlich sein muss, es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennengelernt habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen - vergeben Sie mir diese Beschränktheit!" Immer wieder hat der gesunde Nietzsche fest in ihrem christlichen Glauben stehende Bekannte, vor allem auch seine Mutter, inständig gebeten, seine "von einem ganz anderen Standpunkte" geschriebenen Werke nicht zu lesen.

Nietzsche, der immerhin von beiden Eltern aus Pfarrersfamilien stammt und die Wirkung der Bibel zu bejahen vermag, sagte auch:"Ich rechne es mir zur Ehre, aus einem Geschlecht zu stammen, das in jedem Sinne Ernst mit seinem Christentum gemacht hat." Nietzsche hat seine Nähe zu Christen und seine Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus durchaus als etwas Unersetzliches bewertet.

Überdies hat er sich zur Bibel zeit seines Lebens längst nicht so ablehnend verhalten wie später zur christlichen Kultur und zur Kirche. Vom Alten Testament sagte er, in ihm gebe es "Menschen, Dinge und Reden in einem so großen Stile, dass das griechische und indische Schrifttum ihm nichts zur Seite zu stellen hat."

Von größter Tragweite wird für ihn bald die Berührung mit der Musik Richard Wagners, und zum entscheidenden Bildungserlebnis gerät ihm dann die Lektüre der Werke Schopenhauers, in denen Schopenhauer das Christentum als eine Religion der Lebensverneinung dargestellt hat. Vor allem aber hatten die theologischen Vorlesungen, die er anfangs besucht hatte, den schon seit langem keimenden Zweifel am Christentum gefördert. Der Theologensohn Nietzsche, dem die Berührung mit strenger Wissenschaft, den Kinderglauben endgültig zerstört hatte, setzte dann an die freigewordene Stelle religiöser Erbauung die Philosophie. Bald bekennt er sich offen zu einer radikal kritisch nihilistischen Sicht der Dinge. Er beginnt mit der Bildungskritik, geht dann zur Wissenschafts- und Kulturkritik über, um sein kritisches Werk schließlich durch den Angriff auf die abendländische Moral, die Religion und auf das Christentum zu krönen.

Nietzsches Kampf gegen das Christentum ist nicht nur eine akademische Angelegenheit

Dieser Kampf spiegelt auch seine eigene Daseinsproblematik. Die Lebensfrage, die den jungen Nietzsche schon früh grundlegend bewegte, ausgelöst nicht zuletzt durch den frühen Tod seines Bruders und seines Vaters und seiner eigenen gesundheitlichen Störungen, war die Frage: Wie ist angesichts des Schreckens des Lebens, seiner Grausamkeit und seiner über das einzelne Lebensschicksal hinwegziehenden Gleichgültigkeit eine Bejahung des Lebens überhaupt möglich? Nietzsche leidet an einer allgemeinen Lebensentwertung, für die er dann auch seine Erziehung im christlichen Glauben verantwortlich macht. Seinen Angriff auf das Christentum rechtfertigt er mit folgenden Worten(Nachlass):"Wenn ich dem Christentum den Krieg mache, so steht mir dies einzig deshalb zu, weil ich nie von dieser Seite aus Trübes oder Trauriges erlebt habe - umgekehrt die schätzenswertesten Menschen, die ich kenne, sind Christen ohne Falsch gewesen. Ich trage es den einzelnen am letzten nach, was das Verhängnis von Jahrtausenden ist. Meine Vorfahren selbst waren protestantische Geistliche: hätte ich nicht einen hohen und reinlichen Sinn von ihnen her mitbekommen, so wüsste ich nicht, woher mein Recht zum Kriege mit dem Christentum stammte. Meine Formel dafür: der Antichrist ist selbst die notwendige Logik in der Entwicklung eines echten Christen, in mir überwindet sich das Christentum selbst." Nietzsche hat also das ernsthafte und echte Christentum, das er zu allen Zeiten für möglich hielt, stets respektiert. Seine Feindschaft gegen das Christentum ist in Wirklichkeit untrennbar von seiner tatsächlichen Bindung an das Christentum als Anspruch. Er ist sich bewusst, erst der moralische Antrieb des Christentums hat die Grenzenlosigkeit des Wahrheitswillens hervorgerufen. Er will das Christentum keineswegs als Christentum preisgeben, nicht rückgängig machen und nicht aus ihm zurückfallen, er will es überwinden und überbieten mit Kräften, die das Christentum entwickelt hat. Darum fand auch nicht jeder Kampf gegen die Kirche seinen Beifall. Denn Nietzsche ist, wie Jaspers einmal sagte, „Gegner des Christentums aus christlichen Gründen.“

Widerspruch zwischen Leben und Moral

Nietzsche hat einen unaufhebbaren Widerspruch zwischen Moral und Leben entdeckt und verfolgt diesen bis in seine sublimsten Verästelungen und Verstecke. Er zögert nie, weder im großen noch im kleinen, den "Widersinn" der Moral bloßzustellen. Dennoch ist bis heute strittig, wie seine Antwort eigentlich ausgefallen ist, gerade im Hinblick auf die Moral. Seine radikale Kritik an der Moral ist zwar ein Faktum, fraglich ist aber, welche Absicht er damit verfolgt.

Es gibt Anzeichen dafür, dass er der Ansicht Platons treu bleibt, dass der Mensch auf Tugenden nicht verzichten könne, solange er sich selbst einen Wert beimisst. Doch nichts könne mehr auf eine causa prima zurückgeführt werden. Das Sein sei weder als Sensorium noch als Geist eine Einheit, "dies erst ist die große Befreiung - damit erst ist die Unschuld des Werdens wiederhergestellt."

Aber Moral, so könnte man Nietzsche weiter interpretieren, darf nicht aus dem Leben herausführen, wie es seiner Meinung nach bei der christlichen Moral der Fall ist, sie muss dem Leben dienen. "Das Ziel der christlichen Moral ist nicht das irdische Glück, sondern die irdische Unseligkeit. Das Ziel des praktischen Christen, der in der Welt steht, ist nicht der Welterfolg, sondern das Nicht-mehr-Handeln-müssen oder sogar der Misserfolg. Jene Unseligkeit und diese Misserfolge sind die Mittel der Entweltlichung." Das Christentum, behauptet Nietzsche, erzeuge eine "Sklavenmoral" - allerdings hatte er nur das infantil pietistische Christusbild sentimentaler Weichheit und Passivität kennen gelernt. Gegen dieses Christentum richtet sich sein Kampf sowie gegen das Bürgertum, dessen Moral er für verlogen hält und gegen den Pöbel, der alles Gut und Hohe bedroht.

"Wenn das Christentum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammnis Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heil zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vorteil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus den Augen zu lassen."(MAN) "Was vom Christentum übrig geblieben ist, ist ein sanfter Moralismus. Nicht sowohl Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind übriggeblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden."

"Glaube heißt nicht wissen wollen, was wahr ist"

"Glaube heißt Nicht-wissen-wollen, was wahr ist", konstatiert Nietzsche. Schon deshalb seien antiker Geist und christliche Botschaft miteinander unvereinbar. Aber in der langen Geschichte der Unterwerfung heidnischer Kulturen durch die Kirche wurde schließlich auch der Wissenschaft das freie Bewusstsein der Erkenntnis genommen;so habe sie den Mut der Wahrhaftigkeit und den Stolz der Redlichkeit verloren.

"Auch wir leugnen nicht, dass der Glaube selig macht: eben deshalb leugnen wir, dass der Glaube etwas beweist - ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen das, woran er glaubt, er begründet nicht 'Wahrheit', er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit - der Täuschung."(MAN)

"Erst das Christentum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christentum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche er dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die tiefste Wurzel erschüttert: aber immer noch besteht der Glaube an die Krankheit, welchen er gelehrt und verbreitet hat."(MAN)

Nietzsches Gottesbegriff

"Der Begriff Gott war bisher der größte Einwand gegen das Dasein...Wir leugnen Gott, leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt."(WzM) Der Vater in Gott sei gründlich widerlegt, meint Nietzsche, ebenso der Richter, der Belohner, insgleichen sein freier Wille, er hört nicht - und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich mitzuteilen: Ist er unklar? - "Dies ist es, was ich als Ursache für den Niedergang des europäischen Theismus in vielerlei Gesprächen fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt." Nietzsche greift hier unmittelbar die Anliegen Hiobs auf, für den die bloße Preisgegebenheit nicht sowohl in das Leiden als in die Sinnlosigkeit desselben keine legitime Antwort auf die Fragen seiner religiösen Redlichkeit bedeutet.

"Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen jene schleudert, die nicht an diese Liebe glauben", so charakterisiert Nietzsche den Christengott. Wenn Gott wirklich ein Gegenstand der Liebe werden wollte, dann hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen:" . . ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. "Gott ist ein Krankengott, so wie sich Christen Gott vorstellen, ist das nicht nur ein Irrtum, sondern Verbrechen am Leben." Nietzsche will dagegen nur an einen Gott glauben, "der zu tanzen verstünde." "Verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde."

Der das ganze christliche System verklammernde Zentralbegiff ist für Nietzsche der Gottesbegriff, der herausgebrochen werden müsse. Denn in der Idee eines alles leitenden und überschauenden Gottes sei der "größte Einwand gegen das Sein" zur Weltherrschaft gelangt. Diese Herrschaft müsse gebrochen werden. Die Machtfülle Gottes ging aus Akten menschlicher Selbstverarmung hervor. Weil es der Menschheit an Mut zu sich selbst gebrach, trat sie ihre höchsten und heiligsten Attribute an die Fiktion eines über ihr stehenden Gottes ab. Diese müssen wieder für ihren ursprünglichen Besitzer reklamiert werden.

Nur in der Feststellung, dass die Beziehung zu Gott abgebrochen sei, besteht für Nietzsche die den Menschen allein zugängliche Form des Atheismus, das, was er den menschenmöglichen Atheismus nennt. Nietzsche möchte durch die Strategie der Gott-Losigkeit den Menschen zur letzten Steigerung seiner Möglichkeiten führen. "Wenn wir nicht aus dem Tod Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen."

Nietzsche berauscht sich stattdessen an der ewigen Wiederkehr. In die ungeheure Leere, die der Tod Gottes hinterließ, tritt für ihn alles erfüllend die dionysische Welt. Sie bedarf keines göttlichen Grundes und erst recht keines Ziels. In einem Kraftakt ohnegleichen sucht der Philosoph die bereits aus den Fugen gegangene und dem Nichts entgegendriftende Zeit vollends aus ihrer Verankerung zu reißen, um Raum für eine Alternative zu gewinnen.

Nietzsche weiß um die seit Kopernikus und Kant wachsende, schon von den Sophisten und von Platon formulierte Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Erkennens. Er macht bewusst, auf welche Sicherheiten der Mensch verzichten müsse, wenn er mit der Einsicht in die Endlichkeit seines Erkennens und Handelns Ernst macht.

Ernst Benz(1907-1978)schreibt hierzu:"Wie soll der Mensch seine redliche Zustimmung einer Wahrheit geben, welche ihm das Geheimnis seiner Existenz zu enthüllen verspricht, ihm aber im vorhinein jede Prüfung ihrer Lehren nach Maßgabe der Fähigkeiten verbietet, auf die er sich kraft der geschöpflichen Ausrüstung dieser Existenz zur Orientierung in der Welt und über sie angewiesen sieht? Wenn die Erfahrung von Antwortlosigkeit in aller Verlorenheit nicht das letzte Ergebnis redlichster Bemühungen der Menschheit in der religiösen Frage sein soll, dass vielmehr in Wahrheit Gott finden kann, wer ihn als Wahrheit mit der äußersten Redlichkeit seines Willens zu ihr sucht, dass die Wirklichkeit einer erfahrbaren Geborgenheit aufgetan wird dem, der um sie aus der erfahrenen und redlich eingestandenen Überlöstheit seiner geschöpflichen Existenz anklopft, dass es einen eindeutig versteh- und redlich befolgbaren Glauben gibt, mit dem der Mensch nicht allein sterben, sondern durch den er leben kann, ohne einem diese Existenz überfordernden Entweder-Oder zu verfallen im Sinne Kierkegaards, im Sinne des mit dem Hammer philosophierenden Denkers Nietzsche, der Pascalschen 'Angst des Vielleicht-Verurteilten' oder dem dionysischen Pessimismus Nietzsches zu verfallen -, dass es endlich Freunde gibt, die solchen Glauben mit aller Redlichkeit vertretend, legitimiert sind, nicht nur Unüberprüfbares oder gar für heilsam erklärte Prüfungen als Gottes Wort, sondern prüfbar als sich bewährendes Heil als Gottes Antwort zu verkündigen: Nietzsche wäre“ der Letzte gewesen, meint Benz abschließend, der dies als letzte Wünschbarkeit geleugnet hätte.

Das Christentum will die Starken zerbrechen

Was wir am Christentum bekämpfen, sagt Nietzsche ferner, ist, dass es die Starken zerbrechen will, dass es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, dass es die vornehmen Instinkte giftig und krank zu machen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt - bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmisshandlung zu Grunde gehen.." das berühmteste Beispiel sei Pascal.

Der Hass Nietzsches gegen das Christentum richtet sich prinzipiell gegen den Gedanken der Gleichheit vor Gott, als dessen Konsequenz erst man die Wendung der praktischen Interessen zu den geistig Armen, den Mittelmäßigen, den Zukurzgekommenen ansehen könne. Dass die Seele jedes armen Schächers, jedes kleinen Lumpen und Dummkopfs denselben metaphysischen Wert haben soll wie die Michelangelos und Beethovens - das ist der Scheidepunkt der Weltanschauungen.

Im Liberalismus, Sozialismus, in der Demokratie mögen sie sich noch so antichristlich gebärden, sieht Nietzsche wesentlich ein Ergebnis des Christentums. In ihnen lebt das Christentum fort. Nietzsche denkt aus christlichen Antrieben, deren Gehalt ihm verloren gegangen ist. Jaspers hebt Nietzsches Willen zur unbedingten Wahrhaftigkeit hervor, aus dem die Angriffe auf das Christentum entspringen.

Zwischenbemerkung: Man hat nicht nur Nietzsche, sondern auch Goethe Unchristlichkeit vorgeworfen. In einer berühmt gewordenen Unterredung warf Goethe ein:"Ich heidnisch? Nun ich habe doch Gretchen hinrichten und Ottilie verhungern lassen; ist denn das den Leuten nicht christlich genug? Was wollen sie noch Christlicheres? Goethes Sarkasmus bringt besser noch als Nietzsches überspitzte Polemik den Gegensatz zwischen der ursprünglichen "Frohen Botschaft", dem Evangelium und der bürgerlichen Entrüstungs-Moral zum Ausdruck, die zwar vorgibt, christlich zu sein, was sie aber nicht davon abhält, den ersten Stein zu werfen.

In einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen, war Nietzsche eine asketisch-selbst verleugnende Moral vertraut, die mit Schuldängsten und Selbstentwertung erkauft wurde.

Die Christen tun nicht, was sie lehren, so Nietzsches berechtigter Vorwurf, nicht, was die heiligen Bücher sagen. "Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist, der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christentum der Ceremonien und der Stimmungen."

In einer Schrift über Ludwig Börne, in der Nietzsche an einer Stelle das Christentum als die Doktrin der Verzweiflung schildert, in die sich die spätantike Menschheit flüchtete, beschließt er seine Schilderung des "Selbstmordes der nazarenischen Religion" mit den Worten: "Für Menschen, denen die Erde nichts mehr bietet, war der Himmel erfunden. Heil dieser Erfindung! Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bitteren Kelch einige süße einschläfernde Tropfen goss, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben."

Jesus - Aufrührer gegen die jüdische Kirche

Am Anfang der Umwertung des Christentums steht, laut Nietzsche, das blutige Faktum des Kreuzes Jesu. Er beklagt, dass Jesus, der nicht schuld ist, "für den Schaden aufkommen" soll. Für Nietzsche ist Jesus der einzige Christ. Doch der starb am Kreuz den Opfertod. "Das Wort Christentum ist ein Missverständnis, im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz."

In "Antichrist",, einem schrillen Pamphlet, von dem man sagt, es habe in Westeuropa wegen seiner rhetorischen Wucht, aber auch wegen seiner Argumente das Christentum traumatisiert, entwarf Nietzsche ein einfühlsames Bild Jesu, das den Eindruck erweckt, dass der Stoß seiner Kritik an Jesus vorbeigeführt werde. Nicht zufällig unterschrieb der Umnachtete seine Briefe abwechselnd mit "der Gekreuzigte" und "Dionysos." Für Nietzsche war Jesus die gesuchte Identifikationsfigur. Nach Thomas Mann hat Nietzsche die Person Jesu "von seinem Hass auf das Christentum unberührt gelassen." Ernst Benz nennt Nietzsche sogar den Lehrer der imitatio Christi. Es sieht so aus, sagt der katholische Theologe Eugen Biser, als habe Nietzsche einen Augenblick erwartungsvoll auf Jesus geschaut, bevor er sich endgültig in sich selbst verschloss.

In Nietzsches Augen ist Jesus von Nazareth ein Aufrührer gegen die jüdische Kirche. Er habe den Aufstand gegen die Kaste der Schriftgelehrten versucht und "ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologe war."(Antichrist) Er hat die Ausgestoßenen und Sünder zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufgerufen und ist deshalb ans Kreuz genagelt worden. Dadurch, dass Nietzsche all das, was man heute als christlich bezeichnet, als Abfall vom wahren Christentum erweist, wird die Person Jesu selbst von der Belastung durch kirchliche Zutaten befreit. Nietzsche sucht, gleichsam die Dogmatisierung der Person Jesu rückgängig zu machen.

Indem er alle Versuche zu einer solchen bereits als Entstellung und Entartung erweist, erhebt er die Person Jesu um so deutlicher hervor. Je düsterer die Farben sind, in denen die Kirche und die Entwicklung des Christentums von der Zeit der Apostel an gemalt werden, um so heller und plastischer erscheint die Gestalt dessen, der nach der Nietzscheschen Auslegung in Wahrheit das Opfer der Kirche geworden ist und der erst von Paulus ans Kreuz geschlagen wurde, indem er ihn als Gottessohn ausgab, der als Sühneopfer für die Menschen starb. Nietzsche sieht die Kirche und das zeitgenössische Christentum als eine Entartung, ja als eine völlige Verkehrung des ursprünglichen Anliegens Jesu, er hält der Kirche als Maßstab ihres Abfalls das Bild Jesu vor Augen.

Benz: "So gründlich Nietzsches Verurteilung des Christentums und seiner geschichtlichen Darstellung in der christlichen Kirche ist, so gründlich versucht er, diese Lehre und diese Kirche von ihrem Anfang und Ursprung, von Jesus Christus abzutrennen und loszulösen, und zwar in einem so auffälligen Maße, dass es den Anschein hat, er suche die Person Jesu gerade von den Vorwürfen freizusprechen, mit denen er die Kirche belastet. Die Gestalt Christi erscheint bei ihm in einem um so klareren und reineren Licht, je düsterer, erbärmlicher und hassenswerter er die Geschichte der Kirche malt. Dies ist die eigentliche und meist übersehene Paradoxie des Bildes, das Nietzsche von der Kirche und vom Christentum entwirft. Er kämpft erbarmungslos gegen Kirche und Christentum und arbeitet mit fanatischem Eifer an seiner Vernichtung, aber er grüßt aus der Ferne den Ersten, auf den sich diese ihm so verhasste Kirche und dieses von ihm so verabscheute Christentum beruft, von dem er diesen Ersten befreien will."

Nur in seiner Jesus-Deutung scheint bei Nietzsche eine positive Bewertung des Prophetischen auf. In "Fröhliche Wissenschaft" hebt er Jesus als Lichtgestalt vom dunklen Hintergrund des Judentums ab. Jesus ist ein religiöser Künstler ähnlich dem griechischen Apoll, der die Versöhnung von Mensch und Gott feiert. Im Protest gegen die frühjüdische Vorstellung des zornigen Gottes "konnte Jesus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg." Während die Priester als Erfinder einer Gegenwelt die Wirklichkeit verfälschen und entwerten, spiegelt Jesus als "Erfinder" einer Traumwelt die Wirklichkeit wider. Jesus wird hier für Nietzsche zum Prototypen seines eigenen Kampfes gegen jede jüdische und christliche Priesterreligion. Jesus tritt neben Zarathustra, als ein Übermensch, der überkommene Kulturwerte umstürzt und darum untergehen muss. Das neue Leben bewirkt durch seine Praxis und seine Verwirklichung die Aufhebung und Abschaffung aller Mächte des alten Lebens. Der Verwirklicher dieses Lebens wird damit notwendigerweise zum Feind der Moral, zum Feind des Dogmas, zum Feind der Hierarchie und des Gesetzes. Die ursprünglich christliche Einheit von Wahrheit und Leben ist das Gegenteil vom Dogma.

Was Nietzsche an Jesus schätzt, das ist die vollkommene Einheit von Erkenntnis und Leben. Seine Verkündigung zielt nicht auf seine Lehre ab, sondern erfüllt und verwirklicht sich ganz und gar in seinem Leben. "Der Wille zur Macht" und "Der Antichrist“ zeichnen ein vollkommen übereinstimmendes Bild. "Die Seligkeit ist nichts Verheißenes, sie ist da, wenn man so und so lebt und tut." Die Identität von Leben und Wahrheit wurde wirklich einmal gelebt und durch eine geschichtliche Persönlichkeit dargestellt. "Die Praxis des Christentums ist keine Phantasterei." Nietzsche lastet die Zerstörung der Einheit von Wahrheit und Lehre der Kirche an.

Diese Einheit wäre auch heute noch, so Nietzsche, realisierbar. "Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich." "Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben, es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche `Naturwissenschaft`. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns, wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen." Nietzsche versteht das Christentum als Zustand des "Himmelreiches in uns", als Zustand der gegenwärtigen Seligkeit. Dabei ist er kühner als seine Zeitgenossen, denn welcher Kirchenfürst seiner Zeit glaubte wirklich noch an die Möglichkeit und die Realisierbarkeit eines solchen Lebens? Das Himmelreich, für Nietzsche ein Zustand des Herzens, ist nichts, was "über der Erde ist". Das Reich Gottes kommt nicht chronologisch-historisch, nicht nach dem Kalender, es ist nicht etwas, das eines Tages da wäre und tags vorher nicht: sondern es ist eine "Sinnesänderung im Einzelnen", etwas, das jederzeit kommt und jederzeit noch nicht da ist.

"Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem 'Glauben', etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus, das Abzeichen des Christentums sieht: Bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich." Wie im "Willen zur Macht" dieses Christsein in dem Zustand des "Himmelreich in uns" begründet wird, so wird auch im "Antichrist" diese Einheit des Lebens auf die Gegenwart des "Reiches Gottes" in uns begründet.

"Jesus von Nazareth liebte die Bösen, nicht die Guten, der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum Fluchen. Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richter, er wollte der Vernichter der Moral sein."

Jesus als Vollbringer und Vollender des wahren Lebens und Vollstrecker der Praxis des Himmelreiches in uns - das ist für den Philosophen der innerste Kern seiner Anschauung vom Christentum, und das ist der positive Ausgangspunkt seines Kampfes gegen die Kirche. Die Kirche in ihrer heutigen Gestalt hielt er für das Ergebnis eines fortschreitenden Abfalls der Jünger Christi von ihrem Meister, für das Ergebnis einer Umdeutung und Verfälschung, die schließlich das Gegenteil des ursprünglich Gewesenen und Gewollten verwirklicht. "Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat - und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte." Jesus: Dieser frohe Botschafter starb, wie er lebte, wie er lehrte, nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.

Jesus beherrscht den tiefen Instinkt dafür, "wie man leben müsse, um sich "im Himmel zu fühlen, um sich "ewig" zu fühlen. Dieser Glaube formuliert sich nicht, er lebt, er wehrt sich gegen Formeln. Sein Leben ist Liebe, er macht keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, schätzt keinen Menschen gering. Für ihn gibt es keine Gegensätze, weder Strafe noch Schuld, jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist bei Jesus für Nietzsche abgeschafft.

Nietzsches zeichnet von Jesus ein erstaunliches Bild. Man kann natürlich daran zweifeln, ob hier noch von historischer Realität die Rede ist. Aber das Urchristentum wird zu allen Zeiten möglich sein", das zeigte auch Franz von Assisi. "Eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen". Man hat Christus umgedeutet und mit fremden Zutaten umkleidet. Die Evangelien, das gesamte Neue Testament ist eine Verkehrung. Während Jesus eine Lebenspraxis verwirklichte, kam es nach ihm nur auf einen Glauben an. Das Christsein auf ein Fürwahrhalten reduzieren, heißt die Christlichkeit negieren. Während Jesus sich wie Buddha von den Menschen unterschied durch ein anderes Handeln, unterschieden sich die Christen von Anfang an durch einen anderen Glauben. Dieser wurde Lehre, lauter Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis des Lebens. Statt des wirklichen Jesus wurde ein Bild Jesu aufgestellt:der Fanatiker, der Kämpfende, der Angreifer gegen die Priester und Theologen - in der Interpretation von Paulus erschien er in der Gestalt des Erlösers, von der eigentlich nur Tod und Auferstehung wichtig waren. Nach dem Tod Jesu vollzog das entstehende Christentum seine erste Umfälschung, die der Wirklichkeit Jesu. Die Lehre von Auferstehung und Gericht seien Jesus, so Nietzsche, ganz fremd gewesen. "Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an Evangelium heißt, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt, eine schlimme Botschaft, ein Dysangelium."

Paulus hat die Frohe Botschaft korrumpiert

Paulus hat, nach Nietzsches Ansicht, die Frohe Botschaft der reinen Lebenspraxis in die allerschlimmste verkehrt und so den Erlöser wirklich ans Kreuz geschlagen. Mit seiner Lüge vom wiedererstandenen Jesu verlegte er das gesamte Schwergewicht des Daseins hinter das Dasein und leistete jener Entwicklung den Vorschub, die zur Ausbildung der christlichen Dogmen führte.

Die Korruption dessen, was der Erlöser war und wollte, hat schon innerhalb der ersten Gemeinde eingesetzt, mit Paulus und den Evangelisten. Paulus, "dieser größte aller Apostel der Rache" vollendete den in der Kreuzigung vollzogenen Sieg der jüdischen Orthodoxie. Indem in die heilsgeschichtliche Position der Juden nunmehr alle Mühsamen und Beladenen gerückt werden, wird das Ressentiment universell.

Die Jünger und Paulus, sagt Nietzsche, sie haben die Verkündigung Jesu zum Opfer des Milieus der kleinen Leute und ihres Aberglaubens gemacht. Die Verkündigung ist unter die "kleinen Mucker" gefallen und nach deren Muckertum verstanden und umgedeutet worden. So wird Jesus ein Opfer der kleinen Leute.

Durch die Verlagerung aller Hoffnungen auf ein Dasein nach dem Dasein wird jedem Tatsachensinn der Boden entzogen. Die Folge ist eine die ganze Natur umfassende Entwertung der Realität; in letzter Konsequenz führt die ressentimentgeladene Grundstimmung der christlichen Religion zu einer nihilistischen Einstellung zum eigenen Leben. "So zu leben, dass es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum Sinn des Lebens.. .Nihilist und Christ, das reimt sich nicht bloss.."

Paulus erriet, wie man mit dem Symbol "Gott am Kreuz" alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührende, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, alles klein halten könne. Letztlich sei Paulus der alte Saulus geblieben, der Verfolger Gottes. Der frohen Botschaft folgte auf dem Fuß die allerschlimmste, die des Paulus. In Paulus verkörperte sich der Gegensatz-Typ zum frohen Botschafter, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Auch die Lehre vom Gericht stammt von ihm. Er entdeckte, dass der Glaube ein Heilmittel für solche ist, die unfähig sind, das zu tun, was sie für richtig halten. "Der Priester lebt von den Sünden, er hat nötig, dass gesündigt wird" (Ant). Die Priester nennt der Philosoph mitunter "tückische Zwerge".

Paulus hat im großen Stil wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hat. Er hat das Christentum in sein Gegenteil verkehrt. "Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum: der Asketismus, das beständige Richten und Verurteilen: die Rangordnung. "Heilmittel der Verstimmten". Schon Paulus meinte, "ein Opfer sei nötig, damit die tiefe Verstimmung Gottes über die Sünde aufgehoben werde, und seitdem haben die Christen nicht aufgehört, ihr Missbehagen über sich selber an einem Opfer auszulassen - sei dies nun die Welt, die Geschichte oder die Vernunft oder die Freude oder die friedliche Ruhe anderer Menschen - irgend etwas Gutes muss für ihren Sinn sterben - wenn auch nur in effigie."

"Paulus konnte im Grunde das Leben des Erlösers überhaupt nicht brauchen - er hatte den Tod am Kreuz nötig und etwas mehr noch.." "Ein Gott für unsere Sünden gestorben: eine Erlösung durch den Glauben: eine Wiederauferstehung nach dem Tod - das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf(Paulus)verantwortlich machen muss.."

Was will Nietzsche?
Auf Erden muss der Mensch sein Glück suchen.

"Dass Gott Mensch geworden ist, weist darauf hin, dass der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe", schreibt Nietzsche und entscheidet sich im Verlauf seines Denkweges eindeutig zugunsten der Welt und gegen Gott. Wie Faust sich vornimmt, in dem Nichts, zu dem ihn Mephistos überredet, "das Sein" zu suchen, so gewinnt Nietzsche im Sog des Nihilismus durch den ihm schon von früher her bekannten Gedanken einer blind vertrauenden Schicksalsbejahung neuen Stand und Halt.

Ihm kommt es auf die Heiligung des Diesseits an, und so nahm er alles, auch den Glauben an die Vernunft und ihre Wahrheit, unter der Perspektive des Lebens wahr. Die Wahrheit wiederum definierte er als grenzenlosen Prozess, als ein unaufhörliches Interpretationsgeschehen und das Erkennen als perspektivisches Sehen, das wesentlich durch unsere Affekte und unsere Stimmungen bestimmt wird.

Für Friedrich Nietzsche war die sogenannte "wahre" Welt, die angeblich entweder nur der Vernunft oder nur dem Glauben zugänglich ist, nichts anderes als eine Projektion des Menschen. Der Mensch ist, laut Nietzsche, auf Interpretationen angewiesen, um sich zu behaupten und um sich mit ihnen eine Welt zu schaffen, in der er leben und seine Identität finden kann. Doch frei sind wir erst dann, wenn wir uns selbst an die Stelle aller anderen Ursachen setzen, wenn wir uns selbst für unsere Setzungen verantwortlich fühlen, wenn wir Schuld auf uns nehmen, "ohne sie erklärend von uns abzuschieben" oder etwa anderem zuzuschreiben. "Wir sind dann für uns selbst das Unerklärte schlechthin". Gefordert ist damit das Aushalten dieser Verantwortung und das Verzichten auf "wahre" Erklärungen. Genau darin liegt für Nietzsche die positive Deutung des Nihilismus.

Aushalten der Fragwürdigkeit der Welt und die für Nietzsche feststehende Tatsache, dass es hinter dieser Welt nichts gibt.

Die Grundzüge des neuen Evangeliums verheißen Reichtum von dieser Welt ohne Transzendenz. Da Gott tot ist, kann der Mensch nur eine Erhöhung seiner selbst anstreben. Der Mensch

wird von Nietzsche auf sich allein gestellt, er muss weitergehen ohne Gottheit. Nietzsches Ideal ist nicht der grübelnde, um Erkenntnis ringende einsame, kontaktschwache und empfindliche Gelehrte, der er selber um Grunde war, sondern die starke Natur, die vital und beherrscht ist. Nietzsches Konzeption ist widersprüchlich: einerseits soll der Mensch überwunden werden und zum Übermenschen sich steigern, andererseits herrscht die Gewissheit vor, dass alles Geschehen determiniert ist, dass alles aus schicksalhaftem Zwang sich stets wiederholen müsse. Nietzsche hilft sich mit einem dialektischen Gedanken: in der Wiederkehr liegt die Möglichkeit der Steigerung und Vollendung des Lebens.

Zu den grundlegenden Erfahrungen in Nietzsches Leben gehört die Erfahrung des Tragischen und des Todes. Aber er flüchtet nicht in Weltverneinung, wie sie Schopenhauer in "Die Welt..als Wille und Vorstellung" angesichts des Grauenvollen des Leben predigt, sondern seine Lösung heißt: Weltbejahung noch im Angesicht des Untergangs, gewonnen am Phänomen der griechischen Tragödie und an der griechischen Kunst. Nietzsche bezieht also eine entscheidende Gegenposition zu Schopenhauers Pessimismus und Mitleidsethik, aber auch zu jener Moral, wie sie in den zehn Geboten bis zur Bergpredigt, in der sokratischen Gleichung zwischen Tugend und Wissen bis hin zu Kants kategorischem Imperativ zum Ausdruck kommt, da alle diese Gebote und Imperative für ihn im Widerspruch zum Leben stehen.

Das Christentum dient einer Kultur des Todes, gegen die Nietzsches Umwertungsarbeit ihre eigene "Gegenwerthung des Lebens" stellt: eine rein artistische, eine antichristliche. Er nennt sie die dionysische. Der Weg zur Wiederherstellung des Christentums stand Nietzsche nicht offen. Seine Wege sind: Verneinung aller Moral und aller Wahrheit, die sich aus dem Christentum herleiten.

Am Ende steht der hinausgeschleuderte Satz: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt." Seine zweite Antwort ist der Entwurf der neuen Weltanschauung. Das Positive der philosophischen Gegenbewegung ist beschlossen in den Worten: Leben, Stärke, Wille zur Macht, Übermensch, Werden, ewige Wiederkehr, Dionysos.

Nietzsches Programm

Zum einen galt es, die Menschheit von der Herrschaft des christlichen "Maximal-Gottes" zu befreien, zum andern kam es darauf an, anstelle der damit verworfenen Wertsetzungen "neue Tafeln" aufzurichten.

In "Menschliches, Allzumenschliches" stellt der Philosoph sein Programm der radikalen Auflösung auf und seine Grundthese, die Menschheit besitze "im Ganzen keine Ziele", so dass der einzelne in ihrer Geschichte weder Halt noch Trost, sondern allenfalls "seine Verzweiflung" finde. Deshalb gibt es auch keine Wahrheit, vielmehr war es der Irrtum, der Menschen so tief, zart und erfinderisch gemacht hat, dass er derart herrliche Blüten wie die Religion und Kunst hervor zu treiben vermochte. Die Schrift "Menschliches, Allzumenschliches" ist der erste Versuch, das Christentum mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Nietzsches Ziel ist es, der Menschheit zu ihrem an Gott abgetretenen Reichtum wieder zu verhelfen. Nur dann gelangt der Mensch zu seiner vollen Größe. Er möchte dem Instrument Mensch, den er "das noch nicht festgestellte Tier" nennt, neue Töne entlocken. Die Umwertung der Werte könnte die große Genesung der Kultur bedeuten, die Befreiung von der Knechtschaft der "Herdenmoral" und die Morgenröte einer Epoche des "freien Geistes". Die freien Geister können dann erkennen, bis zu welchem Grade sie die Schöpfer neuer Werte zu sein und damit ihren Sinn in die Geschichte zu legen vermögen. (Nachlass)

Zur Realisierung dieses Ziels sind zunächst die alten Werte schonungslos zu destruieren. Nietzsche möchte den Nihilismus überwinden und zumindest bis an die Schwelle einer neuen "Umwertung der Werte" führen. Das Christentum, so Nietzsche, habe den Menschen zum Herdentier domestiziert. Aus diesem Grunde lehnte er auch den Sozialismus ab. "Gott muss sterben, damit der Übermensch lebe." Die Befreiung von Jenseits, Schuld und Gericht, von ewiger Heimat und metaphysischer Geborgenheit soll den Durchbruch in die Zukunft bringen, aber damit auch in die Sinnlosigkeit. Nietzsche der "Letztgeborene des Protestantismus", wie Otto Flake ihn nennt, riskiert den Sprung in den Abgrund des Nichts.

Nietzsche verstand sich von Anfang an als Diagnostiker

seiner Zeit, er erblickte die "Heraufkunft des Nihilismus". Er selbst, dem sich aufgrund seiner Krankheit und Labilität die Dunkelheiten der künftigen Welt schneller und tiefer erschlossen haben als seinen Zeitgenossen, hat mit seiner Diagnose der Gegenwart als einer krankhaften Scheinwelt, aus der sich der Erkennende nicht befreien könne, fraglos einer neuen Epoche der Reflexion sowie der modernen Kulturkritik den Weg geebnet.

Nietzsche diagnostizierte und prognostizierte, zunächst für Europa, ein Bewusstsein, das ohne „Glauben an den christlichen Gott“ auszukommen gedenkt. Hundert Jahre später hat der vorausgesagte Autoritäts- und Sinnverlust des biblisch-kirchlich tradierten Gottesglauben viele Menschen in Europa erreicht. Nietzsche ist also nicht am heutigen Zustand der Welt schuld, er ihn „nur“ vorausgesagt.

Nietzsche behauptet auch nicht, dass Gott durch ihn gestorben sei - Ernst Bertram hat unrecht, wenn er behauptet, dass Nietzsche der Mörder Gottes sei -, sondern er hat nur erkannt, so deutet Overbeck Nietzsches Aussage "Gott ist tot", dass Gott für viele Menschen gestorben sei, dass er für viele Menschen gar nicht mehr existiert. Das wichtigste Ereignis: Gott ist tot, sagt nicht, dass er nicht an Gott glaubt. Overbeck, der sich durch Nietzsches Kampf gegen das Christentum "an das Zerreißen der Ketten" erinnert fühlt, mit denen ein Sklave ehedem gefesselt war, gibt der These "Gott ist tot" eine andere Bedeutung als der Feststellung "Gott ist nicht".

Der Gottesglaube hat sich im Grund längst überlebt, es wird nur noch wider besseres Wissen an ihm festgehalten. Doch besteht gerade darin eine unerwartet große Schwierigkeit. Denn von nichts ist der Mensch so schwer abzubringen wie von seinen Vorurteilen. "Das größte neuere Ereignis - dass Gott tot ist -, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen."

"Nietzsche hat gesagt, Gott ist tot, und das ist etwas anders als Gott ist nicht, das heißt, er kann nicht sein, ist nicht, wird nicht sein und ist nie gewesen! Vielmehr: Er ist gewesen! Und dies ist wenigstens der allen menschenmögliche Atheismus." (Overbeck).

Bei dem Satz "Gott ist tot" ist außerdem das Textumfeld zu beachten. Nietzsche spricht den Satz nicht selbst, sondern legt ihn ein dem "tollen Menschen", einem Narren in den Mund, der als Gottsucher auftritt und von der Menge verlacht wird. Dieser

glaubt, dass die Menschheit Gott nach und nach getötet habe.

"Wohin ist Gott? rief er(der tolle Mensch)ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, - ihr und ich! Wie alle sind seine Mörder. Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?"

(Fröhliche Wissenschaft)

Warum ist Gott gestorben? fragt Nietzsche weiter. Er ist gestorben durch das Christentum, denn dieses zerstörte alles, aus dem der Mensch vordem lebte, vor allem die tragische Wahrheit des Lebens der vorsokratischen Griechen. Das Christentum setzte dagegen lauter Fiktionen: Gott, moralische Weltordnung, Unsterblichkeit, Sünde, Gnade, Erlösung. Für das Christentum lag aller Halt und Wert in Fiktionen. Die zwei christlichen Jahrtausende, die hinter uns liegen, sind unser Verhängnis.

"Gott ist tot", das ist, nach Nietzsche, die Sprache der Religion, das Bild stammt aus den Evangelien. Auch Hegel hat vom Tod Gottes gesprochen. Nietzsche gibt dem Bild eine neue Bedeutung, er setzt voraus, dass Gott einmal gelebt hat,"wir haben ihn getötet", das ungeheure Ereignis ist noch nicht zu den Ohren der Menschen gedrungen. Mit solchen Sätzen versucht Nietzsche, der zeitgenössischen Kultur eine Diagnose zu stellen. Nietzsche erklärt den Tod Gottes, ganz im Sinne Feuerbachs als den Untergang des Glaubens an Gott, der Glaube an Gott ist unglaubwürdig geworden. Kaum jemandem ist bewusst, so Nietzsche, "was alles, nachdem der Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihn gebaut ist, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war, zum Beispiel unsere ganze europäische Moral." Nietzsches Ausrufung vom Tod Gottes ist seine eigene innere Erfahrung.

Werke, in denen sich Nietzsche mit dem Christentum auseinandersetzt

Der gern erst dem "Zarathustra" zugeschriebene Gedanke, dass Gott nur eine "Mutmaßung" sei und alle Götter tot seien, findet sich in seiner klassischen Formulierung schon in der "Fröhlichen Wissenschaft". Die Sprache der "Fröhlichen Wissenschaft" ist nicht nur durch souveränes Experimentieren mit Glaubensinhalten, mit der "Wahrheit", gekennzeichnet, sondern läßt in hypothetischer Rede bereits den Gedanken der ewigen Wiederkehr anklingen.

In "Fröhliche Wissenschaft" und in "Zarathustra", der laut Karl Löwith im Stil einer "antichristlichen Bergpredigt" gehalten ist, sozusagen eine Anti-Bergpredigt" ist, und mit "Der Antichrist" erreicht Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum ihren Höhepunkt.

Wenn es Nietzsche wirklich darum zu tun war, dem Dasein seinen herzzerbrechenden und grausamen Charakter zu nehmen, musste dieses Vakuum gefüllt werden. Das versuchte er mit seinem "Zarathustra", der seinen Schwerpunkt in der Verkündigung von Nietzsches Gegen-Evangelium hat.

Während die christlichen Evangelien das Selbstlob Gottes“ sind, schreibt Nietzsche sein antichristliches „fünftes Evangelium“, das ein Selbstlob ganz neuer Art ist. Doch gab es für ihn, schreibt Sloterdijk in seinem Buch“Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches 'fünftes Evangelium“, keinen adäquaten Adressaten, weil seine Anforderung zu hoch waren. Nietzsches Evangelium verlangt Verzicht auf „lebensdienliche Illusionen“. Seine neue Heilslehre wendet sich gegen die "Hinterweltler", "die Verächter des Leibes", und "Prediger des Todes". Anstatt zur Keuschheit rät Zarathustra zur "Unschuld der Sinne", statt zur Nächstenliebe "zur Nächsten-Flucht" und zur Fernsten-Liebe". "Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf."

Gegen den Jenseitsglauben richtet Zarathustra den Appell: "Bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind sie, ob sie es wissen oder nicht." Der menschliche Selbstwille begehrt gegen Gott auf, so dass sich alles in die Alternative zuspitzt: "Er oder ich. Damit hat sich schon der Ring von Nietzsches antireligiöser Entwicklung, die mit dem jähen Verlust des Kindheitsglaubens einsetzte, geschlossen.

Im "Zarathustra" taucht die Idee des Übermenschen auf und der Gedanke der ewigen Wiederkehr. Alles wird durch Gleichnisse verschlüsselt und wirkt wie ein religiöser Traktat. Nietzsche hat ihn selbst einmal als sein fünftes Evangelium bezeichnet. Das Werk ist als Gegenreligion gedacht. Es lebt von Anspielungen auf das christliche Dogma und verkündet dithyrambisch eine neue dionysische Philosophie.

"Wie würdest du dich verhalten, wird hier gefragt, wenn ein Dämon dich aufforderte, die Perspektive der ewigen Wiederkehr in Erwägung zu ziehen?" Damit stellt sich die Frage: "Was ergibt sich, wenn ich diesen Gedanken akzeptiere? Wird er mich umbringen oder aufrichten?" Wer das Leben bejaht, meint Kaulbach mit Nietzsche, den wird der Gedanke nicht schrecken. Entspricht diese Perspektive doch dem Sinnbedürfnis eines freien Geistes und bedeutet zugleich liebende Zustimmung - amor fati - zum ewigen Kreislauf des Seins, mag er auch noch so schwer zu ertragen sein. Wer dem Gedanken der ewigen Wiederkehr zustimmt, macht sich sein Dasein nicht gerade leicht, weil er die leidvollen Augenblicke widerspruchslos annimmt und sie darüber hinaus in ihrer unendlicher Wiederkehr bejaht. Diese Haltung bekundet Unabhängigkeit von der Sinngebung durch das Sein, ist dionysisches Jasagen zur Welt, zum Leben auch in seinen härtesten Formen, und darf auf keinen Fall mit einem "braven Ausharren" in den Wechselfällen des Lebens verwechselt werden. Nietzsche hat allerdings auch keiner Spaß-Gesellschaft das Wort geredet noch hätte er für Lebensverlängerung plädiert, es ging ihm darum das Jetzt, den Augenblick mit all seinen und den eigenen Möglichkeiten zu nutzen.

Nietzsche hat im Leiden einen notwendigen Bestandteil des Wegs zum höchsten Glück gesehen und war der Ansicht, ohne Leiden könne man nicht zum Glück gelangen. "Lust und Schmerz sind Zwillinge und mit dem Glücke Homers in der Seele ist man auch das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne."

Volker Gerhardt merkt hierzu an:"Im biblischen Verkündigungsstil werden der "Übermensch" und der "Wille zur Macht" gelehrt; der Gedanke der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" wird wie eine religiöse Botschaft offenbart. Nietzsche versucht sich als Stifter eines neuen Glaubens."

Sein kategorischer Imperativ: Du sollst den Augenblick so leben, dass er dir ohne Grauen wiederkehren kann! Du sollst! „Da capo" rufen können! „Amor fati“ lautet seine Zauberformel.

Uns bleibt nichts anderes übrig, so Nietzsche, als die tragische Bejahung der ewigen Wiederkehr des Gleichen, eines ewigen Werdens ohne Finalität und Fortschritt. Eine jenseitige und angeblich wahre Welt sei nur von Theologen aus der Not heraus dazu erfunden worden. Die Notwendigkeit erkennen und sich ihr fügen, das eben machen, nach Nietzsche, Würde, Geist und Größe des Menschen aus. Erst die Leidensfähigkeit ist Kriterium der Lebensfähigkeit. Nietzsches Prosa, so schrieb Jacob Burckhardt, "eigne der religiöse Accent des Apostels" und Lou Salomé nennt in ihrem Lebensrückblick Nietzsche einen "Gottsucher".

Belustigt zitiert Nietzsche den Jesusspruch in Luthers Übersetzung:“So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so kommt ihr nicht in das Himmelreich“, um hinzuzufügen:“aber wir wollen auch gar nicht in das Himmelreich: Männer sind wir geworden – so wollen wir das Erdenreich. 'Lieber Gott' sagen wäre das Letzte für Zarathustra. Es wäre Rückkehr in kindliche Naivität, dem Starken verwerflich, dem Kritiker verachtenswert, undenkbar dem Übermenschen.“

In der "Götzen-Dämmerung" geht es ihm wiederum darum, das Christentum von seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und Auswirkungen her zu widerlegen. Im "Antichrist" holt der Philosoph zum endgültigen Vernichtungsschlag aus. Hier läßt er seiner Aggressivität vollen Lauf. Die alten Einwände werden wiederholt, doch der Ton ist polemischer geworden. Aber es brechen auch harmonisierende Akkorde in jener mystischen und romantischen Tonart auf, die für Nietzsches ganze Herkunft bezeichnend sind: "Das 'Himmelreich' ist ein Zustand des Herzens - nicht etwas, das über der Erde steht oder nach dem Tode kommt. Der ganze Begriff des natürliches Todes fehlt im Evangelium. Das Reich Gottes ist nichts, das man erwartet, es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in tausend Jahren - es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da.."

Wer dergleichen Gedanken herausbricht und Nietzsche zum Typus des modernen gottnahen Atheisten erklärt, darf nicht den Gesamttenor seiner Äußerungen über das Christentum darüber vernachlässigen. Nietzsches Immoralismus bleibt bis zum Ende im äußersten Gegensatz zu christlichen Vorstellungen. Im "Antichrist" bezeichnet es Nietzsche, nebenbei bemerkt, als einen Mangel an Anstand und Achtung vor sich selbst, dass der Kaiser, Bismarck und ihre Generäle - Antichristen der Tat durch und durch - sich öffentlich als Christen bekennen.

Konnte Nietzsche seine Ansprüche einlösen?

Nietzsches Philosophie war Kulturkritik und Christentumsattacke. Doch was ist aus seinem Versuch, eine Morgenröte ohne Gott und Kirche mit grenzenlos freien Menschen, mit dem nur der Erde und Natur gehörenden Übermenschen entstehen zu lassen, geworden? Konnte Nietzsche seinen Anspruch einlösen?

"Ich widerspreche wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab. Ich kenne Aufgaben von einer Höhe, dass der Begriff dafür bisher gefehlt hat, erst von mir gibt es wieder Hoffnungen" hatte er in "Ecce homo" geschrieben. Vergebens versuchte er jedoch, das zu beschwören und in das sich hineinzusteigern, was er seiner Natur nicht war und nicht sein konnte. Zuletzt klammerte er sich an die Verheißung der eigenen Philosophie.

Den Raum des Religiösen wollte er mit Diesseitigkeit und Kultur füllen, diesem Auftrag ist kein Mensch gewachsen. Thomas Mann sagte in diesem Zusammenhang: "Mit einer Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen steht man vor diesem Versuch und seinem Scheitern."

Es gibt Autoren, die in Nietzsches schließlicher Katastrophe den letzten Akt erblicken, in dem der Teufel seinen Lohn fordert, und schrieben, Nietzsches Zarathustra habe wohl alte Tafeln zerbrochen und neue Tafeln errichtet, doch auf ihnen stünde nichts geschrieben. Folgerichtig bewerteten sie Nietzsches Zusammenbruch als Strafe Gottes. Einige versponnene Nietzsche Jünger wiederum sahen in Nietzsches geistigem Zusammenbruch eine Art Verklärung.

Auch die Haltung der Theologie hat zu einer gewissen Verwirrung beigetragen. Lange Zeit begnügten sich die meisten katholischen Theologen im wesentlichen damit, den Sätzen Nietzsches ihr Anathema entgegenzuschleudern und durch den Hinweis auf ihren "krankhaften" Charakter zu erledigen oder sie als Verkehrung christlicher Thesen zu erweisen. Theologen versuchten häufig, in erster Linie ihn zu widerlegen und zu beweisen, dass Nietzsche Unrecht hat, aber kaum einer bemühte sich, ihn zu verstehen. Außerdem blieb manche ihrer Auseinandersetzungen mit ihm sehr an der Oberfläche. Manche haben nur seine Christentumsfeindschaft in der Sprache übernommen und wissen nicht um seine eigentlich philosophischen Motive. Sowohl die Popularisierung Nietzsches als auch die rein apologetische Abwehrhaltung der Theologie gegenüber Nietzsche - waren der Klärung der Problem wenig dienlich. Die Popularisierung brachte eine außerordentliche Vergröberung von Nietzsches Gedanken mit sich. Von dem, was bei Nietzsche als Frucht höchster geistiger Spannungen und verzehrender Leidenschaften in Gestalt von kritischen Erkenntnissen, von hingeschleuderten Thesen, von Geschichtsideen, von psychologischen Einsichten ausgesprochen worden ist, sind die faustdicken, antichristlichen und antikirchlichen Schlagworte übrig geblieben, mit denen Menschen und Gruppen verschiedener Prägung ihnen Kampf gegen kirchliche Kreise und christliche Anschauungen führen. Diesem Kampf liegt nicht nur eine verkürzte Erkenntnis Nietzsches zugrunde, sondern der Kampf seinerseits führte rückwirkend zu einer Verkürzung der Ideen Nietzsches, indem nur bestimmte Sätze seiner Einwände gegen Kirche und Christentum darin wirksam propagandistisch verwendet werden konnten, während andere sich als ungeeignet erwiesen.

Friedrich Georg Jünger schrieb: "Nietzsche rief mit einer zu lauten Stimme in den Raum hinaus, dass der alte Gott gestorben sei, mit einer Stimme, in der ein Lauschen ist, ob nicht aus dem Raum ein Ruf, ein Echo zurückkomme." Am Ende habe er sich inmitten der Todesahnungen mit der Überzeugung getröstet, sein Lebenswerk getan zu haben. Allem Anschein nach hegte Nietzsche verstohlen die Hoffnung, dass derjenige, der in allem nur die Unwahrheit sucht und der Lüge auf der Spur ist, schließlich doch noch auf einen rettenden Grund positiver Lebenserfahrung stößt.

Ist Nietzsche von Gott losgekommen?

Ob er wirklich vom Christentum loskommen wollte, ist noch die Frage, denn Nietzsche selbst hat in einem Brief an Overbeck den Wunsch geäußert, "dass es mit allen Dingen anders stehen möge als ich sie begreife, und dass mir jemand meine `Wahrheiten` unglaubwürdig mache"

"Mitunter sehne ich mich danach, mit Dir(Overbeck) und Jacob Burckhardt eine heimliche Konferenz zu haben, mehr um zu fragen, wie ihr um diese Not herumkommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen. Ich halte mir das Bild Dantes und Spinozas entgegen, welche sich besser auf das Los der Einsamkeit verstanden haben. Freilich, ihre Denkweise war, gegen die meine gehalten, eine solche, welche die Einsamkeit ertragen ließ; und zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen Gott zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als Einsamkeit kenne. Mir besteht mein Leben in dem Wunsche, dass es mit allen Dingen anders stehen möge, als ich sie begreife; und dass mir jemand meine`Wahrheiten`unglaubwürdig mache."

"Belehret mich, so will ich gerne schweigen!" rief Nietzsche aus. /
"Bin ich im Irrtum, ei so tut mirs kund! /
Wie süß sind ehrliche, gerade Worte! /
Doch was beweist mir Rüg aus eurem Mund? /
Ist eure Absicht, Worte nur zu rügen? /
Ist für den Wind nur, was Verzweiflung meint? /
Ihr würfet Los selbst über eine Waise, /
Würdet verschachern euren eigenen Freund."

Nietzsche ist Gott offensichtlich nicht losgeworden. Er spürt noch die Nachwirkungen des Glaubens. Unverkennbar ist seine starke Beeinflussung durch christliche Gedanken und Ideale. Er hat (Emanuel Hirsch) im tiefsten Grund seiner Seele das christliche Bild der sich hingebenden reinen Liebe als der höchsten Erscheinung menschlich-persönlichen Lebens nicht zu bezwingen vermocht; er hat heimlich - wohl uneingestanden und sicherlich wider Willen - an es geglaubt. Bestimmend bleibt für Nietzsche das christliche Menschenbild in der von Luther geprägten Form. Hirsch meinte:"Nietzsches ethisches Urteil über den Menschen ist lebenslänglich bestimmt gewesen durch den scharf zugespitzten Pessimismus der lutherischen Erbsündenlehre. Wenn er dabei auf die Begriffe Schuld und Sühne verzichtet, so geschieht dies, weil er darauf verzichtet, den Menschen anders machen zu wollen, als er nun einmal geworden ist." Den Menschen so nehmen wie er ist, ihn in seinem Sosein bejahen.

Im Nachlass zum "Zarathustra" heißt es: "Ich habe den ganzen Gegensatz einer religiösen Natur ausgelebt. Ich kenne den Teufel und seine Perspektive für Gott." Gott-Teufel darf es das, fragt Ulrich Beer, "für einen areligiösen Menschen überhaupt noch geben!"

Wer so wie Nietzsche Mensch und Welt ausschließlich unter dem Gegensatz Dionysos-der Gekreuzigte interpretiert, der scheint eher einer immer noch letztlich religiös motivierten Deutung des Lebens zuzuneigen als sie gleichmütig hinter sich zu lassen. Die Verabschiedung des Christentums ist dem Antichristen Nietzsche trotz gegenteiliger Beteuerungen offensichtlich misslungen. Von dem Gedanken einer möglich Heimkehr ist er wohl niemals richtig losgekommen. In seinem Nachlass fand sich folgende Notiz: "Das-nicht-fertigwerden mit dem Christentum." Kurz nach dem Ausbruch seiner Krankheit unterschrieb er seine Briefe mit "Dionysos" oder "Der Gekreuzigte". "Dionysos gegen den Gekreuzigten; da habt ihr den Gegensatz." Einmal schreibt er - gleichsam die Signatur einer Kapitulation: "Christus am Kreuz - das erhabenste Symbol, immer noch."

Ist Nietzsche an seinen "Wahrheiten" - oder waren es am Ende doch wieder nur Irrtümer? - zerbrochen? Vielleicht ist es in der Tat eine Illusion, zu glauben, wir könnten auf sogenannte "Wahrheiten" gänzlich verzichten. Vielleicht wäre es in der Tat humaner und ratsamer, man beließe den durchschnittlichen Menschen weiterhin, um mit Nietzsche zu sprechen "in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend."

Wir wissen nichts und bedürfen Gottes oder der Religion, wenn wir diesen Zustand des Nichtwissens und der Gleichgültigkeit der Welt uns gegenüber nicht ertragen können.

Der kranke Nietzsche bat seine Mutter, mit der er auch gelegentlich die Kirche besuchte, hin und wieder ihm Choräle aus einem alten Choralbuch vorzusingen oder Psalmen aus der Bibel vorzulesen. Wenn die Kirchenglocken den Sonntag einläuteten, wurde er still und andächtig.

Aber hören wir selbst, was seine Mutter über ihren Sohn am 7.Juni 1890 an Overbeck schreibt "Er selbst spielt alle Tage ein wenig, teilweise seine kleinen Kompositionen oder aus einem alten Choralbuch Choräle. Überhaupt macht sich bei ihm die religiöse Stimmung mehr und mehr geltend, er erzählte mir auch in den Pfingsttagen, als wir ganz still auf der Veranda saßen, wo ich eine alte Bibel liegen habe, dass er in Turin die ganze Bibel studiert habe und sich tausenderlei notiert habe, als er mich animierte, den und den Psalm oder da und das Kapitel ihm vorzulesen, und ich meine Bewunderung aussprach, woher er so bibelkundig sei."

Natürlich darf man daraus keine Schlüsse auf eine Wandlung ziehen, wenn er der Welt, wie es eine Zeitlang tatsächlich schien, als Gesunder wiedergegeben worden wäre. Aber tiefenpsychologisch beurteilt, sind die von Nietzsches Mutter geschilderten Vorfälle keineswegs irrelevant.

Wegen seiner Krankheit hatte Nietzsche keine Möglichkeit oder Gelegenheit, sich am Ende seines Lebens versöhnlich zu geben oder Kompromisse einzugehen. Aber wahrscheinlich hätte er, wenn er seine letzten Lebensjahre bei geistiger Gesundheit erlebt und so gestorben wäre, keinen Grund gehabt, von seinen Anklagen auch nur ein Jota zurückzunehmen. Gehofft hat er allerdings, dass ihn jemand davon überzeugen könnte, dass er Unrecht habe und dass sich alles ganz anders verhalte als er es gesehen hat.

Im letzen Jahr seines Denkens sprach Nietzsche von dem erst kommenden Werke, das "die nachträgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines aus hundert Gründen ewig problematischen Seins") bringen würde. Es zu schaffen, blieb ihm versagt, aber, so Jaspers, wir würden ihm Unrecht tun, wenn wir dieses Wort von ihm aus dem letzten Jahr seines Denkens vergessen würden.

Fragen und Einwände

Einige Autoren haben vor allem die bedenklichen Folgen von Nietzsches Philosophie oder vielmehr die Folgen seiner Diagnostik, seiner Zeitanalyse, vor Augen gehabt. Wenn Gott ganz verschwindet, wenn die Rechtfertigungsfrage auf den Menschen zurückfällt, dann kann es geschehen, dass Versuche unternommen werden, sich die Fragen nach Gott und dem Sinn des Lebens ganz abzugewöhnen. Die Fraglichkeit, die im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen aufklafft, würden dann wegrationalisiert. Technische, politische und ökonomische Fragen würden daraus. Zugegeben: Irgendwie bleiben immer noch Werte übrig wie die Werte von Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlergehen, Solidarität, die im Begriff der Menschenwürde fundiert und zusammen gefasst sind. Diese ist tatsächlich nur eine Idee in einer Welt ohne Gott durch keine Natur- sondern nur durch gesellschaftliche Übereinkunft geschützt. Für Nietzsche dagegen ist die Idee der Menschenwürde etwas, das man sich erst durch Arbeit an sich selbst, durch Selbstgestaltung erwerben muss. Nur die Selbstgestaltung begründet den Rang und die Würde der Person. Die Einsicht in den Scheincharakter jeder Wahrheit, die Einsicht, dass die Welt und das Leben an sich ohne jeden erkennbaren Sinn sind, dass alle bisherigen Sinngebungen höchst anfechtbare menschliche Leistungen gewesen sind und dass es um so mehr für den Menschen darauf ankommt, sein Leben in einer an sich sinnlosen Welt zu meistern, das sind Gedankengänge, die Nietzsches Spätwerk bestimmen und die letztlich die meisten Menschen überfordern dürften, denn es ist doch sehr die Frage, ob die menschliche Gattung ohne einen Glauben, sei es den Glauben an Gott oder an die Vernunft im Leben gedeihen kann.

Ein berechtigter Einwand gegen Nietzsches Philosophie kommt von Jörg Splett, einem katholischen Theologen. Dieser lehnt es ab, alles als pure Setzungen zu betrachten, wie Freundschaft, Liebe, und Glaube. Zudem sei der Wille zum Leben, entgegen Nietzsches Meinung, selbst Christen zu eigen, vorausgesetzt, man begreife das Leben als Liebe und Bejahung personaler Gemeinsamkeit. Dann könne man sogar den Willen zur Macht bei sich und anderen kritisieren und ändern und brauche nicht bei der hoffnungslosen Interpretation Nietzsches stehen zu bleiben. Insbesondere, so ein weiterer Einwand von Splett, sei die Botschaft Christi "keineswegs bloße Wunscherfüllung der Schwachen". Vielleicht, sollten wir, nicht so sehr Gott, sondern vor allem den Menschen gegenüber Nietzsche verteidigen, "ermutigt durch das unzweideutige Ja Gottes zu ihm in Jesus Christus."

Jaspers führt dagegen an, dass Nietzsche sich im Gegensatz zu Kierkegaard um sublime Gedankenbauten in der Theologie nie gekümmert habe. Sein Kampf gegen das Christentum erfolgte aus christlichen Antrieben unter Verlust der christlichen Gehalte. Doch wollte er nicht beim Nihilismus stehen bleiben, sondern einen ganz neuen Ursprung gewinnen.

Auch Georg Simmel meinte, dass Nietzsche unfähig gewesen sei, die Transzendenz des Christentums zu begreifen. "Es kann kein Gott sein, sagt er, denn gäbe es ihn, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein." Ulrich Beer behauptet dagegen und das sicher zu Recht, dass Nietzsche begabt gewesen sei mit einer sensiblen selbstmörderisch existentiellen Religiosität. Er litt darunter, dass er tief existentiell in den Banden des Christentums lag. Seine Kritik war Kampf um Sein und Nichtsein.

Religion bedarf der Reflexion

Unbestritten aber ist, Religion bedarf der Reflexion, gerade weil sie ständig der Gefahr ausgesetzt ist, sich der fortschreitenden Begründung bei fortschreitender Erfahrung zu entziehen. In vergleichlicher Weise könnte Nietzsche den Reflexionsprozess einer mit der Religion altgewordenen Kultur in Gang halten. Durch ihn hat das Christentum ein neues radikales Bewusstsein von seinen Wurzeln und einen neuen Existenzmut gewonnen. Nietzsches Kritik an der Verflachung des Christentums hat manche in der Kirche und Theologie aufgeschreckt und manche Bewegung mit hervorgerufen.

Nietzsche hat in erster Linie als Anreger, Angreifer und Provokateur von Glauben und Theologie gewirkt. Er wirkte mehr als Anreiz und Herausforderung weniger als Orientierungshilfe. Seine positive Bedeutung liegt darin, dass er die Kirche nachdrücklich auf Diskrepanzen hingewiesen und vor die Frage gestellt hat, die die ewige Frage der christliche Buße ist: Bist du so, wie du vor Gott sein sollst und wie du zu sein beanspruchst? Nietzsche zwingt das Christentum zu einer Neubesinnung und bereitet eine neue Möglichkeit des Christentums wie des Christseins vor. Die Kirche des endenden l9.Jahrhunderts (Benz), die die Diskrepanz zwischen ihrem Anspruch, Kirche Jesu Christi zu sein, und ihrer fragwürdigen Wirklichkeit übersah, war ohne Zweifel an Nietzsche mit schuld. In einer Zeit, in der in der Kirche der prophetische Geist der Selbstprüfung erlahmte, musste der Antichrist Nietzsche das Amt des Propheten übernehmen. Die Kirche wird tausend neue Nietzsches hervorbringen, wenn sie sich nicht durch Nietzsche selbst auf diese Diskrepanz hinweisen läßt und wenn sie nicht ihre Schuld an Nietzsche zum Anlass einer Selbsterkenntnis und Buße nimmt und sich von ihm sagen läßt, dass das ursprüngliche Christentum nicht ein Glaube, sondern eine "Praxis des Lebens" war, die auch"heute noch möglich ist."

Indirekt wirkte Nietzsche als Bußprediger und Prophet. Er hat dem Christentum die Bequemlichkeit geraubt, sich hinter die traditionellen Formeln und Glaubensdefinitionen zurückzuziehen und diese mit Hilfe einer kunstreichen, alle Widersprüche ignorierenden und wohlklingenden Auslegung äußerlich dem modernen Leben einzufügen. Er hat die Kirche vor die Forderung einer neuen Verwirklichung des Evangeliums gestellt. Er nimmt dem Christentum die Ausrede, es handle sich beim Christentum um eine Lehre oder um eine Gesinnung, indem er zeigt, dass das ursprüngliche Evangelium eine Einheit von Erkenntnis und Leben war, dass es sich beim Christ-Sein um die Verwirklichung einer bestimmten Lebens- und Frömmigkeitsform handelt.

Dem billigen Gesinnungs-Christentum hat der "Antichrist" den heftigsten Schlag versetzt, indem er nachweist, dass dieses Gesinnungschristentum überhaupt nicht imstande ist, die ursprüngliche Form des christlichen Lebens zu erfüllen, sondern höchstens dazu kommt, eine historische Form der theologischen Auslegung des ursprünglichen Evangeliums zu reproduzieren. Der Antichrist wird also ungewollt zum Lehrer einer Nachfolge Christi, welche die Kirche immer wieder in Gefahr gerät, aus Schwachheit oder Bequemlichkeit, zu unterschlagen. Der "Mörder Gottes" oder "Nihilist" erscheint so ungewollt als Prophet einer neuen Möglichkeit des Christentums, welche die Kirche oft genug aus Furcht vor ihren unbequemen Folgen vorgezogen hat, zu verbergen. Indem Nietzsche eine Hauptgefahr der "theologischen Lüge" in ihrer Wurzel aufdeckte, zwingt er die Christen zur Wahrhaftigkeit.

Karl Barth fragt: Ist Nietzsche überhaupt der Gegner des Christentums, als der er erscheint? Muss er nicht vielmehr für einen das christliche Evangelium unglücklichen Liebenden gehalten werden, der "zum Wiederentdecker des ursprünglichen Christentums geworden ist?" Oder bleibt sein letztes Wort der Atheismus Schopenhauers, der Welt und Mensch von einer radikalen Diesseitigkeit her begreift? War er ein froher Botschafter, "ein Religionsstifter,der die Menschheit erlösen wollte von der Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens, die nach dem Zusammenbruch aller verbindlichen religiösen, ethischen und ästhetischen Überzeugen um sich griff, indem er einen neuen Sin verhieß: eine Heiligung des Lebens trotz der heillosen Vermischung des Großen und Furchtbaren - ein dionysisches Menschentum, das die Tragik des Lebens gläubig bejaht und "eine Art Vergöttlichung des Leibes" bringt. Oder war er nur ein "Desperado", der mit seinem Versuch einer Neugründung der Moral und der Stiftung einer neuen Religion scheiterte?"

Ernst Bertram meinte wiederum: Nietzsche sei "auf eine heimliche, parodistische und paradoxale Art Christ" und "eines der großartigsten Phänomene innerhalb der Geschichte des nordischen Christentums".

Nietzsche war einer der entschiedensten Gegner des Christentums im kritischen wie konstruktiven Sinn des Wortes. Seine Aussagen waren von beispielloser Wucht und Schärfe, aber auch von einer hohen Enthüllungskraft, so dass sie nicht selten zu einer neuen Lektüre des Christentums verhelfen. Die Lektüre Nietzsches ist auch für Christen lohnend. Die Verkündigung des tollen Menschen, seine Frage: Wohin ist Gott? wurden beispielsweise zum Anstoß für die Suche des christlichen Existenzphilosophen Gabriel Marcel nach dem Heil menschlicher Existenz in der "zerbrochenen Welt."

Kein Theologe kommt heute an Nietzsche vorbei. Ohne Nietzsches Kritik an der Verflachung und Erschlaffung des Christentums im 19.Jahrhundert hätte es wahrscheinlich die dialektische Theologie und die damit verbundene Abkehr vom Kulturprotestantismus nicht gegeben. Von unerhörter Aktualität ist sein Aufruf, der Erde treu zu bleiben, der an die Verantwortung der Christen für die so lange vernachlässigte Schöpfung erinnert. Aber auch der Gedanke der "Fernstenliebe", den Nietzsche der Nächstenliebe gegenüberstellt, ist unter ökologischen Aspekten und dem Gesichtspunkt der Verantwortung gegenüber Kindern und Enkeln, den Armen und Unterdrückten der übrigen Welt heute erst richtig brisant geworden.

Zarathustra: „Eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber... Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und wenn ihr zu Fünfen miteinander seid, muss immer ein sechster sterben.“

Nietzsches Fragen und Anmerkungen bleiben brennende Anfragen, er ist der Stachel nicht nur für Literaten, Verkünder und Theologen, sondern für uns alle.

Bibliographie:

(Im Rahmen einer vom Team "Offene Kirche, Arnsberg" initiierten Veranstaltungsreihe hielt ich am 7.Mai 2002 in der Auferstehungskirche Arnsberg ein Referat zum Thema "Nietzsche und das Christentum", dem wichtige Grundgedanken des obigen Beitrags zugrunde lagen.)


. . auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis