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Vergleich zwischen Roths Hiob und dem biblischen Hiob

In der Bibel heißt es von Hiob:"Er war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse." Roth beschreibt Mendel Singer ebenfalls gleich im zweiten Satz: als "fromm und gottesfürchtig". Schon diese Übereinstimmung im Wortlaut macht den Protagonisten - in unmittelbarer Fortsetzung des Roman-Titels - von Anfang an zur Hiob-Figur. Von Hiob heißt es jedoch im gleichen Bibelvers (Vers 8), es sei "seinesgleichen nicht auf Erden". Auch hierauf bezieht sich der Roman-Anfang, aber nur insofern, als er dieser Bestimmung im Hinblick auf Mendel Singer direkt widerspricht: Denn bei Mendel wird seine "Gewöhnlichkeit" hervorgehoben und ausführlich erläutert, indem vom "schlichten Beruf", vom fehlenden "Erfolg", vom "unbedeutenden Wesen", vom "landesüblichen jüdischen Kaftan", vom "unbedeutenden blassen Gesicht" und vom "gewöhnlichen Schwarz" des Vollbarts die Rede ist: "Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet." Das entspricht dem Untertitel des Buches, "Roman eines einfachen Mannes". Der große Hiob hat sich hier in einen jüdischen Jedermann verwandelt, der gleichwohl seine Würde hat und behält.

Roths Hiob-Figuren sind nicht wohlhabend wie der biblische Mann aus Uz, sondern Angehörige sozialer Randgruppen - ein kleinbürgerlicher Kriegsinvalide und ein orthodoxer Durchschnittsjude oder ostjüdischer Emigrant.

In der Zeit, in der der Roman spielt - es ist die Zeit, die auf den Ersten Weltkrieg hinführt - und in der Zeit, in der er geschrieben wurde - es sind die letzten Jahre der ihrem Untergang zueilenden Weimarer Republik -, zumindest in dieser Epoche sind die Millionen "kleiner Leute" die wahren "Hiobe". Es kann daher nicht mehr darum gehen, das Schicksal eines "Großen", und sei es dessen entsetzliches Hiob-Schicksal, zum Gegenstand eines Romans zu machen, sondern darum, das Hiob-Schicksal der Millionen, die an ihrer Zeit leiden und zugrunde gehen, an einem exemplarischen Fall darzustellen. Die russische Revolution mit der Umwandlung der konventionellen Landwirtschaften in Kolchosen und anschließender, oft tödlich verlaufender Hungersnot und die Ablösung des Kaiserreiches durch die Weimarer Republik mit Inflation und Hungerperioden waren von ihren Intentionen her darauf angelegt, den bisher Benachteiligten zu dienen. Dennoch waren viele kleine Leute in den Zeiten des Umbruchs schlechter gestellt als vorher. Viele fühlten sich entwurzelt und verloren den Boden unter den Füßen. Wie so oft waren die "kleinen Leute" wieder einmal die Leidtragenden der Geschichte.

Der moderne Hiob bei Roth ist ein einfacher Mann, der seine Gedanken nicht ausdrücken kann, auch nicht seine rebellischen. Daher setzt er sie in symbolische Handlungen um, indem er den Gebetsriemen anlegt oder sich anschickt, Gebetsutensilien zu vernichten und so den biblischen Hiob parodiert. Er versucht zum Beispiel, Gott zu ärgern, "indem er in das italienische Viertel hinübergeht um Schweinefleisch zu essen", ferner indem er nicht betet, obwohl es ihn schmerzt. Eine fast kindliche, um nicht zu sagen kindische Verhaltensweise legt Mendel Singer an den Tag. Er ist zwar keineswegs der völlig statisch gezeichnete demütig-passive Dulder, aber die Rebellion hat für ihn einen geringeren Stellenwert als für sein biblisches Vorbild. Gleichwohl kommt der anfangs demütige Dulder an den Rand der Rebellion, eine Haltung, die Ernst Bloch am biblischen Hiob sehr geschätzt hat. Allerdings geht Mendel nicht den letzten Schritt und lässt sich noch eine Tür offen, indem er seine Gebetsutensilien, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, nicht verbrennt.

Er besitzt nicht das intellektuelle Format und die geschulte Sprachmächtigkeit des biblischen Hiob, die diesen im Leiden wappnen, so dass er weder völlig schutz- noch ratlos seinen Schicksalsschlägen ausgesetzt ist. Mit solchen Kompetenzen kann sich Roths "einfacher Hiob" nicht messen. "Der überaus beredten Klage, ja argumentativ begründeten Anklage Gottes, einer geradezu methodisch entwickelten Provokation seines Schöpfergottes ist der einfältige Mendel Singer nicht fähig"(G.vom Hofe). Einfach erscheint er im Hinblick seiner sozialen Herkunft und seiner geistigen Fähigkeiten. Er kann sein schuldlos-schuldiges Leiden nur hilflos unzulänglich rationalisieren, wenn überhaupt zur Sprache bringen. Ihm gab nicht ein Gott zu sagen, "was ich leide". Mendel repräsentiert den unscheinbaren, aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Juden. Er ist der Typus des zeitgenössisch orthodoxen heimatlosen Ostjuden galizischer Provenienz.

Die historische Situation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwingt dazu, die alte Hiob-Frage neu zu stellen, im Zusammenhang mit dem Elend und dem Leiden von Millionen "einfacher Leute", die Theodizee-Frage nach einer letzten Gerechtigkeit in der Welt neu aufzuwerfen, vielleicht radikaler als bisher, weil es um das Elend der Massen geht.

Genau darin besteht das Mythisch-Parabolische oder Gleichnishafte der Existenz von Mendel-Hiob, dass sich hier im Schicksal eines einzelnen und seiner Familie der epochale Umbruch des 20. Jahrhunderts spiegelt, der 1917 mit der Russischen Revolution und dem Eintritt der USA in den Weltkrieg stattgefunden bzw. begonnen hat: die als Katastrophe empfundene Ablösung von der alten europäischen Welt, die dann noch lange nicht zur Entstehung einer stabilen, friedlichen neuen Welt, sondern zu einer Kette neuer Katastrophen geführt hat, die bis heute andauert.

Ein weiterer Gesichtspunkt: Beim biblischen Hiob heißt es:"Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, gelobt sei der Name des Herrn". Bei Mendel wird diese Einheit von Geben und Nehmen dichotomisch aufgespalten. Gott hat Mendel nicht mit unzähligen Gaben überschüttet wie den biblischen Hiob. Mendel ging es von Anfang an schlecht. Später wird ihm das Wenige, was er besaß, nämlich seine Familie, auch noch genommen. Geben und Nehmen verteilen sich hier auf verschiedene Personen als das ungleiche Maß der unberechenbaren Unbegreiflichkeit Gottes. Zunächst jedoch nimmt Mendel die ungleichen Verhältnisse quietistisch hin, weil er glaubt, dass alles nur provisorisch sei und dass ihm eines Tages Gerechtigkeit zuteil werde.

Der Protagonist in Roths Roman ist wohl vergleichbar, stimmt aber nicht völlig überein mit dem alttestamentarischen Hiob. Die Nähe von Roths Roman zur biblischen Vorlage ist unübersehbar. Die Sprache allerdings erinnert an die der Bibel. Sie ist einfach, schlicht, scheinbar naiv und bilderreich. Sie kennt formelhaft wiederkehrende Sätze, ist mitunter auch geradezu poetisch und hat einen doppelten Boden.

Einige Bezugstellen in Roths "Hiob" zum biblischen Hiob liegen auf der Hand. Wie Hiob verliert auch Mendel Singer seine Frau und seine drei anfangs gesunden Kinder, und was mit dem vierten ist, weiß er nicht, er befürchtet Schlimmes.

Die Freunde Skowronnek, Rottenberg, Groschel und Menkes kommen zu Besuch, um Mendel beizustehen und erweisen sich als hilfreicher als in der biblischen Vorlage. Sie machen ihm Vorwürfe, aber lassen ihn nicht allein. Sie fragen ebenfalls nach dem Zusammenhang von Sünden, Vergeltung und Bestrafung, doch sie sind nicht ganz so rechthaberisch wie die Freunde des biblischen Hiob, eher ratlos, weil sie bei Hiob nichts erreichen. Sie kümmern sie sich um ihn auch über den Tag hinaus. Die Solidarität der Juden, der mehr oder weniger stillschweigende moralische Imperativ "Juden lassen Juden nicht im Stich" ist hier mit eingeflossen.

Mendel selbst ist nicht ganz unschuldig. Der biblische Hiob wird hingegen als untadeliger Mensch dargestellt. Mendel ist blind, unsensibel gegenüber seiner Frau und seinen Kindern und lässt seinen Jüngsten im Stich. Er hat sich also durchaus einiges zu Schulden kommen lassen, doch wo gibt es den ganz und gar unschuldigen Menschen? "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein", heißt es in der Bibel bei Johannes. (8,7) Mendel ist, möchte ich kühn behaupten, lebensechter, realistischer gezeichnet als der biblische Hiob.

Auch Mendel geht wie Hiob anfangs von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang aus - so wie ich mich verhalte, so wird es mir ergehen -, von einer Kausalität zwischen Schuld und Strafe, nach der Devise, wenn ich kein Unrecht tue, geschieht mir auch nichts Böses. Er diente Gott buchstabentreu, formal rituell. Er sah nicht mit dem Herzen, dadurch verfehlte er sowohl Gott als auch die Menschen


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