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Was hielten Juden von Schiller?

Zu seinen Lebzeiten wurde Schiller, im Gegensatz zu Goethe, von weltlich gebildeten Juden relativ wenig beachtet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch stieg seine Popularität mächtig an.

Ludwig Geiger, der darauf bedacht war, alle großen deutschen Dichter von dem Verdacht des Antisemitismus freizusprechen, meinte, dass die deutschen Juden weder Goethe noch Schiller wegen ihrer Lauheit gezürnt hätten, im Gegenteil gerade Schiller hätten sie, soweit sie sich als Deutsche fühlten, gehuldigt und ihn als nationalen und idealen Dichter gefeiert.

Tatsächlich haben viele Juden sich direkt und unumwunden zu Schiller bekannt. Hier einige Beispiele: Oskar Blumenthal (1852-1917) zitierte mit Vorliebe Schiller. Ludwig Fulda (1862-1939), der sich als Deutscher jüdischer Abstammung verstand, zählte neben Goethe, Lessing, Kant und Schopenhauer auch Schiller zu seinen "Propheten" und widmete ihm zu seinem hundertsten Todestag 1905 ein langes Gedicht nach dem Lied "An die Freude". Für Joseph Roth(1894-1939) wiederum war "das Land Goethes und Schillers" Inbegriff eines europäischen Humanismus.

Die "Allgemeine Zeitung des Judentums" konstatierte in einem Aufsatz von Kayserling zu den Schillerfeiern 1859, an denen sich auffallend zahlreiche Juden beteiligt hatten, dass Schiller ein Liebling der jüdischen Jugend sei. Der Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der in seinen Kanzelreden oft auf Goethe und Schiller zu sprechen kam, lobte zum 100.Geburtstag Schiller am 10. November 1859 emphatisch als "die Dämmerung jener Morgenröte, wo die Menschen einst alle aufstehen werden und die Binde vollends von ihren Augen fallen wird".

Auch Juden, die wie Moses Hess und der heute nahezu vergessene Schriftsteller Ludwig Kalisch (1814-1882) im Pariser Exil lebten, haben in großer Zahl an den Feierlichkeiten zum hundertstem Geburtstag von Friedrich Schiller teil genommen. In Gegenwart von über dreitausend Personen hielt Kalisch im Cirque de l'Impératrice die Festrede, in der er hauptsächlich Schillers Bedeutung für den moralischen und ethischen Fortschritt der Menschheit würdigte. "Das goldene Zeitalter", so rief Kalisch am Schluss seiner Rede aus, "wird und muss kommen, denn die Menschheit schreitet vor und nicht rückwärts..."

Vor allem in Galizien und in der Bukowina galt Schiller als "der" deutsche Freiheitsdichter schlechthin. Wegen seines mitreißenden Freiheitspathos war der Dichter des Idealismus für geknechtete Ostjuden geradezu ein Labsal. Man nannte ihn sogar "Rebb Schiller".

Adolf Jellinek behauptet in "Der jüdische Stamm" bei der Schilderung einer Talmudschule aus dem 3.Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts: "Der Hörer talmudischer Kasuistik trägt Don Karlos bei sich und schwankt zwischen der Gedankenfreiheit des Marquis Posa, für die er besonders schwärmt, und den haarscharfen Distinktionen seines Meisters."

Chaim Nachman Bialek (1873-1934) wiederum hat den Dwir-Verlag in Berlin gegründet, in dem "Wilhelm Tell" in hebräischer Übersetzung erschien.

Einen Einfluss Schillers bemerkt man auch in Berthold Auerbachs Briefen. Eine Reihe von Zeugnissen belegt Schillers große Popularität in jüdischen Kreisen und seine direkte Einwirkung auf die Dichtung innerhalb all dieser Zirkel.

Der 1848 in Mähren geborene Gustav Karpeles schreibt an Geiger: "Von der Popularität Schillers im Ghetto, namentlich in den Talmudschulen (Jeschiwas) können Sie sich gar keine Vorstellung machen. Man kann diese nicht hoch genug einschätzen und getrost behaupten, Schiller war der Dichter des Ghetto; namentlich gilt dies für Polen und Österreich." Von Karpeles stammt eine kleine Schiller-Anekdote:" Ein Bachur wird von einem Kollegen erwischt, als er ein deutsches Buch laut liest. Der Späher hört ihm aufmerksam zu, wie er liest: 'Zu Dionys. dem Tyrannen - dem Rosche - schlich - er ist geloffen - Möros, den Dolch - den Chalef - im Gewande - in der Kapote-;' Nun stürzt der Späher auf den harmlosen Leser los: 'Was machst Du denn da?' Antwort:'Ich verteutsch mir Schiller'".

In einschlägigen Erinnerungen, Briefen, Berichten osteuropäischer Juden, aber auch aus den Ghettos im engeren deutschen Bereich sind eine Fülle von Anekdoten und kleinen Szenen überliefert, die eine erstaunliche Präsenz Schillerscher Gedichte, Balladen, einzelner Theaterstücke (vor allem von Don Karlos) bezeugen. Die seinerzeit beliebte und viel zitierte Skizze "Schiller in Barnow" des aus Galizien stammenden Karl Emil Franzos veranschaulicht besonders gut Schillers Beliebtheit im Osten Europas: Ein zerlesenes Exemplar von Schillers Gedichten ist gemeinsames Eigentum eines katholischen Mönchs, eines ruthenischen Schulmeisters und eines Barnower Juden. Schiller spendete dem ärmlichen Leben, wie Franzos schreibt, der drei "Licht und Labung".

Franzos berichtet weiter, dass es in Barnow (der Ortsname ist ein Pseudonym für seine Heimatstadt Czortków) mit einer nicht unerheblichen jüdischen Bevölkerung, fünfmal Schillers Werke in Einzel- oder Sammelausgaben gegeben habe, aber nur die Juden hätten darin mit wachsendem Entzücken gelesen, und zwar je ärmer und elender sie waren, desto entzückter seien sie gewesen.

Bekannt geworden sind auch ernsthafte und wohlgelungene Übersetzungsversuche der Schillerschen Werke in Galizien oder Russisch-Polen. Alle seine Dramen und die meisten seiner Gedichte sollen dort sogar ins Hebräische übersetzt worden sein.

Samuel Meisels beschreibt in "Deutsche Klassiker im Ghetto" die jüdische Aufnahme der deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller in Polen und Russland mit folgenden Worten: "Die gebildeten Juden des Ostens brachten den beiden Dichterheroen dieselbe Ehrerbietung entgegen, aber nicht dieselbe Liebe. Goethe war ihnen bloß der große Dichter, Schiller dagegen ihr Freund, ihr Tröster, ihr Liebling." Meisels schreibt weiter: "Sie schauten zu ihm (Schiller) empor wie zu einem Gottesmann und huldigten ihm wie einem König. Sie bewunderten in ihm den Genius der Menschheit und der Menschlichkeit. Was dämmernd noch in ihrem Geiste webte, was ahnungsvoll ihr Herz bewegte - in seinen Werken fanden sie es in wundervollen Tönen und mit einem an die Propheten gemahnenden Pathos vorgetragen."

Schiller war also weitaus mehr als ein aus dem Westen importierter Lesestoff, merkt Hans Otto Horch an.

Und bei Meisels heißt es weiter:"(er) galt im Ghetto nicht als gottbegnadeter Dichter, sondern als Weiser, den Gott mit einem Teil seiner Weisheit ausgestattet hat... Schillers Werke gehörten zu denjenigen Büchern, die man in der Abenddämmerstunde - der Tag musste dem Thorastudium geweiht sein - ungehindert lesen durfte. Die Schriften Mendelssohns waren in Acht und Bann getan, viele hebräische Bücher standen auf dem Index, aber Schiller war frei."

Goethe hatte es im Ghetto hingegen etwas schwerer. Doch durchweg wusste man über die Biographien der beiden Dichter herzlich wenig, sondern man nahm ihren Namen gleichsam als Kürzel für ihre Werke. Als 1832 die Nachricht von Goethes Tod den gebildeten Oberrabbiner in einem galizischen Städtchen namens Zolkiew so erschütterte, dass er sie in der Synagoge der Gemeinde weitergab, trauerte die Gemeinde um ihn in der rechten jüdischen Weise, weil sie annahm, ein gelehrter Rabbi namens Goethe sei gestorben - eine seltsame Ehre für einen großen Dichter, der bis zu seinem Lebensende mit den Juden nicht völlig ins Reine gekommen war.

Die jüdische Rezeption Goethes und Schillers in Deutschland machte vergleichbare Unterschiede. Unter den östlich orthodox ausgerichteten Juden fanden sich mehr Begeisterte für Schiller als für Goethe. Schillers Überzeugungen schienen ihnen eher in Einklang mit jüdischen Idealen zu stehen als die Goethes. Dagegen haben sich die westlich ausgerichteten assimilierten Juden mitunter despektierlich über Schiller geäußert, von Börne bis hin zu Adorno.

Bei Ludwig Börne (1786-1837) findet man eine Reihe wegwerfender Äußerungen über den Dichter, namentlich über seine Stellung im deutschen Volk, für die Schiller am wenigsten selbst verantwortlich war, sowie über seinen Mangel an Witz. Enttäuscht war Börne über Schillers Kotau vor dem Weimarer Aristokratismus, wusste er doch, dass der "Dichter der Vernunftfreiheit" zumindest zu Beginn der Französischen Revolution mit deren Zielen sympathisiert hatte. Anfangs hatte Börne Schiller mit dem "liebevollen, weltumfluteten Herzen" gelobt, später sah er in ihm nur noch einen elitären Geistesaristokraten. "Haben Goethe und Schiller das Recht, auf das Volk, dem sie angehören, so stolz herabzusehen?" fragt er in seinem Sodener Tagebuch und gibt sich selbst die Antwort: "Sie weniger als einer. Sie haben es nicht geliebt, sie haben es verachtet, sie haben für ihr Volk nichts getan...Schiller und Goethe lebten nur unter ausgewählten Menschen, und Schiller war noch ein schlimmerer Aristokrat als Goethe."

Die Tötung Geßlers durch Tell in Schillers Stück empfand Börne als "schnöden Meuchelmord" und äußerte seine Verwunderung darüber, wie man diese Tat je sittlich und schön habe finden können.

Heinrich Heine (1797-1856) fühlte dagegen für Schiller große Verehrung. Er nannte ihn "das schönste Herz, das jemals in Deutschland gelebt und gelitten hat." Auch erkannte Heine: "Schiller schrieb für die großen Ideen der Revolution, er zerstörte die geistigen Bastillen, er baute an dem Tempel der Freiheit und zwar an jenem ganz großen Tempel, der alle Nationen gleich einer einzigen Brüdergemeinde umschließen soll. Er war Kosmopolit."

Der jüdische Publizist und Humorist Moritz Gottlieb Saphir (1795-1858) wiederum schrieb Parodien auf Verse aus der "Jungfrau von Orleans" und auf Schillers "Punschlied", Friedrich Torberg auf die "Glocke".

Im Kampf zwischen Marxismus und Revisionismus geriet der Dichter entweder zum Musterfall politischer Rückständigkeit im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts - so zum Beispiel in Franz Mehrings (1846-1919) "Schiller - Lebensbild für deutsche Arbeiter von 1905" - oder zum revolutionären Idealisten, wie ihn Kurt Eisner (1867-1919) im gleichen Jahr dem Massenpublikum des "Vorwärts" präsentierte.

In "Schiller und die Gegenwart" (1905) schreibt er: "Dem Götzenbilde, das die bürgerlichen Klassen aus ihm gemacht haben, zerschmettern wir die tönernen Füße, aber in dankbarer Ehrfurcht grüßen wir die hohe Gestalt des kämpfenden Mannes in der Ahnenreihe des proletarischen Emanzipationkampfes." Rosa Luxemburg wiederum meint über Mehrings Schillerbuch, dass Mehring ".. indem er den Leser vor kritiklosem Nachbeten und jeglichem Kultus Schiller gegenüber bewahrt, zugleich die wirkliche erhabene Schönheit seines großen Lebenswerkes der deutschen Arbeiterschaft nur um so plastischer vor Augen" bringt.

In der von Karl Marx redigierten "Neuen Rheinischen Zeitung" dominieren vor allem die ironischen Bezüge auf Schiller und ein eher ambivalentes Verhältnis zur pathetischen Politik. Für Lassalle (1825-1861) und dessen Anhänger ergibt sich hingegen ein ganz anderes Bild.

Einer der sehr wenigen Exulanten, die Schiller tatsächlich als Autor des Widerspruchs und der Zerrissenheit des beginnenden bürgerlichen Zeitalters ernst nahmen und ihn nicht zum Inbegriff des "besseren Deutschland" stilisierten, war Georg Lukács (1883-1971). In seinen zunächst 1935 in Moskau publizierten Überlegungen zu "Schillers Theorie der modernen Literatur" griff er nochmals auf Engels Formel von der "Vertauschung der platten mit der überschwenglichen Misere " zurück. Doch hatte seine abgewogene Darstellung von Schillers Monumentalisierung heroischer Gestalten und auswegloser Situationen keine Chance gegen die Suche nach eindeutig positiven Identifikationsfiguren wie sie innerhalb der Exil-KPD vor allem Johannes R.Becher betrieb

Laut Lukács lässt sich Schillers ästhetische Erziehung als ein Versuch deuten, das Ziel der Revolution "ohne Revolution" zu verwirklichen, die Revolution also überflüssig zu machen. Lukács bemühte sich ferner, ausgehend von seiner marxistischen Literaturtheorie, die Besonderheit der im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe sich manifestierenden klassischen oder klassizistischen Positionen aus den sozio-ökonomischen Verhältnissen der Zeit nach 1789 zu bestimmen, und kam zu der Ansicht, dass die "Widersprüchlichkeit" der Kunsttheorie Goethes und Schillers sowie der anscheinende Widerspruch zwischen poetischer Theorie und Praxis, zwischen Formen und Inhalten, zwischen Zeitentrücktheit und Zeitgebundenheit aus den Widersprüchlichkeiten der in Deutschland noch nicht sonderlich entwickelten bürgerlichen Gesellschaft resultierten.

Alfred Kerr (1867-1948) bekannte 1908: "Schiller - meine Schätzung Ihres Lebenswerks ist viel kleiner als meine Liebe zu Ihnen.." und zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstag 1909 lieferte er einen amüsant ironischen Beitrag,: "Schiller-Feste. Geburtstag. Dank des deutschen Volkes. Alle Parteien. Der herrliche Freiheitsschwabe. Die Bösen murmeln: 'Als Räuber geboren, als Hofrat gestorben.' Die Guten murmeln: 'Er war unser!' Nietzsche grient im Grabe (man wendet sich von ihm ab)... Der Zeitpunkt kommt, wo jemand aufhört ein Schriftsteller zu sein und anfängt ein Mythus zu werden. "Nichts an dir war scheel und niedrig/Teurer Schiller, edler Friedrich."

Brecht meinte später, dass mittlerweile der Original-Schiller unerträglich geworden sei und macht dafür die bürgerlichen Kulturverwalter, allen voran Alfred Kerr, verantwortlich.

Max Liebermann schreibt zum Schillerjahr 1905: "Nachdem mir das Gymnasium Schiller so viel als möglich 'verekelt' hatte, gehörte in den späteren Jahren, die ich in Weimar verlebte, Goethen meine ganze Liebe." Aber dann habe er "Kabale und Liebe" gelesen und konnte nicht aufhören zu lesen. "Die Räuber", "Fiesco" hätten ihn dann gleicherweise mit sich fortgerissen. "Aus einem Schiller-Verächter wurde ich ein Schiller-Anbeter und bin's geblieben bis zum heutigen Tage."

Hugo von Hoffmannsthal gestand 1905: "Der Goethe-Schiller Briefwechsel gehört zu den Büchern, die ich, wenn man unter allen existierenden Büchern eine geringe Zahl auswählen müsste, am schwersten vermissen würde."

Egon Friedell wies 1909 darauf hin, dass sich im Nachlass Otto Weiningers ein kleiner Aufsatz befindet, in dem Schiller als das Urbild des modernen Journalisten geschildert wird und stellt fest: "Dieser sonderbare historische Fehlschluss von den Schülern auf den Meister ist für die Beurteilung Schillers typisch geworden". "Denn ein Dichter ist ja schließlich?, so Friedell, ?nichts anderes als ein Mensch, der von der Zukunft mehr versteht als von der Gegenwart."

Theodor W.Adorno (1903-1969) kanzelte dagegen den vermeintlich praxisfernen Künstler ab als "Hofpoet des deutschen Idealismus" und ließ sich bösartig über seinen Stil aus: "Der sprachliche Habitus Schillers gemahnt an den jungen Mann, der von unten kommt und befangen, in guter Gesellschaft zu schreien anfängt, um sich vernehmlich zu machen: power und patzig." Noch in dieser Karikatur und in ähnlich pejorativen Urteilen sublimiert sich, so Klaus L.Berghahn, die richtige Erkenntnis, dass offenbar ein rhetorischer Duktus zur Eigentümlichkeit von Schillers Stil gehöre.


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