Über die Abgründigkeit des Bösen
Philosophen und Theologen können sein Rätsel erhellen, aber nicht lösen (Literaturbericht)
Das Böse fasziniert. Sein Spektrum hat viele Facetten. Seit einigen Jahren hat es Konjunktur. Man spricht sogar von einer Renaissance des Bösen. Die Beliebtheit von Krimis und Krimiserien im Fernsehen bezeugt, dass es Formen des Bösen gibt, die wir regelrecht genießen. Aber auch in ernsthaften Filmen und literarischen Werken, in Ausstellungen,selbst in einem Spiegel-Artikel (Nr.52/96)und auf Kongressen beschäftigte man sich in jüngster Zeit wiederholt mit dem Bösen und - man höre und staune - sogar mit dem Teufel.
Wenn dagegen in der Realität Verbrechen geschehen, wenn Menschen überfallen und erpresst, Kinder entführt und ermordet werden, oder wenn in unsicheren Gebieten wie in Bosnien, Ruanda, Algerien oder unter gewalttätigen Herrschern wie einst unter Hitler und Stalin Menschen regelrecht abgeschlachtet werden, dann ist das Entsetzen allenthalben groß, und man fragt sich, was macht Menschen so böse? Was ist bloß in jene gefahren, die andere quälen und vernichten? Von wem oder was wurden sie verführt? Und in welchem Verhältnis stehen die Freiheit des Menschen und die ihn versklavende Macht des Bösen zueinander? Wer ist überhaupt der Mensch, dass er zu derartigen Taten fähig ist? Warum ist er so grausam und brutal? Wie kommt eigentlich das Böse in die Welt? Fragen über Fragen, für die, nach landläufiger Meinung, vor allem Philosophen und Theologen, aber sicherlich auch Psychologen und Naturwissenschaftler zuständig sind.
RÜDIGER SAFRANSKI: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. 335 S.,Carl-Hanser-Verlag, München 1997.
Rüdiger Safranski sieht im Bösen den Preis für die menschliche Freiheit und glaubt, dass man nicht den Teufel bemühen müsse, um das Böse zu verstehen, weil das Böse zum Drama der menschlichen Freiheit gehört. Für Safranski ist das Böse kein Begriff, eher ein Name für alles Bedrohliche, das dem Menschen begegnet und zu dem er selber fähig ist. Dem Bösen kommt man, seiner Meinung nach, weder mit einer These noch mit einer Problemlösung bei. Auch Aufklärung und Systemveränderungen können das Böse,wie die Geschichte gezeigt hat, nicht aus der Welt schaffen, im Gegenteil: nicht selten versteckt sich das Böse gerade hinter Ideologien, die das Ziel haben, die Menschen zu verbessern.
In der Sündenfall-Geschichte liegt das Böse,laut Safranski, in der Entfremdung von Gott, in der Geschichte von Kain und Abel in der Verfeindung zwischen den Menschen. In einer Philosophie, die nach Sinn sucht, ist das Böse das Sinnabweisende und Sinnlose. Der Autor untersucht die verschiedenen Erscheinungsformen des Bösen, von den antiken und biblischen Mythen über die Philosophie- und Literaturgeschichte bis hin zu Hitler. Erzählend vergegenwärtigt er die Anstrengungen großer Denker und Dichter, mit dem Phänomen des Bösen gedanklich fertig zu werden, wobei sich seine Ausführungen häufig auf abstrakten Höhen bewegen. Platon, Augustinus, Hobbes, Schelling, Schopenhauer, Baudelaire, Freud und viele andere ziehen an unserem geistigen Auge vorbei. Der in Berlin lebende Schriftsteller entfaltet ein Panorama unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Bösen, indem er zitiert und referiert, ohne die Schriften, auf die er sich bezieht, immer genau zu benennen.
Im Paradies, führt Safranski aus, beginnt das Abenteuer der Freiheit. Denn als Gott Adam und Eva untersagte, vom Baum der Erkenntnis zu essen, überließ er ihnen die Wahl, das Verbot zu akzeptieren oder zu übertreten. Sokrates und Platon glaubten, dass der Mensch Böses niemals freiwillig und wissentlich tut, sondern nur aus Mangel an Einsicht und Erkenntnis. Bei den griechischen Philosophen richtete sich der Mensch nach sich selbst, für Augustinus war dies Transzendenzverrat. Der Mensch müsse sich,so Augustinus, Gott öffnen, sonst fällt er dem Bösen anheim. Ähnlich argumentierten Schelling und Schopenhauer, wenngleich mit anderen Begriffen und auf anderen Ebenen. Laut Kant ist der Mensch so frei, dass er sogar von seinem Eigennutz absehen und das Gute tun kann, weil es das Gute ist und nicht etwa deshalb, weil es für ihn gut ist. Ziemlich harmlos ist hingegen Kants Bild vom Bösen. Das Böse, das um des Bösen willen getan wird, das absolut Böse also, gehört für den Königsberger Philosophen in den Bereich des Menschenunmöglichen. Er nennt es "teuflisch"und behauptet, dass es unter Menschen nicht vorkäme, weil das Böse beim Menschen an Motive der Selbsterhaltung gebunden sei. Bei Kants finsterem Doppelgänger, dem Marquis de Sade, ist dagegen die Zerstörung sich selbst zum Zweck geworden. In seinem Fahrwasser segelten, nur stilistisch noch radikaler, die ästhetischen Revolutionäre wie Baudelaire, Poe oder Rimbaud.
In unserem Jahrhundert sei das Denken, schreibt Safranski, weniger durch "böse"Poeten, als vielmehr durch die Großverbrechen des Nationalsozialismus und Stalinismus herausgefordert. Seitdem wissen wir, wie bodenlos die Grausamkeit des Menschen ist und wie groß seine Lust an Zerstörung und Brutalität sein kann. Vieles, was Hitler ausgeführt hat, war im 19.Jahrhundert durch Biologismus und Naturalismus, vorgedacht worden. Trotzdem nimmt Safranski an, dass die Strukturen der industriellen Moderne keine hinreichenden Bedingungen für den planmäßig organisierten und industriell durchgeführten Massenmord gewesen seien. Es habe der "böse" Willen eines Besessenen hinzukommen müssen. Der Verfasser verzichtet darauf, Hitler gesellschaftlich und historisch zu erklären, obwohl er gewisse Einflüsse nicht leugnet. Hitler sei zum Bösen entschlossen gewesen, meint er, er habe eine schwarze Metaphysik gehabt und den Planeten von "Bazillen"- das waren für ihn Juden und Zigeuner - säubern wollen. Genau das habe viele geblendet. Safranski hat sicherlich recht, wenn er konstatiert, dass alle Theorien, die über Hitler im Umlauf sind, diesen Mann gar nicht fassen, doch unterschätzt er bei weitem die Rolle der Täter und Mitläufer. Der Einzelne ist nämlich auch, wie Hannah Arendt einmal gesagt hat, für seinen Gehorsam verantwortlich.
Wie stehen wir heute zum Bösen und zum Sündenfall? Safranski erinnert daran, dass man sich zu Beginn der Karriere des abendländischen Willens zum Wissen das Glück der Erkenntnis versprochen hatte. Inzwischen wüssten wir, nicht zuletzt durch die modernen Bio-Wissenschaften und durch Umweltzerstörungen, dass die theoretische Neugier zu Einsichten führen kann, die nicht mehr lebensdienlich sind, die in Verzweiflung umschlagen können und den Verdacht nähren, "dass es womöglich ein Verhängnis war, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben."
Und wie sollen wir in der Gegenwart mit der Erfahrung der Kontingenz umgehen? Hier hilft uns allein die Religion, glaubt der Verfasser. Sie bewahrt eine Ehrfurcht vor dem Unerklärlichen und der Unergründlichkeit der Welt und mahnt uns, dass wir hier nur zu Gast sind, mit beschränkter Aufenthaltsgenehmigung.
Safranski beherrscht die Kunst,schwierige philosophische Zusammenhänge knapp, pointiert und verständlich zu erläutern und unsere mitunter verengte Sichtweise auf ein höheres anthropologisches und religionsphilosophisches Niveau zu heben. Das beeindruckt. Dennoch hat man bei der Lektüre zuweilen das Gefühl, dass ihm das Thema entgleitet, weil mehr von der Freiheit als von dem Bösen die Rede ist. Da Rüdiger Safranski einen radikal metaphysischen Freiheitsbegriff vor Augen hat, werden konkrete Erfahrungen mit dem Bösen an den Rand gedrängt. Schade ist zudem, dass der Philosoph keinen Blick in die Sozialgeschichte und in die Psychoanalyse wirft und das weite Feld vernachlässigt, das zwischen der Verabsolutierung und der Leugnung der Freiheit liegt, dabei macht es uns gerade diese Diskrepanz oft so schwer, auf Straftaten, Brutalitäten und das Böse schlechthin angemessen zu reagieren.
EKKEHARD MARTENS: Zwischen Gut und Böse. Elementare Fragen angewandter Philosophie. 219 S., Philipp Reclam jun., Stuttgart 1997;
Ekkehard Martens, Professor für Didaktik der Philosophie und der Alten Sprachen an der Universität Hamburg, fragt dagegen nicht nach dem metaphysischen Grund und dem Wesen des Bösen, sondern zeigt vor allem philosophische Richtlinien auf für die Bewältigung elementarer Probleme im praktischen Leben.
Wir müssen uns immer wieder, betont Martens, zwischen Gut und Böse entscheiden, ohne genau zu wissen, was das Gute und das Böse wirklich sind. Keine der beiden Alternativen vermögen wir mit Sicherheit zu bestimmen. Doch können wir moralischen Entscheidungen schwerlich ausweichen, heute weniger denn je, da wir weder aus der Moderne aussteigen noch bedenkenlos weitermachen dürfen.
Martens sieht in Sokrates sein großes Vorbild, durch das wir lernen könnten, was es bedeutet, sich zwischen Gut und Böse durch Denken zu orientieren. Unbeirrt habe Sokrates danach gefragt, was wirklich wahr oder gut sei, und habe sich selbst von vermeintlichen Autoritäten seiner Zeit nichts vormachen lassen. Wichtig sei, laut Sokrates, dass im eigenen Seelenhaushalt die zerstörerischen Triebe durch Selbstbeherrschung gezügelt oder durch Gegenkräfte ausgeglichen würden und dass im Zusammenleben mit anderen Menschen deren Rechte beachtet würden. Auch sei heute noch gültig, so Martens, was Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor Gericht vorgebracht hatte, dass der Mensch "tagtäglich über das Gutsein (arete) Gespräche" (S.102) führen müsse. Denn ein ungeprüftes Leben, habe Sokrates gemeint, sei für den Menschen nicht lebenswert.
Allerdings habe der griechische Philosoph, gibt Martens zu bedenken, noch in dem geradezu kindlich-naiven, fast religiösen Urvertrauen gelebt, dass es in der Welt und in unserem Leben grundsätzlich möglich und geboten sei, zwischen Wahr und Falsch, Gerecht und Ungerecht zu unterscheiden. Da uns dieses Urvertrauen längst abhanden gekommen sei und sich die Welt enorm weiterentwickelt habe,dürften wir nicht bei Sokrates stehen bleiben. Die Ausgangsfrage, wie wir heute zwischen Gut und Böse leben können, sei zwar nicht ohne Sokrates zu klären, aber auch nicht mit ihm allein. Vielmehr müsse heutiges Philosophieren Sokrates' Haltung, Methode und inhaltliche Überlegungen auf die Probleme unserer wissenschaftlich-technischen Wirklichkeit beziehen.
Wer wir als Menschen sind oder sein sollen und was wir jeweils zu tun haben, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen, erläutert der Verfasser weiter. Erfahrungsgemäß sind Menschen zu beidem fähig, zum Guten wie zum Bösen. Die Frage indessen, warum wir gut sein sollen und was dies im einzelnen bedeutet, läßt sich weder durch Berufung auf Gott, die Natur oder die Vernunft als absolute Instanzen bestimmen, noch verfügen wir über sichere Argumente, die unsere Einsichten dingfest und unwiderlegbar machen. Vermutlich wird jeder zustimmen, dass wir einen Menschen gut nennen, meint der Autor, wenn er in seinem Denken und Tun nicht nur seine eigenen Interessen berücksichtigt, sondern auch die anderer Menschen, anderer Lebewesen und der Natur.
Trotz des Eingeständnisses unseres Nichtwissens versucht Martens, einigen Fragen auf den Grund zu gehen, zum Beispiel den Fragen: Kann ein anderer wissen, was mich glücklich macht? Wie unterscheiden wir uns von den Tieren? Was bedeutet die zunehmende Computerisierung sämtlicher Lebensbereiche? Wie ist Frieden als gerechte Konfliktregelung möglich? Und:Ist Abtreibung erlaubt? Hier sind einige seiner Antworten: Ein Tier verhält sich, behauptet der Autor, durchaus moralähnlich in seinem Pflege- und Brutverhalten, aber es handelt nicht aus Einsicht und freiem Wahlverhalten und kann daher für sein Fehlverhalten nicht verantwortlich gemacht werden. Computer wiederum sind nicht in der Lage, für uns zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen weder im juristischen noch im moralischen Sinne. Gleichwohl ist der Computer in vielen Bereichen ein unentbehrliches Hilfsmittel. Da wir, auch mit Hilfe des Computers, konkret besser leben wollen und können, liegt die letzte Verantwortung für seine richtige Anwendung bei jedem einzelnen und bei der Gesellschaft insgesamt.
Die Frage, ob Abtreibung erlaubt sei, zeigt dagegen, in welcher Orientierungsunsicherheit wir alle uns in der Moderne befinden, in der kaum mehr allgemein verbindliche Wertmaßstäbe fraglos gelten. Jeder mag seine festen Grundwerte oder Weltanschauungen haben. Niemand könne allerdings in einer modernen, offenen Gesellschaft erwarten, dass die anderen diese ebenfalls haben, und erst recht nicht, dass bei grundsätzlichem Konsens Einigkeit in der konkreten Interpretation und Anwendung besteht.
ANNEMARIE PIEPER: Gut und Böse. 127 S., Beck Verlag, München 1997;
Die Baseler Philosophieprofessorin Annemarie Pieper analysiert das Problem des Guten und Bösen aus alltagssprachlicher,naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Sicht. An den Anfang ihrer Untersuchungen stellt sie die Fragen: Warum sind die Menschen nicht einfach gut? Liegt die Ursache des Bösen im "Sündenfall",in egoistischen Genen oder in ungünstigen sozialen Bedingungen? Anscheinend entsteht das Böse, vermutet sie, durch maßloses Wollen, das im Guten, das sich gemeinschaftsbildenden Regeln verpflichtet weiß, keine Befriedigung findet. Wer das Böse will, will etwas Einzigartiges sein, ein radikaler Individualist, der sich nicht um das Wohlergehen der Mitmenschen schert. Andererseits gibt es laut Hannah Arendt auch die Banalität des Bösen, verkörpert durch Adolf Eichmann,dessen fehlendes Einsichtsvermögen ein mangelndes Unrechtsbewusstsein bedingte. Immerhin war Eichmann ein Mensch, der, wie viele andere in einem totalitären Staat,sich nur als Befehlsempfänger verstand, für den sich Pflichterfüllung und Verantwortung auf die Ausführung von oben erteilter Befehle erstreckten, ohne dass er sich selbst über die Vernünftigkeit und Moralität des von ihm Verlangten Gedanken machte. Anders wiederum verhält es sich mit jenen, die an der Spitze einer Hierarchie stehen und ihre Macht zur Durchsetzung des Bösen missbrauchen.
Oft bemüht man sich, fährt die Autorin fort, bei Verbrechern Anomalien des Gehirns oder defekte Gene nachzuweisen. Letztlich seien solche Versuche nur ein Indiz für unsere Hilflosigkeit, mit der wir auf Verhaltensweisen reagieren, die kollektive Werte, Normen und fundamentale Menschenrechte verhöhnen. Dass jemand in vollem Bewusstsein des Bösen sich für das Böse entscheidet, übersteigt offensichtlich unser Vorstellungsvermögen.
Während die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise die biologische Vorgeschichte des Menschen zur Erklärung seiner Verhaltensweisen heranzieht und die vergleichende Verhaltensforschung das Verhalten aller Lebewesen unterschiedslos auf das Diktat der Gene zurückführt, schreiben Psychoanalytiker und Soziologen für die Herausbildung guter und böser Interaktionsmuster dem sozialen Milieu eine entscheidende Bedeutung zu. Aus soziologischer Perspektive trägt das gesellschaftliche Umfeld mindestens eine Mitschuld, wenn nicht gar die ganze Schuld, wenn Menschen scheitern, sofern repressive Strukturen des sozialen Systems eine freie,individuelle Selbstentfaltung unmöglich machen. Sogar Freud nahm an, dass der Mensch seinem psychischen Apparat nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern dass er sich bis zu einem gewissen Grad davon befreien und Herr im eigenen Seelenhaushalt werden kann. Das Böse war für Freud wiederum nicht etwas Selbstverschuldetes, vielmehr eine natürliche Reaktion auf eine als Unrecht erlebte Verletzung als auch eine List der Kultur, um das Ich zum Triebverzicht zu zwingen. Erich Fromm wiederum lastete das Versagen eines Menschen dem Destruktionstrieb an, den er im Unterschied zu Freud nicht für angeboren hielt, sondern für eine ursprüngliche Kraft, die erst durch ungünstige Umstände zerstörerisch wirkt.
In der Theologie sind ebenfalls verschiedene Ansichten darüber entwickelt worden,was den Menschen zu Fall brachte. Die einen glauben, Gott sei mit verantwortlich für das Böse in der Welt, andere wiederum hängen der Sündenfall-Theorie an, die alle Schuld Eva und Adam zuweist. Allerdings sei schwer zu verstehen, so der Einwand der Autorin, worin genau die Verfehlung der ersten Menschen besteht, die ihrem Schöpfer zwar nicht gehorchten, aber doch hofften, etwas zu wissen bekommen, das sich zu wissen lohnt. Immerhin erscheint die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies als eine Überreaktion Gottes, die ihren Grund darin haben könnte, dass Gott die Menschen nur als ihm ähnliche, nicht aber als ihm gleiche Wesen wollte.
Für die antiken Philosophen,die den Kosmos als vollendetes, harmonisches Ganze begriffen, in dem kein Platz für Böses war, kam als Urheber des Bösen nur der Mensch in Frage, der aus der kosmischen Ordnung herausgefallen war und dabei die Orientierung verloren hatte. Annemarie Pieper diskutiert metaphysische Deutungsmuster-monistische und dualistische Modelle in der abendländischen Philosophie sowie ethische Entwürfe und setzt sich in diesem Zusammenhang mit Immanuel Kant, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche auseinander. Pädagogen, Philosophen und Theologen sind bei der Feststellung des Bösen jedoch nicht stehen geblieben, sondern haben sich auch Gedanken darüber gemacht, wie man Menschen durch entsprechende Erziehungsprogramme und Utopien für das Gute konditionieren könnte mit geringem Erfolg. Denn schon in den klassischen Utopien neigte die ethisch-praktische Vernunft als Konstrukteurin der idealen Gesellschaft zum Terror und zur Unterdrückung der Freiheit, weil sich die Menschen nicht einfach zum Guten verpflichten lassen und weil jeder unter dem Guten etwas anderes versteht. Das Gute läßt sich, so Piepers Schlussfolgerung, nicht ohne das Böse verwirklichen.
Ob die Bosheit dem Menschen angeboren ist oder durch schlechte Umstände begünstigt wird, ist eben so wenig eindeutig entscheidbar wie die Frage, ob Anlagen zum Guten existieren, die mangels Förderung oder aufgrund schlechter Vorbilder unentwickelt bleiben. So viel indes ist sicher:der Mensch läuft ständig Gefahr, sich zu verfehlen. Gleichwohl hat er jederzeit die Möglichkeit, den Hang zum Bösen zu überwinden.
Gut und Böse bleiben auch für Annemarie Pieper letztlich ein Rätsel. Wahrscheinlich haben wir immer schon, nimmt sie an, ein intuitives Verständnis von Gut und Böse,wenn wir handeln. Sobald wir gegen moralische Spielregeln verstoßen, meldet sich im "Gewissen" ein Unrechtsbewusstsein, und wenn wir andere offenkundig ohne jedes Anzeichen von Schuld, böse oder schlecht handeln sehen, dann stellen wir uns die Frage, was wir mit Gut und Böse eigentlich meinen. Nicht selten fühlen wir uns dann gezwungen, unsere moralischen Urteile zu begründen und zu rechtfertigen.
Die Autorin macht deutlich, dass die verschiedenen Anläufe zur Erklärung der Herkunft des Bösen immer dort an einen toten Punkt geraten, wo das Prinzip der Freiheit zur Disposition steht. Entweder ist der Mensch determiniert - dann muss die Rede von Gut und Böse fallen gelassen werden, weil niemand verantwortlich für sein Tun ist- oder der Mensch ist frei - dann freilich ist es unerklärlich, warum er sich trotz Einsicht in das Gute grundsätzlich oder gelegentlich für das Böse entscheidet. Annemarie Pieper kommt nicht umhin wie viele andere auch zu bekennen, dass sich das Mysterium Mensch allen wissenschaftlichen Lösungen entzieht.
BERND J.CLARET: Geheimnis des Bösen. Zur Diskussion um den Teufel. Innsbrucker theologische Studien 49. 440 S., Verlagsanstalt Tyrolia Innsbruck 1997;
Bernhard J.Claret plagt sich gleichfalls in seiner für den Druck überarbeiteten Dissertation mit den Fragen herum: Woher kommt das Böse und wie kommt man ihm bei? Obwohl er Rat bei Theologen und Philosophen sucht, zieht er eindeutig die theologische Perspektive vor.
Mit der Annahme der Existenz des Teufels sei es möglich, nicht nur die menschliche Sünde in ihrem Entstehen als ein Nachgeben gegenüber einem Versucher oder einer Versuchung zu verstehen, sondern auch die Grausamkeiten der Natur dem Menschen gegenüber, hebt Claret hervor und weist darauf hin, dass die Aufklärung mit ihrer Wertschätzung der Vernunft den bis dahin ungebrochenen Glauben an das Wirken übermenschlicher Wesen zum Verschwinden gebracht und dem Teufels- und Dämonenglauben den Abschied gegeben hat. Heute gelten die kirchliche Lehre über Teufel und dämonische Besessenheit als Zumutung an die menschliche Vernunft. Viel mehr als"metaphysische Fledermäuse"(diesen Ausdruck schuf der Kirchenhistoriker Carl Hase) vermag der moderne Mensch in dem,was die Kirche Engel, Dämonen und Teufel nennt, durchweg nicht mehr zu erkennen. Damit habe sich auch das Verständnis des Bösen entscheidend verändert. Es wurde relativiert und entschärft. Claret zitiert E.L.Marquards Ausspruch von der "Entbösung des Bösen".
Der Autor vergegenwärtigt eindringlich den derzeitigen Erfahrungshorizont, der geprägt ist von Aufklärung, Säkularisation und "Entzauberung der Welt", aber ebenso durch neue religiöse Bewegungen und die Wiederkehr mythischen Denkens. Trotz der Re-Mythisierung seien viele Menschen, insbesondere die Anhänger von New-Age unfähig, die Position des Bösen in der Welt wahrzunehmen. "Die verdammten Fragen", die sich Dostojewski noch stellte und die aus der Begegnung mit dem Leid und dem Bösen erwachsen, belasten nicht mehr den Menschen von heute. Dieser wolle sich, so Claret, nur trösten lassen und von einer Welt träumen, die ohne Leid ist, wodurch die Geschichte der Lebenden, die auch immer eine Leidensgeschichte gewesen sei, ausgeblendet werde.
Intensiv und gründlich geht Claret auf Herbert Haags Plädoyer für einen "Abschied vom Teufel" ein und auf sein Bemühen, den Teufel aus dem christlichen Glaubensgut zu eliminieren.
Was geschieht eigentlich, wenn das Böse Ereignis wird? Was geht in einem Menschen vor, wenn er etwas wirklich Böses tut und damit der Wirklichkeit des Bösen begegnet? fragt sich Claret im Laufe seiner langwierigen Untersuchungen. Er schildert, wobei er Bezug nimmt auf Erzählungen von Schopenhauer und Dostojewski sowie auf brutale Vorfälle in unserem Jahrhundert, verwerfliche Taten, die sich durch nichts rechtfertigen lassen und die Frage nach dem Warum und Woher des Bösen evozieren. Nicht wenige würden durch solche Geschehnisse veranlasst,Gott zu leugnen oder zu verfluchen. Claret bezieht sich dabei ausführlich auf Ricoeurs Beitrag zur Diskussion des Teufels in seiner zweibändigen "Phänomenologie der Verfehlung". Laut Ricoeur gestatten die Schlange im Paradies und das Symbol des Satans, den Ursprung des Bösen in eine vormenschlich dämonische Realität zu verlegen, die immer schon vorhanden ist, bevor der einzelne Mensch Böses begeht. Bei Ricoeur bringt der Teufel zwar das Phänomen des Bösen zur Sprache, doch könne dieser Verführer dem Menschen nicht als Entschuldigung dienen. Denn es besteht, wie Claret im Fahrwasser von Ricoeur kategorisch erklärt, kein Zwang zum Sündigen. Gerade Auschwitz stelle die Theologie vor die Frage, ob nicht stets mit der Existenz eines Teufels im Sinne eines geistbegabten Geschöpfs zu rechnen sei, das Menschen ins Unheil zu ziehen versucht. Auschwitz steht immerhin für jenes Böse,das sich allein mit Theorien des individuellen Bösen nicht begreifen läßt, für ein Böses, das vom Menschen verursacht wird und das dennoch einzelnen Personen nicht zugerechnet werden könne, weil es den Kreis individuellen Handelns, individueller Verursachung und Verantwortlichkeit weit überschreitet.
Die Fehlbarkeit des Menschen ist zwar die Bedingung des Bösen, aber in der geschichtlichen Erfahrung findet jeder das Böse bereits vor. Die Welt ist gewissermaßen eine Einladung zur Verzweiflung, zum Missbrauch der Freiheit, und vor einer solchen Versuchung ist kein Mensch gefeit. Somit ist der Mensch nicht nur schuldiger Urheber, sondern ebenso ein Opfer des Bösen. Er ist nicht das absolut Böse, sondern der Böse an zweiter Stelle, der Böse durch Verführung. Der Mensch und der Teufel sind zweierlei, der Mensch ist und bleibt immer ein Mensch und wird einerlei, was er tut, niemals zum Bösen in Person. Das heißt allerdings nicht, dass der Mensch aus der Verantwortung entlassen wird, obgleich er nicht der Urheber des Bösen ist, sondern nur aufgrund der Eingebung des Teufels sündigt.
Allerdings liefert der Teufel ebenfalls keine endgültige Erklärung für den Ursprung und das Wesen des Bösen, geschweige denn für seine Überwindung. Aber solange es eine Lehre vom Teufel gibt, sei es nicht nötig, um Gottes willen das Böse wegzudisputieren oder zu relativieren, noch umgekehrt um des Bösen willen Gott zu leugnen. An beidem kann festgehalten werden, am Glauben an Gott als mächtiger Liebe und an der Wirklichkeit des Bösen. Die Schwierigkeiten, die ein Festhalten am Teufel in einer aufgeklärten Zeit mit sich bringt, lassen sich beheben, wenn man den Teufel im Sinne Ricoeurs als echtes Symbol versteht. Auf diese Weise vermeiden wir sowohl eine verharmlosende Sicht des Bösen als auch eine verharmlosende Sicht des Menschen. Gleichwohl spricht der Autor noch eine letzte Vermutung aus: vielleicht habe Gott den Menschen in eine evolutiven Schöpfung eingebettet und damit viel Elend in Kauf genommen, um uns Gewissheit zu geben, dass es"bezüglich des Heils keinen 'point of no return' geben wird" (S.388). Zu verkündigen sei daher nicht die Botschaft vom Teufel, sondern das Wort der Befreiung aus der Gefangenschaft des Bösen.
Claret holt weit aus, verrät fundierte Kenntnisse und gründliche Auseinandersetzung mit seinem Thema. Da er sich in der Fachbuchliteratur gut auskennt, sind seine Ausführungen schon aus diesem Grund anregend und lesenswert.
Müssen wir indessen wirklich an den Teufel glauben, um dem Geheimnis des Bösen auf die Spur zu kommen? Folgt man den Überlegungen des Darmstädter Philosophieprofessors Gernot Böhme, können wir der Aufklärung durchaus treu bleiben, und zwar indem wir nicht ein personalisiertes Böse annehmen und zugleich der Erfahrung Rechnung tragen, dass das Böse überindividuell ist und sich nicht selten gegenüber dem einzelnen verselbstständigt. "Diese Möglichkeit, dass das Ganze falsch sein kann, wie Adorno sagt, sei es nun das 'System',der Staat oder die gesellschaftliche und ökonomische Ordnung, ist als ethische Grunderfahrung des 20.Jahrhunderts festzuhalten"(S.72), schreibt Böhme und führt weiter aus, dass die Ethik heute - nachdem ihr Kants Vertrauen in eine moralische Weltordnung längst abhanden gekommen ist - von der Erschütterung des moralischen Vertrauens ausgehen müsse, davon dass das Ganze womöglich falsch ist, der Staat vielleicht kriminell, die Wirtschaft ausbeuterisch und die Lebensbedingungen unmenschlich.
Nach der Lektüre der vorgestellten Bücher drängt sich dem Leser die Einsicht auf: Philosophen und Theologen tragen wohl zur Erhellung des Bösen eine Fülle aufschlussreicher Gedanken bei, nicht selten mit Rückgriff auf illustre Vorgänger, aber mit einer alle zufrieden stellenden Antwort auf die Frage nach Ursprung und Wesen des Bösen sind sie, wie alle anderen Sterblichen auch, schlichtweg überfordert.
Fußnote
1):Gernot Böhme:Ethik im Kontext. Über den Umgang mit ernsten Fragen. Frankfurt 1997;
Der Literaturbericht erschien in: "Philosophischer Literaturanzeiger". Herausgegeben von Rudolf Lüthe und Stephan Nachtsheim. Band 51 (1998), Heft 2.
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