Eindrucksvolle Reisereportagen
1960 begann Naipaul zu reisen, buchstäblich an die Ränder des Empire. Die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Reisen, auf denen ihn gelegentlich seine ehemalige englische Frau begleitete - sie war seine Kommilitonin gewesen -, schlagen sich in seinen Werken nieder. Dreimal war er in Indien, woher seine Vorfahren stammen, im muslimischen Gürtel von Asien, wo er die Auseinandersetzung mit dem Islam gesucht hat, ferner in Afrika, wo ebenfalls indische Kontraktarbeiter schuften mussten und wo er die durch den Kolonialismus entstandenen Verletzungen genau beobachtet und registriert hat. Aber auch die Schwächen derer, die sich davon nicht richtig befreien konnten, entgingen ihm nicht. In vier moslemischen Staaten, die nicht arabisch sind - Iran, Pakistan, Malaisia und Indonesien - stellt er die Gefahren fest, die durch eine Staatsreligion drohen. Seine Reisebücher bieten weit mehr als historisch-politischen Nachhilfeunterricht. Sie sind konkret, hochkonzentriert, mitunter sarkastisch, dann wieder von einer sensualistischen Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen, aber niemals schwärmerisch, niemals anbiedernd, stets couragiert und unbequem. Er wirft keinen mitleidigen Blick auf postkoloniales Elend, noch bietet er folkloristisch angehauchte "Commonwealth-Literatur", sondern die unbestechliche Bestandsaufnahme eines Forschungsreisenden, der die Zustände genau beobachtet und analysiert, der weder vor Faulheit und Schmarotzertum noch vor Rassismus die Augen verschließt, einerlei ob dieser nun zwischen Weißen und Schwarzen oder zwischen Schwarzen untereinander grassiert. Naipauls Themenfelder sind Religion und Politik, dabei geht es um die Suche nach den eigenen Wurzeln, um koloniale und postkoloniale Entwurzelungen und Erfahrungen. Mit immer größerem Pessimismus beleuchtet und beurteilt er die schädlichen Wirkungen des neuen Nationalismus in der Dritten Welt und wendet sich gegen den Mythos, Armut und Stagnation seien dort allein das Ergebnis der Ausbeutung durch die "Erste Welt". Mit Spott, ja Verachtung schreibt er über Besiegte, Verlassene und Erniedrigte, stets in der melancholischen Grundstimmung eines Menschen, der die Überzeugung des Philosophen Hobbes teilt: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Für sein Credo: Die Dritte Welt ist selber schuld an ihrer Misere, wurde und wird, wie man sich denken kann, Naipaul scharf angegriffen.