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Wer war Anna Seghers?

Im Laufe der Entwicklung der alten Bundesrepublik sah ich zu guter Letzt in der Schriftstellerin Anna Seghers nur noch eine Ikone der DDR und brachte ihr Bild vor allem mit den Konterfeis von Ulbricht und Honecker in Verbindung. Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen. Immerhin hatte meine Schulfreundin aus der DDR mir in früheren Jahren zwei Erzählbände von Anna Seghers geschickt, die ich wohl gelesen, aber deren Inhalt ich längst vergessen hatte. Doch kurz vor dem hundertsten Geburtstag von Anna Seghers im November 2000 wurde mein Interesse für die Schriftstellerin wieder wach. Ich holte die beiden Bücher aus dem Bücherschrank hervor und besorgte mir einige andere aus ihrem umfangreichen Werk. Ich las sie alle mit wachsendem Interesse und entdeckte mit Erstaunen, dass Anna Seghers über alle ideologischen Schranken hinweg eine begabte und begnadete Schriftstellerin war. Schließlich meldete ich mich für eine Tagung über Anna Seghers in Mainz an. Veranstaltet wurde diese von der Anna-Seghers-Gesellschaft, der Johannes-Gutenberg-Universität und der Akademie des Bistums Mainz. Hier traf ich viele Literaturwissenschaftler aus den neuen Bundesländern, die ich zuvor schon in Fernsehsendungen gesehen hatte wie etwa Sigrid Bock, und die beiden Kinder von Anna Seghers, den Physiker Peter Radvŕnyi und die Ärztin Ruth Radvŕnyi. Mittlerweile bin ich auf dem besten Wege, mein einseitiges Bild von Anna Seghers gründlich zu revidieren.

Lebenslauf

Geboren wurde Anna Seghers am 19. November 1900 in Mainz unter dem Namen Netty Reiling. Ihr Vater Isidor Reiling war ein vermögender Kunsthändler und Kustos am Mainzer Dom, ihre Mutter Hedwig eine sozial engagierte Frau. Beide Eltern gehörten dem orthodoxen Judentum an. Netty alias Anna Seghers wuchs behütet auf. In ihrer Jugend las sie Kierkegaard, Dostojewski und Martin Buber. Das am meisten abgegriffene Buch ihrer Bibliothek war die Lutherbibel.

In Heidelberg, wo sie mit osteuropäischen Emigranten in Berührung kam, und in Köln studierte sie Kunstgeschichte, Philologie, Sinologie und Geschichte und promovierte 1924 mit einer kunsthistorischen Arbeit über "Jude und Judentum im Werke Rembrandts". Schon hier hat sie sich der "eindruckslosen und verschlossenen Umwelt der Armen und Schwachen" angenommen (Christiane Zehl-Romero). Ihren Geburtsnamen Netty Reiling vertauschte sie, als sie schriftstellerisch zu arbeiten begann, bald gegen ein Pseudonym, das aus ihrer Beschäftigung mit der Kunstgeschichte und dem Maler Hercules Seghers entsprungen sein kann - sie hat es im Dunkeln gelassen.

Ein Jahr später heiratete sie den ungarischen Philosophen und Emigranten Lŕszlo Radvŕnyi und zog mit ihm nach Berlin, wo Radvŕnyi als aktives KPD-Mitglied die Leitung der Marxistischen Arbeiterschule übernahm. 1926 wurde der Sohn Peter geboren, 1928 die Tochter Ruth. 1927 veröffentlichte Nelly Reiling in der Frankfurter Zeitung die Erzählung "Grubetsch" - sie handelt von den Schwierigkeiten kleiner Leute - unter dem Pseudonym Seghers ohne Vornamen. Nicht wenige glaubten, ein Mann habe die Texte geschrieben. Ein kalter, fast mitleidloser Blick prägte diese frühe Prosa.

Ein Jahr später erschien die Erzählung "Aufstand der Fischer von St.Barbara" über die Hungerrevolte einer bretonischen Fischergruppe, deren Aufstand gegen brutale Reeder und Händler scheitert. Die Geschichte schildert auf packende, damals der neuen Sachlichkeit zugerechneten Weise die Konfession der Anna Seghers: den Glauben an den Sinn der Revolte auch dann, wenn sie erst einmal scheitern muss. Die Dichterin erhielt dafür den Kleist-Preis. Hanns Henny Jahn sprach bei der Preisverleihung von der "großen Klarheit und Einfachheit der Satz- und Wortprägung", vom

"mitschwingenden Unterton sinnlicher Vieldeutigkeit" und "einer leuchtenden Flamme der Menschlichkeit".

1928 trat auch Anna Seghers der Kommunistischen Partei bei und 1929 dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS). Die frühe Mitgliedschaft zeigt, dass Anna sich schon zu jener Zeit weitgehend von ihrer bürgerlichen Herkunft gelöst hatte, und in Solidarität mit der Arbeiterschaft ihr Werk in deren Dienst stellte, mehr noch, sie unterwarf sich, jedenfalls nach außen, ganz der Parteidoktrin. Von nun ab arbeitete sie für die kommunistische Presse, förderte junge Talente des BPRS, war aktiv auf Tagungen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, des PEN-Clubs und später im Untersuchungausschuss über den Naziterror.

1930 besuchte sie zum ersten Mal die Sowjetunion. Doch war sie in den späten Weimarer Jahren mit ihrem Bekenntnis zum Kommunismus keineswegs eine Ausnahme. Die immer sichtbarer werdende Massenverelendung in den westlichen Industriestaaten, die mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 eine dramatische Dimension erreicht hatte, deuteten viele Intellektuelle als Versagen des kapitalistischen Systems.

In den dreißiger Jahren verarbeitet die Schriftstellerin weiter in ihren Erzählungen die Konfliktbereiche Individuum-Gruppe und Solidarität-Individualität. Erst in dem 1932 erschienenen Roman "Die Gefährten", der das Schicksal verfolgter Revolutionärer im Gefängnis beschreibt, die durch proletarische Solidarität die Schranken ihrer Herkunft überwinden, löst sich dieses Spannungsfeld. "Die Partei als historische Bewegung nimmt in ihrem Roman nun jene Stelle ein, die als verdeckte, aber bohrende Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und Befreiung ihre früheren Figuren beunruhigte." Der Stoff kam aus Seghers' Erfahrungen mit osteuropäischen Emigranten an der Universität in Heidelberg.

In "Die Gefährten"(1932) wird der ideologische Zeigefinger schon etwas deutlicher erhoben als in den "Fischern" - die Autorin hatte gerade an einem Antikriegskongress in Amsterdam teilgenommen - , aber auch hier geht es um die reinigende Kraft der Niederlage und den kategorischen Imperativ, der gebietet, auch dann standzuhalten, wenn Solidarität und Menschlichkeit bedroht sind.

Den Nazis entkommen, dem FBI suspekt

Mit dem Machtantritt der Nazis begann auch für Anna Seghers eine Zeit der Verfolgung und Flucht. Ihre Bücher landeten mit vielen anderen auf dem Scheiterhaufen. Sie selbst wurde für kurze Zeit verhaftet und floh nach ihrer Entlassung mit ihren Kindern nach Paris. Hier blieb sie, bis die deutsche Okkupation sie zwang, das Land zu verlassen. Später fanden sie und ihre Familie in Mexiko eine Bleibe. In den USA wollte man sie nicht aufnehmen. Denn der amerikanische FBI hatte umfangreiches Material über sie gesammelt und später sogar ihren Roman "Das siebte Kreuz" von US-Agenten auf geheime Botschaften für eine kommunistische Verschwörung untersuchen lassen. Selbst in Mexiko hat der FBI sie nicht aus den Augen gelassen. Auch im Exil arbeitete Anna Seghers wie eine Besessene weiter, zuerst im Café in Paris, und später in Mexiko, und nahm bald unter den Emigranten eine führende Rolle ein. Sie schrieb damals "Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok" und "Das siebte Kreuz". Dieser Roman wurde 1942 in englischer Sprache in den Vereinigten Staaten veröffentlicht und zwei Jahre darauf von Fred Zimmermann mit Spencer Tracy verfilmt. Er begründete Seghers' Weltruhm und war 1946 die erste deutsche Veröffentlichung des neu gegründeten Aufbauverlags. In der DDR wurde von dem Roman mehr als eine Million Exemplare verkauft. Er wurde und wird auch von westdeutschen Kritikern, insbesondere von Marcel Reich-Ranicki, zu den bedeutendsten Büchern unseres Jahrhunderts gezählt - nicht von ungefähr, denn kein anderer Roman der Emigration hat mit so viel Einfühlungskraft und Dichte die Atmosphäre in Nazi-Deutschland eingefangen, die die Schriftstellerin nur vom Hörensagen kannte. Später hat sie darauf hingewiesen, dass sie die Handlung des Buches auch dem Konstruktionsmuster von Alessandro Manzonis "Die Verlobten" verdankt–-ein Zeichen dafür, dass ihr Blick auf die Weltliteratur bei allem beharrlichen Bekenntnis zum Kommunismus neugierig und unvoreingenommen geblieben war.

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln. Jedes Kapitel erzählt einen Tag der Flucht der sieben Häftlinge aus dem fiktiven Konzentrationslager Westhofen unweit von Mainz und ihrer Verfolgung durch die SS. Die Fluchtgeschichte wird nicht durchgehend erzählt, sondern ständig von Geschichten unterbrochen, die sich zur selben Zeit ereignen. Der Lagerkommandant läßt sieben Kreuze aufrichten, an denen die Flüchtlinge sterben sollen. Vier werden wieder eingefangen, einer stellt sich freiwillig, einer stirbt. Das siebte Kreuz, Symbol der Hoffnung bleibt leer. Ein Häftling läuft um sein Leben und zwingt jeden, der mit ihm in Berührung kommt, zu offenbaren, was er wert ist, die Menschen müssen Stellung nehmen. Der überlebende Flüchtling Georg Heisler erfährt die Solidarität vieler Menschen, die ihr Leben und das ihrer Angehörigen aufs Spiel setzen. um seins zu retten. In der Landschaft verankert ist der Fluchtweg Heislers, die Chaussee entlang über Oppenheim nach Mainz, weiter nach Frankfurt und wieder zurück zum Rhein. Heisler entkommt zum Schluss auf einem holländischen Frachter. Das Werk wurde mit dem Georg Büchner Preis ausgezeichnet. Das Geld vom Verkauf des Buches half der Autorin im Exil über ihre Finanzkrise hinweg.

(Anmerkung: Es gab tatsächlich ein KZ Osthofen in der Rhein-Main-Gegend. Aber hier ist niemand ermordet worden. Es ist deshalb auch nicht identisch mit dem fiktiven KZ Westhofen, dem Ort in Seghers' Roman "Das siebte Kreuz", wo ein früheres KZ vom Typ Osthofen nachgezeichnet, aber nicht das historische Lager Osthofen porträtiert wird, das im Oktober 1937, der Erzählzeit des Romans, nicht mehr bestand. Greifbar allein ist, dass Anna Seghers ein KZ in der Gegend zwischen Mainz und Worms, ihrer Herkunftslandschaft, darstellt.)

Allerdings wurde das umfangreiche Werk im Westen in der breiten Öffentlichkeit bis in die sechziger Jahre hinein boykottiert und führte 1962, als der Luchterhand-Verlag den Roman herausbrachte, zu öffentlichen Kontroversen und kleinkarierten Protesten. Zu diesen kam es auch 1977 und 1981, als die Universität Mainz und vier Jahre später die Stadt Mainz Anna Seghers die Ehrenbürgerwürde verlieh.

Autorinnen unter sich

Elisabeth Langgässer indessen hatte 1947, als die Fronten zwischen Ost und West noch nicht so verhärtet waren, in einem Brief geschrieben: "Hier in Berlin wird zur Zeit die Seghers ganz groß gefeiert, und sie verdient es auch. Ihr 'Siebtes Kreuz' (natürlich müsste es 'siebentes' heißen, aber sie sagte zu mir im Mainzer Dialekt:'Och, des war mer doch ganz wurscht, ganz und gar wurscht!') ist großartig in seiner Verhaltenheit, Echtheit und Menschlichkeit. 'Awer ich bin en Bolschewik von owe bis unne' äußerte sie zu Peter Huchel. Trotzdem: Am 'Tag des freien Buches' bin ich, neben ihr sitzend, fast mit auf das Bild geraten, und sie meinte: 'Mir zwei könne doch zusammen drauf, und drunner solltense schreiwe, dass wir aus Mainz sinn, das ist wichtiger als alles.' So ist sie doch auch wieder. Hat ein wunderschönes, flächiges Barlach-Gesicht, unter schneeweißen, glatten Haaren, unerhörte schwarze Augen und einen trotzigen, gewölbten Kindermund. Ihr seht: Ich habe mich verliebt. Natürlich werden und müssen wir, sozusagen zwangsläufig, furchtbar aufeinanderplatzen, weltanschaulich. Und wahrscheinlich werden wir beide dabei ordinär werden wie 'zwei Fischweiber', wie meine Mutter zu sagen pflegte. Trotzdem hab' ich ein Faible für sie."

Auch in der 1943 in Mexiko entstandenen Novelle "Der Ausflug der toten Mädchen", eine Art Vorstudie des (schwächeren) Nachkriegsromans "Die Toten bleiben jung", kehrte Anna Seghers noch einmal nach Deutschland zurück und entfaltete an disparaten Lebensgeschichten ein bedrückendes Kaleidoskop von Schuld und Verführung. Die träumerische Erinnerung an Schulfreundinnen von einst, die teils ohne, teils mit ihrer aktiven Teilnahme in ein mörderisches Rad der Geschichte geraten sind, wird von zwei Ebenen aus beschrieben, die sich ineinander verweben: ihrer deutschen Kindheit und der Gegenwart des mexikanischen Exils. Diese intensive, die verschiedenen Zeit- und Seinsebenen traumwandlerisch sicher in der Schwebe haltenden Erzählungen von seltsam ergreifender, melancholischer Klarheit, eine der wenigen nicht auktorialen, die Seghers schrieb, unmittelbar nach ihrem rätselhaften, Gerüchte provozierenden Unfall 1943 in Mexiko, bei dem sie fast zu Tode kommt. Kaum genesen, erreicht sie die Nachricht von der Ermordung ihrer Mutter im Konzentrationslager Auschwitz. (Ihr Vater starb 1940).

Der Rang des Romans "Transit", der ebenfalls im Exil verfasst wurde, aber in deutscher Sprache erst 1948 erschien, ist unbestritten und, entgegen der meisten Werke von Anna Seghers, wie die "toten Mädchen" klar autobiographisch orientiert, doch blieb er immer ein wenig überschattet von dem erfolgreicheren Roman "Das siebte Kreuz". Es ist die Geschichte eines Mannes, der im besetzten Paris die Identität eines Schriftstellers übernimmt, der Selbstmord begangen hatte. Er begegnet dessen Frau, die mit einem Arzt geflohen war, in Marseille. Beide Männer verlieben sich in sie. Die Frau aber liebt ihren Mann, dessen Tod sie nicht wahrhaben will. Der Roman beschreibt schlimme Erfahrungen und gedrückte Stimmungen, wie sie die deutschen Emigranten im Rahmen der politisch-militärischen Vorgänge erleben mussten. In einer realistischen Erzählweise schildert Seghers von selbst erfahrenen Einzelheiten des Lebens im Exil, von der verzweifelten Jagd nach gültigen Papieren, Schiffspassagen und Fluchtwegen. Sie begnügt sich nicht mit Milieuskizzen und einer spannenden Handlung. Vielmehr bewahrt sie eine eigentümliche Distanz, wobei sie das Exil durch eine beunruhigende Vieldeutigkeit zur Chiffre für den modernen Menschen erhebt. Ihre Figuren und Bilder sind heute noch oder gerade wieder beunruhigend aktuell. Der Roman, zweifellos ein Meisterwerk moderner Prosa, wurde mitunter sogar in die Nähe von Kafka gerückt. "Ich bezweifle, ob unsere Literatur nach 1933 viele Romane aufzuweisen hat, die, mit solch somnambuler Sicherheit geschrieben, fast makellos sind", urteilte Heinrich Böll über "Transit".

Bewusste Rückkehr in den Osten

1947 kehrt sie nach Berlin zurück, in ein Land, das ihr "ganz beklemmend und ganz unwahrscheinlich frostig" vorkommt. Noch 1948 schreibt sie an Georg Lukács : "Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten., so kalt kommt mir alles vor...'Hier im Volk der kalten Herzen' - unter diesem Satz ist auch ein Briefwechsel von Anna Seghers aus dem Jahr 1947 herausgegeben worden.

Gleichwohl erklärt sie gleich nach ihrer Ankunft einer Berliner Zeitung: " Ich will durch die Bücher, die hier entstehen werden, verhindern helfen, dass die Fehler der Vergangenheit jemals wiederholt werden." Als sie einmal gefragt wurde, warum sie sich für den "DDR-Sozialismus" entschieden habe, der doch mit dem von ihr vertretenen "metaphysischen Kommunismus" so wenig gemein habe, antwortete sie: "Weil ich hier die Resonanz haben kann, die sich ein Schriftsteller wünscht...weil ich hier ausdrücken kann, wozu ich gelebt habe."

Nach ihrem Exil begab sich die Autorin zuerst nach Berlin-Zehlendorf, wo sie früher schon gelebt hatte, später nach Ost-Berlin. Hier bewohnte sie den zweiten Stock eines Mietshauses. Vermutlich ist sie auch deshalb in den östlichen Teil Deutschlands zurückgekehrt, weil sie von den westlichen Alliierten als Flüchtling nur Ablehnung erfahren hatte. Ihr Mann folgte ihr erst 1952 nach Ostberlin und brachte noch eine Nebenfrau mit.(Bekannte der Eheleute nannten ihn hinter Annas Rücken "das achte Kreuz".) Anna Seghers schaute weg und übte sich in Selbstdisziplin, wie in der Öffentlichkeit so auch in der Familie.

Nach ihrer Rückkehr beteiligte sich Anna Seghers, die ihre politische Identität stets vor ihre nationale Herkunft gestellt hatte, intensiv am literarischen und kulturellen Leben der DDR. Sie war Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR von seiner Gründung 1952 bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 1978 und vertrat die DDR auf internationalen Kongressen und Tagungen. Auch in der Weltfriedensbewegung arbeitete sie aktiv mit. Über verschiedene Kontinente und Epochen hinweg wollte sie, nach eigenem Bekunden, "Gedächtnis der Revolution" sein und sowohl "Die Kraft der Schwachen" als auch "Die Unzerstörbarkeit des Humanen" bezeugen. Sie wird eine öffentliche Person und fährt dank ihrer Privilegien 1951 nach China und bald darauf nach Brasilien. Zu Hause jedoch liest ihr Mann ihre Manuskripte und kommentiert sie schriftlich. Die Gesinnungsprüfung findet sozusagen in den eigenen Wänden statt. Hat sie eigene Impulse unterdrücken müssen, Wünsche, Erkenntnisse und Befürchtungen? Wie hat sich der selbst auferlegte Zwang auf ihre Literatur ausgewirkt? Ihre beiden DDR-Romane "Die Entscheidung"(1959) und "Das Vertrauen"(1968) wurden von der westdeutschen Kritik einhellig abgelehnt. Reich-Ranicki sah in ihnen erschütternde Dokumente "der Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs eines Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit" und fragte: " Warum sollte man einen Verleger daran hindern, den hiesigen Leuten zu zeigen, was aus Anna Seghers, die einst Meisterwerke deutscher Prosa schrieb, in der DDR geworden ist?" Auch andere westliche Kritiker sahen in diesen Büchern den Beweis dafür, dass sie sich nach ihren grandiosen schriftstellerischen Erfolgen am Ende verraten, ja ihren literarischen Offenbarungseid geleistet habe und selbst zur unbelehrbaren Vertreterin jener finsteren Gegenmächte geworden sei, die sie in ihren Erzählungen so oft zu bannen wusste. Die Literatur, so meinen viele, habe sich gerächt, an ihrem allzu naiven Versuch, sie im Namen der Politik zu missbrauchen. Am Ende sei ihre sprachliche Ausdruckskraft ganz und gar verkümmert. Tatsächlich sind in diesen beiden Romanen, aber auch in der Erzählung "Die Rückkehr", die auf der Mainzer Tagung besprochen wurde, die kräftigen Farben der Propaganda nicht zu übersehen. Wie man diese Romane auch lesen und verstehen will, die programmatischen Bestimmungen der SED umging sie in ihnen jedenfalls nicht.

Zu einem negativen Urteil kam jüngst auch Fritz Raddatz in seiner Rezension zu der aus dem Nachlass herausgegebenen Erzählung "Jans muss sterben", die der Sohn von Anna Seghers erst 2000 zwischen Papieren, die die Autorin 1940 bei der Flucht aus Paris zurücklassen musste, gefunden hat.

Es ist die Geschichte von Marie und Martin Jansen, die ihre Liebe füreinander längst begraben haben. All ihre Hoffnungen knüpfen sie an ihr Kind. Doch eines Tages fällt es einer unerklärlichen Krankheit zum Opfer. Der Kummer trennt die Eltern noch mehr; jeder verschließt eifersüchtig seine Angst und seine Qual, die sie fast zerreißen.

Diese Erzählung aus dem Jahr 1925, die nie zuvor publiziert und nun aus dem Nachlass ediert wurde, wirkt wie eine Kollwitz-Grafik von den armen Leuten. Sie wirft die Frage auf, soll man evident Unfertiges nach dem Tode des Autors der Öffentlichkeit vorlegen? Immerhin ähnelt der Text mehr einem Skizzenblock als einem Buch. "Ein schön-schauriges Buch", schreibt Raddatz. "Schön, weil es vorweist eine hoch begabte Schriftstellerin, fähig, mit kargen Sätzen Bilder und Atmosphäre zu schaffen: traurig, weil es nachweist, wie sehr die späte Anna Seghers ihr Talent verschlampt hat." Ob ihre literarische Schaffensquelle am Ende wirklich versiegt ist und ihr Denken stagnierte, müsste freilich noch genauer untersucht werden.

Als im Herbst 1956 sowjetische Panzer durch die Straßen von Budapest rollten und den Versuch der Ungarn, sich von dem gewalttätigen Sowjetsystem zu befreien, abrupt beendeten, fielen unzähligen Menschen in Europa, wie Mančs Sperber sich ausdrückte, "die Scherben von den Augen". Nur die weltberühmte Schriftstellerin Anna Seghers bekannte sich weiterhin zur Partei, zum Kommunismus und zur DDR, so wie sie es nach der langen blutigen stalinistischen Epoche am 17.Juni 1953 getan hatte, am Tag des Mauerbaus von 1961, beim"Prager Frühling" von 1968, bei der heftigen DDR-internen Debatte um die Biermann-Ausweisung. Warum sie jedesmal öffentlich schwieg, ist nur schwer, letztlich nur spekulativ zu deuten.

Jedoch begann sie in den Monaten nach dem Desaster in Ungarn mit der Niederschrift der unvollendet gebliebenen Erzählung "Der gerechte Richter", deren Fragment erst nach dem Mauerfall 1990 veröffentlicht wurde. Kenner messen diesem literarischen Fund biographische Bedeutung bei. Anna Seghers, die Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes, die Stalin- und National-Preisträgerin, die Gesprächspartnerin von Ulbricht und Honecker, erzählt hier die Geschichte eines DDR-Richters, der sich dagegen wehrt, Handlanger der Mächtigen in einem Schauprozess zu werden. Hat sie zu jener Zeit die Wahrheit erkannt und den Machtmissbrauch der DDR-Obrigkeit hier literarisch verarbeitet?

Auf jeden Fall geriet sie dann mehr und mehr in den Zwiespalt zwischen den erträumten und den real existierenden Verhältnissen. Ihr Verleger, der Verlagsleiter Walter Janka, hat ihr nach dem Mauerfall vorgehalten, zu seiner Verhaftung im Jahre 1957 geschwiegen zu haben. Es gibt indessen auch Dokumente, die für die Dichterin zu sprechen scheinen. Nach diesen soll sie sich für Janka, der unschuldig zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, eingesetzt haben. Hinter den Kulissen habe sie sich, so erzählt man sich jetzt, häufig bei Ulbricht oder Honecker für Kollegen und Freunde engagiert, um sie vor Unheil zu bewahren. Tatsächlich notierten die Spitzel der Stasi eine "empörte Haltung der Seghers zugunsten des Janka". Wie jetzt offenbar wird, hat die Staatssicherheit Anna Seghers wohl lückenlos ausspioniert. Eine 500-seitige Akte aus der Gauck-Behörde zeigt von ihr ein noch unbekanntes Bild, nämlich das Bild einer zwar überzeugten Kommunistin, die dennoch die DDR-Herrscher immer wieder misstrauisch machte. Als SED-Chef Ulbricht ihr zum 65.Geburtstag gratulierte, antwortete Seghers vor dem versammelten Politbüro: hoffentlich seien die "schönen Worte" auch "aufrichtig gemeint". Für diese Provokation wurde sie zur Aussprache bei Walter Ulbricht einbestellt. Ärger gab es ferner, als sie sich für den Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der den Nobelpreis bekommen sollte, verwandte.

In diesem Zusammenhang sei hier eine kleine amüsante Anekdote wiedergegeben. (Ich habe sie von Katja Lange-Müller aus der "Literarischen Welt" vom 18.11.2000.) Anna Seghers liebte die Sommerfrische am Meer und fuhr, wenn es ihre Zeit erlaubte, gern nach Ahrenshoop in das Schriftstellerheim. Auch Johannes R.Becher hatte dort eine prachtvolle Hütte, doch die Nackten dort, die gerne in der Sonne braten, störten ihn und ärgerten ihn gewaltig. Er organisierte sogar Kampagnen gegen den "niveaulosen Freikörperkult". Eines Tages, als er wieder einmal am Strand entlang ging, lag vor ihm eine Frau im Weg, nackt, etwas knochig, nicht mehr ganz jung, ohne Gesicht, denn das war mit einem Doppelblatt des "Neuen Deutschland" zugedeckt. "Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau", sagte Becher. Die Frau nahm die Zeitung vom Gesicht; es war Anna Seghers. Ein paar Monate später stand die Seghers auf der Bühne. Becher, in der Würde seines Amtes, wollte ihr den Nationalpreis erster Klasse an die Brust heften und streckte ihr die Hand entgegen. "Liebe Anna", sagte er, "darf ich dir.."aber da fiel ihm die Seghers ins Wort, so laut, dass die Genossen auf den Plüschsesseln in den ersten fünf Reihen es auch hörten:"Für dich, Hans, immer noch die alte Sau."

Öffentlich verteidigte sie freilich den"Aufbau des Sozialismus" und warnte vor der "Kriegstreiberei der Nato", weil sie keine Alternative zu dem sah, was 1917 als weltbeeinflussendes Experiment begonnen hatte. Sie hatte sich nun einmal für die DDR entschieden und wollte sich ihren großen Traum nicht mehr nehmen lassen. Zudem begann bald nach ihrer Rückkehr die Zeit des Kalten Krieges, des Schwarzweißdenkens in Ost und West. Für Anna Seghers, die sich der internationalen Friedensbewegung verpflichtet fühlte, war ein Verlassen der DDR ebenso undenkbar wie lautstarke Opposition gegen "ihren" Staat. Wenn sie in der Bundesrepublik zu Lesungen und Diskussionen erschien, ließ sie sich von ihren inneren Spannungen nichts anmerken. Es gab für sie eben keine andere Alternative als geduldiges Warten auf bessere Zeiten. Statt noch einmal zu fliehen, wollte sie lieber wie ihr Protagonist in "Transit" "auf einem vertrauten Boden verbluten", "Gutes und Böses mit meinen Leuten" teilen, statt sich den Fliehenden anzuschließen.

Nach dem Tode ihres Mannes im Jahr 1978, mit dem sie die Exiljahre geteilt hatte und mit dem sie trotz seiner Eskapaden bis zu seinem Tod verheiratet geblieben war, zog sie sich immer mehr zurück. Sie starb im Alter von 83 Jahren am 1.6.1983 in Ostberlin.

In ihrer letzten Schaffensphase, etwa ab 1970, hat sie, wie auf der Mainzer Tagung wiederholt betont wurde, nicht mehr über die DDR geschrieben, sondern ging in die romanischen Länder, so in" Karibische Geschichten", oder schilderte wie in der Erzählung "Reisebegegnung" eine imaginäre Begegnung von E.T.A.Hoffmann, Franz Kafka und Nikolai Gogol. Tagungsteilnehmer äußerten sogar die Vermutung,dass aus ihren späten Werken desillusionierte Töne herauszuhören seien. Was sie wirklich gefühlt und gedacht hat, ist schwer auszumachen, da sie in ihrem Werk die eigene Biographie kaum sichtbar werden ließ. Was sie alles hinter einer Maske von Disziplin und Arbeitsethos verbarg, wissen wir nicht. Liebte sie doch zeitlebens das Versteckspiel. Freunde aus den DDR-Jahren berichten, dass sie Gespräche abbrach, wenn diese allzu kritisch wurden. Sie war eine scheue, kluge, humorvolle, sich in einer Männerwelt erfolgreich durchsetzende Schriftstellerin, die sich nie vom Stalinismus distanzierte, die von Gerechtigkeit und Frieden träumte und sich bemühte, von ihrem Platz aus davon ein wenig mehr in die Welt zu tragen. Gewiss, sie hätte es leichter haben können, wenn sie es sich leichter gemacht hätte. Ob sie nicht doch manchmal Heimweh nach ihrer schönen Mainzer Heimat verspürt hat, habe ich mich auf der Mainzer Tagung hin und wieder gefragt.

Die lyrisch-romantische Dokumentation

Ihre literarische Karriere umspannt sieben Jahrzehnte. Ihre Erzähl-Schauplätze reichen von Mainz bis Mexiko, von Marseille nach Haiti. Ihr Blick schweifte stets über nationale und politische Grenzen hinweg, was ihr in den eigenen Reihen Kritik einbrachte. Ihre Helden sind einfache Menschen, die zu Spielbällen der Geschichte werden, aber ihre Würde behalten, weil sie sich auf der richtigen Seite wissen. Ihre Bücher verraten mütterliches Mitgefühl - zugegeben, ein fragwürdiges literarisches Kriterium -, durch den Reichtum der psychologischen und formalen Schattierungen jedoch, mit denen sie ihre Figuren gegen Klischees absicherte, durch ihre hintergründige Sprachmelodie erreichte sie häufig eine geradezu magische Intensität. Vor allem in ihren ersten Novellen bediente sich die Schriftstellerin, neben den Literaturströmungen der Zeit wie dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, eines eigenen, teils sachlich dokumentarischen, teils lyrisch-romantischen Erzählstils.

Nie aber hat sie sich einem vordergründigen Realismus-Diktat unterworfen und nie hat sie ihre künstlerische Autonomie preisgegeben, vielmehr hat sie die politisch verordnete gesellschaftliche Relevanz mit einer inneren Beteiligung verbunden, deren kaum lenkbare subjektive Kraft der Kontrolle durch die Partei entzogen blieb. So schaffte sie eine ästhetische Welt auf die Gefahr hin, von dogmatischer Seite der Realitätsflucht bezichtigt zu werden. Öffentlich widersprach sie schon in den dreißiger Jahren dem Realismus-Dogma von Lukács, dem ideologischen Literaturpapst im Ostblock. "Die so genannte Widerspiegelung der Wirklichkeit ist nie ein braves Spiegelbild", sagte sie einmal. Das war Ketzerei. Ihre Bewunderung für den im Osten verfemten Franz Kafka hat sie nie verleugnet. Ebenso verteidigte sie den amerikanischen Autor Dos Passos, dessen Simultan- und Querschnitttechnik auch ihre Texte charakterisiert. Auffallend sind die zahllosen episodenhaften Erzählstränge in ihren Romanen, die inneren Monologe, die Welt der Mythen und Bilder, gespeist von den großen jüdischen, christlichen und antiken Mythologien.

Zahlreiche Literaturkenner sind der Meinung, dass Anna Seghers' Marxismus religiös grundiert gewesen sei. Nur wollte sie das Reich der Erlösung nicht erst im Jenseits, sondern schon in der irdischen Welt durch geschichtliches Handeln verwirklicht wissen, getreu dem Wort von Marx: "Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche." Christa Wolf sagte in ihrer Rede zur Verleihung des Elisabeth Langgässer-Literaturpreises der Stadt Alzey am 29.5.1999: "Die enge Berührung mit den chiliastischen Lehren, über die ihr späterer Mann als Student arbeitete und die er, und wie ich überzeugt bin, auch sie, in ihre Auffassung zum Kommunismus hineinnehmen, hat ein starkes Element von Glauben in ihr Weltbild gebracht, eine chiliastische Komponente, die in den Mühlen der Parteibürokratie allmählich zermahlen wurde, während das als wissenschaftlich deklarierte Weltbild von Marxisten mehr und mehr religiöse Züge annahm und in Glaubenssätzen zementiert wurde. Dieses Dilemma gehört zum Widerspruch im Leben und Werk auch der Anna Seghers, an dem sie sich andauernd rieb. Aber noch zu ihrem sechzigsten Geburtstag stellte Konrad Farner fest, sie schreibe 'illusionslos und doch liebend, beherrscht und doch ergreifend. Keine der anderen 'dichtenden Frauen' besitze 'jene Traumnüchternheit', die ihre Kunst auszeichne."

Das theologische Gespräch mit dem Werk von Anna Seghers stehe noch aus, erklärte auf der Mainzer Tagung der Tübinger Literaturwissenschaftler und Theologe Karl-Josef Kuschel in seinem Vortrag "Das leer gebliebene Kreuz", in dem er sich mit der Funktion jüdisch-christlicher Motive im Prosa-Werk von Anna Seghers dezidiert auseinandersetzte.

Tatsächlich findet man bei Anna Seghers eine gewisse Affinität zu christlichem Gedankengut, vor allem im "siebten Kreuz". Hier zieht sie ein christliches Symbol mit ein. Erinnert sei daran, dass sich der Flüchtling im Mainzer Dom einschließen lässt. Warum die Wahl eines christlichen Gotteshauses im Roman einer kommunistischen Autorin jüdischer Herkunft? Obwohl Georg Heisler der Religion entfremdet ist, beginnt er, die Bilder im Dom zu entziffern, und entdeckt in den biblischen Szenen sein eigenes Schicksal. Wird nicht auch er verjagt wie das erste Menschenpaar? Gejagt wie der Nazarener? Ist er nicht auf dem besten Wege, gekreuzigt zu werden wie der Mann aus Nazareth? Hier erzählt die Schriftstellerin eine neue Vertreibungs- und Passionsgeschichte, nicht zum Kreuz hin, sondern vom Kreuz weg. Die Gegenwart bekommt bei ihr religiöse Tiefenschärfe, die Muster wiederholen sich. Nur hören Höllenmythos und Messiassymbolik auf, Privateigentum einer Glaubensgemeinschaft zu sein, sie verlieren das heilsgeschichtlich Exklusive und werden zum geschichtlich einlösbaren Menschheitssymbolen. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche, sagte Marx. Die Kirche ist für den kommunistischen Helden ein günstiger Unterschlupf, aber keine Lösungsperspektive. Seghers Bindung ist und war nun einmal an die kommunistische Partei. In späteren Arbeiten finden sich ebenfalls christliche Anspielungen, die solidarische Werte unterfüttern und vielleicht ideologische Verengungen einschränken sollten, so 1969 in den gesammelten Erzählungen "Die Kraft des Schwachen". Auch die 1973 zehn Jahre vor ihrem Tod gedruckten Erzählungen "Sonderbare Begegnungen" enthalten phantastische Handlungselemente, verknüpft mit religiösen Motiven und Reminiszenzen an ihre kunstgeschichtlichen Studien.

Luise Rinser sieht in Anna Seghers eine integre tragische Person, deren Glaube eigentlich eine religiöse Kraft gewesen sei. Die Kommunistin eine Gläubige, die Jüdin eine Katholikin? Gewiss, Seghers ist im katholischen Mainz aufgewachsen. Rührt von daher ihr tiefer Glaube an die Unzerstörbarkeit des Humanen?

Das theologische Gespräch mit dem Werk von Anna Seghers steht zweifellos noch aus. Doch sollte es so geführt werden, dass die Autorin nicht gegen ihre Überzeugung und gegen ihre Texte vereinnahmt und eine ehemalige Apologetin des SED-Regimes und erklärte Bolschewistin christlich harmonisierend verklärt wird.

Gleichwohl war Anna Seghers fest davon überzeugt, dass moralische Werte gelten. Die Welt, so stellt sie sich diese vor, ist eine von Gott verlassene. Negative Sinnerfahrung, die Vorstellung eines Verlustes, ein unerfüllter, aber auf Erfüllung bestehender Sinngedanke bekommen einen gewissen Inhalt in dem Augenblick, in dem sie sich der kommunistischen Partei annähert. Wenn man anfängt, alles Geschehen nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu beurteilen, so muss man für Gerechtigkeit sein. Diese Werte haben etwas zwanglos Zwingendes und waren für Seghers selbstverständlich. Alles, was sie schreibt, stellt sie unter das Ziel, was sie sich selbst vorgenommen hat. Sie geht aus von der Begebenheit, von ihren Erfahrungen - der sinnvolle Zusammenhang wird nicht immer sofort offensichtlich - von Begebenheiten, die der Reisende nicht in der Hand hat. Es geht um Menschen, die keine Macht haben.

"Wo kommen die Geschichten her?" fragte der Literaturwissenschaftler Bernhard Spies auf der Tagung mit Blick auf Seghers' Werk und gab zur Antwort: "Aus der Kultur,der Tradition und der eigenen Wirklichkeitserfahrung", zu der die subjektive Einsicht gehört habe, dass Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Demokratie wie es die Weimarer Republik gewesen war, nicht realisiert werden könne.

Anna Seghers literarisch kämpferisches Eintreten für die Befreiung des Proletariats implizierte freilich nicht in gleicher Weise den Kampf für die Emanzipation der Frau. Ihre Frauenfiguren sind meist nur Gefährtinnen der Männer. Die Schriftstellerin Luise Rinser hat einmal in einem Vortrag über Seghers zu Recht bemängelt, dass ihre Frauen nur als stille Genossinnen in Erscheinung treten, deren Aufgabe es sei, überzeugte Kommunisten zu gebären.

Und wie steht es mit Anna Seghers' Beziehung zum Judentum? Auch das ist ein weitgehend unbeackertes Feld. Zumindest ist ihr Werk unter diesem Gesichtspunkt noch nie umfassend untersucht worden, obwohl einige forschungsgeschichtliche Arbeiten durchaus in diese Richtung weisen. Mehr als ihre jüdischen Wurzeln hat Anna Seghers offensichtlich nicht preisgegeben. Weder Details über ihre jüdische Erziehung noch über den Ablösungsprozess aus dem Judentum sind bekannt. Wegen der angeblich durchgängigen Negation alles Jüdischen in ihrer Biographie und seiner reduzierten Behandlung in ihrem Werk hat man Anna Seghers mitunter Tabuisierung und Verdrängung ihres Judentums vorgeworfen bis hin zum zum jüdischen Selbsthass und offenen Antisemitismus. Tatsächlich hat sie weder die Shoa, die Gründung des Staates Israel noch den Antizionismus in der DDR ausdrücklich thematisiert. An keiner Stelle hat sie sich explizit mit der jüdischen Religion auseinandergesetzt, ansatzweise allenfalls in ihrer Dissertation, in der sie das Bild des Juden und die Rolle des Judentums im Schaffen Rembrandts erforschte sowie andeutungsweise in "Transit". Aber haben wir überhaupt das Recht, ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie sich für das Judentum nicht engagiert hat? Schon Marx hatte nicht das geringste Verständnis für das Judentum als Religion und die Abschaffung aller Religionen gefordert. Genau diese Position nahm auch Seghers ein Leben lang ein. Auch sie glaubte, das "Judenproblem" sei durch Einführung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung ein für alle mal gelöst. Wie dem auch sei, eindeutig ist Anna Seghers' Haltung zum Judentum jedenfalls nicht.

Vieles im Werk und Schaffen von Anna Seghers ist sicher noch zu entdecken und aufzuarbeiten, insbesondere ihre früheren Texte und Exilromane, die bestimmt sind von der Hoffnung auf Rettung humaner Lebensformen. Doch soviel ist sicher, der Dialog mit dem Werk von Anna Seghers lohnt sich heute mehr denn je, zudem ist er wichtig und aktuell wie nie zuvor.

(Der Bericht erschien in gekürzter Fassung im Aprilheft (4/2001) der Fachzeitschrift für Literatur und Kunst "Der Literat", Berlin.)


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