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Finkenkrug

1928 kehrte Gertrud Kolmar in den Schoß der Familie zurück und lebte von nun an ständig bei ihren Eltern, die inzwischen in den Vorort Finkenkrug, westlich von Spandau, gezogen waren, in ein von einem großen Garten umgebenen Haus. Hier züchtete der Vater Rosen, während sie sich selbst bald der Kleintierzucht widmete. Hier, in Finkenkrug in der Feuerbachstraße Nummer 9, fand Gertrud endlich ihren Wurzelgrund und verbrachte ihre produktivste und glücklichste Zeit. Der Ort mit "all dem Grünen, Blühenden, Wachsenden, Fruchttagenden" findet in ihren Gedichten seinen Ausdruck.

Da die Mutter schwer erkrankt war - sie starb am 25.März 1930 -, übernahm Gertrud Kolmar die Führung des Haushalts, belegte außerdem einen Notariatskurs und arbeitete als Sekretärin ihres Vaters.

Noch als junge Frau war sie somit endgültig in den Familienkreis zurückgekehrt. Sie schirmte sich ab und verweigerte sich geraume Zeit dem literarischen Leben. "Welt und Weite leben dafür", schreibt Beatrice Eichmann-Leutenegger, "in ihren Gedichten, wie etwa in:

"Die Fahrende

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände /

Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich, /

Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände, /

Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende, /

Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen, /

Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch, /

Hängt es auf einen Stecken, trüg's an meinem Nacken, /

Drin die Erdkugel mit geröteten Backen, /

Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen, /

Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus; /

Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen, /

Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen /

Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg' ich durch tiefe Seen, /

In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein. /

Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen, /

Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,

Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein."

(Das Lyrische Werk S.11)

Die Dichterin zeichnet hier ein äußerst intensives Bild einer Frau, die in heiter-schmerzlichem Ton ihr Ausgeschlossensein, ihr Verlangen, "einen Zipfel dieser Welt" zu packen, ausspricht und das Wissen, ihr Teil sei, "zögernd heimzugehen, / Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein"

Nelly Sachs hat später diese Metapher vom Sand in den Schuhen wieder aufgegriffen.


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