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"Susanna"

Die einzige erhaltene Erzählung und offenbar das letzte erhaltene Werk von Gertrud Kolmar ist "Susanna", das sie zwischen dem 20.Dezember 1939 und dem 13.Februar 1940 zu Papier gebracht hat. Sie hat diese Geschichte unter widrigen Lebensumständen, denen zu jener Zeit alle Juden in Deutschland ausgesetzt waren, abgetrotzt und schreibt während der Arbeit an "Susanna" an ihre Schwester Hilde am 15.Januar 1940: "Jede dichterische Erschaffung ist für mich wie eine Geburt (die Wehen sind manchmal scheußlich). Zur Zeit findet dieses Ereignis - in Etappen - immer nachts statt." Das kleine Prosawerk erschien zuerst 1959 in der Anthologie "Das leere Haus". Eine später entstandene "kleine" Erzählung, von der sie in ihren Briefen vom 5.März und 13.April 1942 berichtet, "etwa 26 Heftseiten, allerdings eng beschrieben, in 3 Monaten", scheint verloren gegangen zu sein. Wenn auch die Prosa in Kolmars Werk eine weniger bedeutende Rolle spielt, so ist gerade "Susanna" künstlerischer Ausdruck ihrer lyrischen Gefühlswelt, aber auch der Ambivalenz ihres Wesens.

Hier der Inhalt: Eine Erzieherin nimmt eine Stelle in einem ostdeutschen Städtchen an, um ein gemütskrankes Mädchen zu betreuen. Die Handlungen entwickelt sich vorwiegend durch Dialoge zwischen beiden. Beide leben in verschiedenen Welten, nehmen die Wirklichkeit unterschiedlich wahr und bedienen sich unterschiedlicher Sprechweisen. Die Sprache der einen ist fantastisch und ausgreifend, die der anderen vernünftig und prosaisch. Denn Susanna entpuppt sich als ein fantasievolles Geschöpf im Gegensatz zur Ich-Erzählerin, die von sich sagt: "Ich bin keine Künstlerin. Nur eine alte Erzieherin mit grauendem Scheitel, zermürbter Stirn und Tränensäcken unter den müden Augen"(S.7). An Susanna dagegen ist alles "Anmut und Süße"(S.11). Sie lebt in einer Traumwelt, behauptet, "früher konnten Menschen und Tiere heiraten", dann wieder meint sie: "Ich bin doch ein Tier"(S.19) oder: "Ich bin eine Tochter vom König David oder vom König Saul." Susanna erfindet neue Worte und Zusammenhänge. Ihre Mythen und Märchen verzaubern, und sei es nur für einen Augenblick die gänzlich entzauberte Welt der Erzieherin. Sie wirkt, laut ihrer Betreuerin, wie "ein erwachsenes freundliches Kind" (S. 23).

Als sich angeblich die Vernunft schließlich Bahn bricht, und der junge Rubin, zu dem Susanna eine Art Liebesverhältnis entwickelt hat, auf Drängen seiner Mutter abreist, kommt es zur Katastrophe. Susanna folgt dem Geliebten auf den Gleisen seines Morgenzuges und findet den Tod. Die Erzählerin verlässt den Ort und erinnert sich erst wieder an diese Begegnung, als sie einige Jahre später die Todesanzeige von Rubins Mutter in der Zeitung liest.

"..eine klar gegliederte Erzählung, "deren Themen und Motive von Gertrud Kolmars lyrischem Hauptwerk gespeist sind" urteilt Thomas Sparr im Nachwort der Erzählung.

Nachzutragen bleibt, dass beide, Susanna und die Erzieherin, Jüdinnen sind. Die Icherzählerin bekennt in diesem Zusammenhang: "Ich kannte das Judentum nicht, meinen Glauben, und hielt das für eine ländliche Redensart" (S.15) und: "Ich trug einen Makel. Recht klein war der Makel und störte mich wenig, doch ich deckte ihn zu, wie es ging." (S.21) Das Judentum erscheint in dieser Erzählung auf der Schwundstufe der Assimilation. Wer genau hinhört und hinschaut, entdeckt manche Anspielungen auf die damalige Situation der Autorin im Nazi-Deutschland. Marion Brandt sieht im Tod Susannas, aber auch in dem der "jüdischen Mutter", ein "Sinnbild für die gescheiterte Assimilation deutscher Juden und zugleich für den Untergang des Ostjudentums".

Vorherrschend in dieser Erzählung ist jedoch der Gegensatz zwischen der Traum- und der Märchenwelt Susannas und den realitätsbezogenen Vorstellungen der Erzieherin, ein Gegensatz, der auch Kolmars lyrisches Werk prägt.

Gertrud Kolmar soll gerade im Umgang mit behinderten Kindern eine ausgezeichnete Erzieherin gewesen sein, insofern dürfte die Erzieherin in "Susanna" in gewisser Weise auch ein Spiegelbild der Dichterin sein. Auf der anderen Seite hat sie aber auch Anteil an der Figur Susannas, an deren poetischer Lebenssuche, die zuallererst Sprachsuche ist. Es gibt in dieser Erzähkung "einen semantischen Widerstreit", stellt Thomas Sparr fest, "von der nüchternen Diktion der Erzieherin, in deren Präteritum die Entsagung und Enttäuschung eines ganzen Lebens beschlossen liegt, zu den vorwärts drängenden Fragen Susannas, die Worte und Wendungen nach ihrer Bedeutung befragt, Märchen erzählt, Mensch und Tier zusammen sieht. .. Was aber in dieser Erzählung in zwei Figuren zerlegt erscheint, waren zwei Gegenkräfte in Gertrud Kolmars Leben." Allerdings vermeidet es Gertrud Kolmar, das Innenleben ihrer Figuren zu öffnen. Die Gemütskrankheit Susannas bleibt unerklärt. Susanna ist wie alle Frauengestalten Kolmas einsam. Gertrud Kolmar hat ihre Zeit streng und nüchtern wahrgenommen, wie eine Chronistin. Aber sie war auch eine Kartographin der Seele, die die Grenze von Wirklichkeit und Dichtung streng zog, um 'einem gezauberten, unüberschreitbaren Kreise", wie es in Susanna heißt, sein Recht und das heißt, sein Rätsel zu lassen. Ihr Leben teilten Risse, und diese kennzeichnen auch ihr Werk.

"Die Erzählung ist ein Kunstwerk besonderer Art und bezeugt den Gegensatz von Vernunft und Irrationalität, von preußischer Erziehung und jüdischem Schicksal in der Seele der Dichterin. Seherisch nimmt Gertrud Kolmar ihr eigenes Ende vorweg" heißt es in einer im "Tagesspiegel" erschienenen Rezension.


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