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Wer war...

Gertrud Kolmar?

Einleitung

Im Frühjahr 1943 starb Gertrud Kolmar in den Gaskammern von Auschwitz. Viele Zeitgenossen kennen mittlerweile ihren Namen, aber kaum ihre Dichtung und wissen oft nicht, dass diese bedeutende Lyrikerin von Literaturwissenschaftlern mit Annette von Droste-Hülshoff, Charles Baudelaire und Else Lasker-Schüler auf eine Stufe gestellt wird. Ihre Weggefährtin Nelly Sachs nannte sie "eine der größten Lyrikerinnen". Auch Walter Benjamin, ihr fast gleichaltriger Vetter, schätzte ihre Dichtung über alle Maßen. Peter Hamm wiederum sieht in ihr "eine geistige Schwester Kafkas" und fühlt sich, wie auch andere aus der jüngeren, nach dem Krieg geborenen Schriftstellergeneration, von ihrer Natur- und Liebeslyrik angesprochen. Um so verwunderlicher ist, dass Gertrud Kolmars Gedichte bisher nie jene Aufmerksamkeit gefunden haben wie die Lyrik anderer deutsch-jüdischer Autorinnen, zum Beispiel die Verse von Rose Ausländer oder die Werke von Hilde Domin.

Nur wenige Bilder sind von Gertrud Kolmar erhalten. Auf Kinderbildnissen wirkt sie ernst und verschlossen. Man sieht sie nie lächeln. Sie sei "ein einsames, ein verlorenes Kind" gewesen, soll sie einmal gesagt haben. Fotos aus ihrer Schaffenszeit zeigen eine eher unauffällige Frau, die auf modische Frisuren und Garderoben offensichtlich nicht allzu viel Wert legte, aber sie habe, meint Wolfdietrich Schnurre, "das Gesicht eines alttestamentarischen Engels" gehabt, "Augen voller Glut", als ob sie eine Vision ergründete.

Sie sei eine rebellische Melancholikerin gewesen, behaupten Kenner ihres Werkes, eine Dichterin naturergebener Leidenschaften, eine Frau zwischen bürgerlichen Fesseln und entfesselter Hingabe, in der sie sich in ihrem ganzen Reichtum erlebt habe.

Kindheit und Jugend

Das Licht der Welt erblickte die jüdische Dichterin am 10. Dezember 1894 in Berlin als Gertrud Käthe Chodziesner. Ihr Pseudonym - es war der Herkunftsort ihrer Vorfahren - legte sie sich erst 1917 zu, als sie mit ihrem ersten Band unter dem Titel "Gedichte" an die Öffentlichkeit trat. Zusammen mit drei jüngeren Geschwistern wuchs Gertrud Kolmar in einer großbürgerlichen Welt behütet heran. Dennoch hatte sie, trotz der liebevollen Aufmerksamkeit, die ihr als erstgeborener Tochter entgegengebracht wurde, keine glückliche Kindheit. Es stand, wie sie selbst sagt, "kein wolkenlos blauer Himmel über meiner Kindheit und Jugend." Ihre Beziehung zur Mutter war aus mancherlei Gründen beeinträchtigt, in erster Linie dadurch, dass die Mutter wenig Verständnis für die älteste Tochter zeigte und ihr nicht gerecht wurde.

Zu ihrem Vater Ludwig Chodziesner, einem erfolgreichen, der Monarchie treu ergebenen Strafverteidiger und späteren Justizrat, der voll und ganz die Schicht des liberalen, klassisch gebildeten preußisch-jüdischen Bürgertums repräsentierte, hatte sie ein innigeres Verhältnis als zur Mutter. Sie fantasierte sich in die "Vaterwelt" hinein. Der Vater wiederum wurde von seinem Beruf stark absorbiert. So wirkte sich die verquere Tochter-Eltern-Beziehung auf die Biografie der späteren Dichterin äußerst nachteilig aus. Es kam zu Störungen in der Beziehung des heranwachsenden Mädchens zu sich selbst und zur Entwicklung eines unsicheren schwankenden Selbstwertgefühls. Kein Wunder, dass für Gertrud Kolmar im frühen Stadium ihres literarischen Schaffens Motivgeber und Ziel ihres Dichtens die Suche nach dem eigenen Ich war und die Konstituierung des Selbst. Dabei träumte sie von vollkommener Unterwerfung. Allerdings sollte sich die Wirklichkeit später als schlimmer erweisen als alle Fantasien, denn die erste Liebesbeziehung Gertrud Kolmars, von der noch die Rede sein wird, endete in mehrfacher Hinsicht tragisch.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war Gertrud Kolmar schon ein junges Mädchen von bald zwanzig Jahren und erlebte mit, wie groß die nationale Begeisterung der Deutschen im August 1914 war. Besonders die deutschen Juden wollten als Patrioten ihre Verbundenheit mit Deutschland ausdrücken. In der Schule musste ihre jüngste Schwester Hilde ein Gedicht auswendig lernen, in dem eine Strophe lautete: "Eines steht groß in den Himmel gebrannt,/Alles darf untergehn,/Deutschland, unser Kinder- und Vaterland,/Deutschland muss bestehn."

Warum darf, fragte sich Hilde und mit ihr sicher auch Gertrud schon damals, alles andere, was nicht deutsch ist, untergehen? "Gibt es nicht woanders auch Eltern, die ihre Kinder lieben?..da war etwas, womit ich nicht fertig wurde, etwas, was ich als unberechtigt empfand, der erste recht ernsthafte Konflikt zwischen meiner großen Liebe zum Vaterland und meinem schon stark ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl.." (Hilde Wenzel: "Mein Leben in Deutschland". Unveröffentlichtes Typoskript)

Ausbildung und erste Liebe

Nach der Schulzeit, zwischen 1911 und 1928, verließ Gertrud Kolmar Berlin von Zeit zu Zeit für kürzere Ausbildungs- und Studienreisen, lernte mehrere Sprachen, machte das Examen als Sprachlehrerin in Französisch und Russisch und arbeitete als Erzieherin in Leipzig, Hamburg und Dijon. Während des Ersten Weltkriegs war sie Dolmetscherin im Gefangenenlager Döberitz und erlebte, um 1915 oder 1916 herum, eine unglückliche Liebe zu dem Offizier Karl Jodel. Hilde Wenzel schreibt über diese Zeit: "Zu Anfang des Ersten Weltkrieges begegnete Gertrud dem Menschen, dem sie aus der ganzen Unbedingtheit ihres heißen Herzens alles gab, um dann, jung und unerfahren, wie sie war, bitter enttäuscht zu werden." Das Kind, das Gertrud Kolmar aus dieser Beziehung erwartete, musste sie auf Drängen der Eltern abtreiben lassen. Sie wollte nicht, so Hilde Wenzel, "das Ansehen ihrer Eltern und damit womöglich die erfolgreiche Karriere ihres Vaters aufs Spiel setzen." Allem Anschein nach hatte Gertrud Kolmar ein ausgeprägtes Pflichtgefühl und Traditionsbewusstsein. Aber bis in ihre letzten Lebensjahre hinein litt sie an der ungestillten Liebe und an der ihr aufgezwungenen Abtreibung. Sogar einen Selbstmordversuch soll sie unternommen haben, wahrscheinlich Ende 1916. In ihrer Dichtung hat sie das Thema der Verlassenen und die Tragik der unerfüllten Mutterschaft, die Sehnsucht nach dem Kind, immer wieder neu gestaltet. Gerade die Liebe zum ungeborenen Kind ist eines ihrer großen Themen. Noch die Tagebuchseiten von 1936 lassen erkennen, wie stark im Fühlen und Denken Gertrud Kolmars die Erinnerung an ihre frühe Liebesbegegnung mit dem Offizier Karl Jodel geblieben ist. Ihm, dem Vater ihres nicht geborenen Kindes widmete sie später die Gedichte "Wal", "Fischkönig", "Die Verlassene", "Liebe" und einige andere Gedichte.

"Wahn /

Die Nacht steht draußen und die Wiege leer. /

Und die sie schaukelt, eine bleiche Frau. /

Trägt Strähnenhaare, schwarz und zäh wie Teer. /

Vor ihrem Herzen ballt sich Grau zu Grau:

Der Tisch, das Bett, der Schrank und was da ist. /

Der Tag, der Wald, die Liebe, was da war, /

Das raschelt leicht und trocken wie Genist /

Entflognen Spötters vom vergangnen Jahr.

Der Wiegebogen taumelt her und hin; /

Sie klammert ihn mit nacktem Fuß und haucht /

Ein Schlummerlied, das müde, ohne Sinn /

Und ohne Hall in Schattenwasser taucht.

Sie hegt ein Kindlein, das vielleicht schon starb, /

Und nickt dem Kindlein, das sie nie gebar; /

So lieblich war es, weiß und nelkenfarb, /

Mit Silbergrannen dicht im Roggenhaar.

Es hat mit so viel Freundlichkeit und Licht /

Ihr einsam armes Leben ganz verwirrt; /

Sie schaut es immer an und sieht es nicht /

Und zittert, wenn der barsche Frost erklirrt:

Am Fenster rüttelt, wenn der Wächter bellt, /

Den gelben Mond ein fernes Käuzchen höhnt, /

Beschwichtigt murmelnd ihre kleine Welt /

Und rührt die Klapper an, die beinern tönt...

Die Nacht steht drinnen und die Wiege leer, /

Und die sie hütet, eine irre Frau, /

Löst Seidenhaare, wallend wie das Meer /

Und duftend dunkel hyazinthenblau."

(Das Lyrische Werk S.259)

"Opfergang

Ich wusste, dass auch ich geboren bin. /

Es ist ein Buch, da steht mein Name drin.

Ich war mir selbst zu eigen zwanzig Jahr, /

Trug schwer an mir; da fand ich den Altar

Und hab' auf seinen Stufen scheu mein Ich /

Um eine Güte Gottes geschenkt: für dich.

Und legte meines Ichseins Glück dazu /

Und wurde reich, da nichts mir blieb. Nur du. /

(Aus dem Zyklus "In memoriam 1918"(s.4/11)

Im Opfer und in der Selbstaufgabe erlebt die Leidgeprüfte die höchste Bindung an die als machtvoll empfundene Figur des Geliebten.

"Er war viel ärmer, denn er suchte Liebe, /

Ich war viel reicher, denn ich hatte Glück, /

Drum ward, was ich ihm schenkte, alles Liebe, /

Und alles, was er raubte, ward mir Glück.

Und was mir Freude gab, das war sein Eigen, /

Und wo er weilt, da soll mir Heimat sein, /

Und wenn er redet, müssen Menschen schweigen. /

Und wenn er schweigt - dann redet Gott allein."

(Das Lyrische Werk S.354)

"Soldatenmädchen

Denn so ist dein und mein Geschick: /

Dir schuf der Schmied die Waffen; /

Den ros'gen Mund, den dunklen Blick, /

Die hat mir Gott geschaffen. /

Der Schuster hat die Schuh' gemacht, /

Die deinen Weg betraten, /

Vom Schneider hab ich meine Tracht, /

Mein Kindlein vom Soldaten."

"Was war ich? Kleines Weiberwesen, Unrast und Beschwerde, /

Das Zündholz, das sich einer strich.- /

Die Mutter bin ich; wenn ich kreise, tanzt auch Gottes Erde /

Mit mir, in mir, um mich."

Demut und Bereitschaft zum Opfer, zum Opfer des eigenen Ichs werden in ihrem Werk immer wieder beschworen.

Bis 1926 arbeitete Gertrud Kolmar als Erzieherin und Sprachlehrerin in mehreren Berliner Privathäusern, aushilfsweise auch bei taubstummen Kindern, von Dezember 1926 bis Mitte 1927 in einer als unangenehm empfundenen Stellung in Hamburg-Harvestehude.

Finkenkrug

1928 kehrte Gertrud Kolmar in den Schoß der Familie zurück und lebte von nun an ständig bei ihren Eltern, die inzwischen in den Vorort Finkenkrug, westlich von Spandau, gezogen waren, in ein von einem großen Garten umgebenen Haus. Hier züchtete der Vater Rosen, während sie sich selbst bald der Kleintierzucht widmete. Hier, in Finkenkrug in der Feuerbachstraße Nummer 9, fand Gertrud endlich ihren Wurzelgrund und verbrachte ihre produktivste und glücklichste Zeit. Der Ort mit "all dem Grünen, Blühenden, Wachsenden, Fruchttagenden" findet in ihren Gedichten seinen Ausdruck.

Da die Mutter schwer erkrankt war - sie starb am 25.März 1930 -, übernahm Gertrud Kolmar die Führung des Haushalts, belegte außerdem einen Notariatskurs und arbeitete als Sekretärin ihres Vaters.

Noch als junge Frau war sie somit endgültig in den Familienkreis zurückgekehrt. Sie schirmte sich ab und verweigerte sich geraume Zeit dem literarischen Leben. "Welt und Weite leben dafür", schreibt Beatrice Eichmann-Leutenegger, "in ihren Gedichten, wie etwa in:

"Die Fahrende

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände /

Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich, /

Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände, /

Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende, /

Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen, /

Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch, /

Hängt es auf einen Stecken, trüg's an meinem Nacken, /

Drin die Erdkugel mit geröteten Backen, /

Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen, /

Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus; /

Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen, /

Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen /

Schöpft mein Reisebericht, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg' ich durch tiefe Seen, /

In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein. /

Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen, /

Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,

Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein."

(Das Lyrische Werk S.11)

Die Dichterin zeichnet hier ein äußerst intensives Bild einer Frau, die in heiter-schmerzlichem Ton ihr Ausgeschlossensein, ihr Verlangen, "einen Zipfel dieser Welt" zu packen, ausspricht und das Wissen, ihr Teil sei, "zögernd heimzugehen, / Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein"

Nelly Sachs hat später diese Metapher vom Sand in den Schuhen wieder aufgegriffen.

Umzug in ein Judenhaus und Deportation

1939 mussten Gertrud Kolmar und ihr Vater auf Anordnung der Nationalsozialisten aus ihrer Villa im Vorort Finkenkrug in ein sogenanntes Judenhaus in Berlin-Schöneberg umziehen. In die neue Umgebung hat sie sich nie richtig eingewöhnen können. Finkenkrug war und blieb für sie "das verlorene Paradies.

"..ich bekam Heimweh nach Finkenkrug - die Menschen dort, liebte ich nicht, im Gegenteil, aber die Wiesen, den Wald..,Und die Tiere - Flora! Wenn ich sie nur einmal wieder bürsten und kämmen könnte.."

"Nun werden wir bald ein halbes Jahr hier sein, und ich bringe es einfach nicht fertig, zu dieser Gegend in ein Verhältnis - ein erträgliches oder unerträgliches - zu kommen; ich bin hier so fremd wie am ersten Tag", schreibt Gertrud Kolmar am 13.Mai 1939 an ihre jüngste Schwester Hilde und in einem anderen Brief: "Ach, ich möchte zuweilen meinen Mantel anziehn, meinen Hut aufsetzen und fortwandern, weit, weit, fort. Und ich denke jetzt öfters daran, dass ich, wenn erst einmal Schnee fällt, nach Finkenkrug fahren und dort bei Mondschein, wie ich es früher tat, im Walde herumstapfen könnte..."

"Vielleicht ist es auch gar nicht F., was mir fehlt, sondern eben das Bleibende, Tier und Pflanze, das Immerwiederkehrende, im Vergehen und Werden Beständige" heißt es in einem Brief vom 1.Oktober 1939.

Noch im Mai 1942 klagt sie gegenüber Hilde: "...ich selbst habe um diese Zeit immer ein bisschen 'Heimweh' nach Finkenkrug."

Im Sommer 1941 wurde Gertrud Kolmar von der deutschen Rüstungsindustrie zwangsverpflichtet. Im September 1942 deportierten die Nazis den 80jährigen Vater nach Theresienstadt und brachten ihn dort am 13.Februar 1943 um. Von seinem Tod erfuhr die Tochter nicht mehr. Denn Ende Februar 1943 wurde auch sie von ihrem Arbeitsplatz weg verhaftet und vermutlich wenige Tage später in Auschwitz ermordet. Ihre letzte Lebensnachricht stammt vom 21.2.1943 - Kein Kaddisch sei für sie und all die Millionen Ermordeter gebetet worden, schreibt Beatrice Eichmann-Leutenegger. Nicht die geringste Spur sei zurückgeblieben. "Ihrer Asche bleibt nichts, 'als Sand in den Schuhen Kommender zu sein'."

Camilla Neumann, die den letzten Deportationsmaßnahmen durch einen winzigen Zufall entgeht, bei der ihr Mann Ludwig und Gertrud Kolmar in den Tod fahren, berichtet der Nachwelt von der Deportation: "Die letzte Aktion, 'Fabrikaktion' genannt, war am 27.Februar 1943. Alle wurden abgeholt. Hunderte von Lastautos mit SS sind vor sämtlichen Fabriken, wo Juden arbeiteten, vorgefahren und haben die Menschen, so wie sie standen und saßen, von der Arbeit verschleppt. Sie sind in zwei Lager geteilt worden. Männer und Frauen extra, und noch am selben Abend fing der Abtransport nach Auschwitz an. In offenen Viehwagen ohne Decken und Mäntel. Viele sind unterwegs erfroren. Die meisten Transporte sollen sofort in die Gaskammern gekommen sein."

Gertrud Kolmars Schwester, Hilde Wenzel, die sich wie ihr geschiedener Mann Peter Wenzel, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches engagiert um Andenken und Oeuvre ihrer Schwester bemühte, schreibt im Nachwort zur Werk-Ausgabe im Kösel-Verlag von 1960 im letzten Satz:

"Dann kamen keine Briefe mehr. Gertrud Kolmar wurde verschleppt, und nie wieder hat jemand von ihr gehört. Niemand weiß ihre Todesstunde, kennt ihren Todestag. Kein Gedenkstein kündet von ihr. Doch sie wird weiterleben in ihrem Werk."

Die Todeserklärung, die nach dem Krieg für Gertrud Kolmar ausgestellt wurde, lautet: "Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft in Berlin-Schöneberg, Speyerer Straße 10 ist durch Entscheidung des Amtsgerichts Schöneberg vom 2.Mai 1951 für tot erklärt worden...Als Zeitpunkt des Todes ist der 2.März 1943 festgestellt."

Dichten "aus einem Gefühl der Ohnmacht"

Die Jüdin und Preußin Gertrud Kolmar ist einen geschichtlich wechselvollen Weg gegangen. Noch in die bürgerliche Welt Theodor Fontanes, der vier Jahre nach ihrer Geburt starb, hineingeboren, erlebte sie während ihrer Kindheit Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht, dann Kriegstaumel, Weimarer Republik und schließlich die Nazibarbarei, der sie mit vielen anderen zum Opfer fiel.

Zwischen preußischer Disziplin und dunkel sinnlichen Visionen hat die Dichterin gelebt, in einer merkwürdigen Spannung zwischen Konservativismus und Modernität, zwischen Unordnung und Aufruhr. Diese Gegensätze prägen auch ihr Werk, dem innerhalb der modernen deutschen Lyrik ein einzigartiger Rang zukommt. In ihren Gedichten hat sie unablässig das Fremdsein in dieser Welt beschworen und ihren Gefühlen beredt Ausdruck verliehen. Ähnlich wie bei Nelly Sachs habe auch bei Gertrud Kolmar, meint die Schweizer Literaturkritikerin Beatrice Eichmann-Leutenegger, ein erster scharfer Schmerz die Dichterin in ihr geweckt. Noch kurz vor ihrem Tod gestand Gertrud Kolmar: "...ich schaffe ja nie aus einem Hoch- und Kraftgefühl heraus, sondern immer aus einem Gefühl der Ohnmacht." Aber indem sie ihre leidvollen Erfahrungen dichtend zur Sprache brachte, gelang es ihr auch, sie zu bewältigen. Vieles hat Gertrud Kolmar in ihrer Dichtung ausgelebt, vor allem aber gab ihr das Schreiben die Möglichkeit, der Einsamkeit und der Isolierung standzuhalten. So fand sie im Dichten Rettung ihres Selbst.

"Ich weiß es

Plage steht am Wege, den ich schreiten will. /

Not steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Klage liegt am Wege, den ich schreiten will.

Und Zungen hat jeder Meilenstein, /

Und alle die kleinen Kiesel schrein, /

Schrein Weh- wo ein Mädchen röchelnd sank, /

Flüchtig, verlassen, müd und krank, /

Not steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Und ich schreit ihn doch!

Törichte Mädchen in Schmach und Pein: /

Tausend gingen vor mir. /

Tausend kommen nach mir. /

Ich werde die Tausendhundertste sein. /

Meine Lippen auf fremdem Mund; /

Und sterben ein Weib wie ein räudiger Hund- /

Schreckt's dich nicht? Nein. /

Meines Herzens Schlag an fremder Brust; /

Lache, mein Auge, eh du weinen musst! /

Und du weinst ja nicht allein!

Not steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Tod steht an dem Wege, den ich schreiten will, /

Kummer und Klage, graue Plage; /

Ich weiß es - und schreit ihn doch!"

(aus:"Gedichte 1917" enthalten in "Frühe Gedichte" 1917-22)

Victor Otto Stomps, seit 1949 Verleger der in Heidelberg gegründeten Eremiten-Presse, meldete sich nach dem Erscheinen von Gertrud Kolmars "Lyrischem Werk" zu Wort:

"Das mitreißend fließende Element dieser Dichterin ...ist ganz original,,, im erregenden Sog von Herbheit und Weichheit eine in ihrer Art einmalige Persönlichkeit deutend. Ihr Werk ist in sich geschlossen, auch in seinen Ausdrucksbereichen und ist so klar in der Formulierung, dass trotz aller Sinnbilder das Wort 'Metapher' heutiger Prägung nicht anwendbar scheint:

"Die Einsame

Ich ziehe meine Einsamkeit um mich, /

Sie ist so wie ein wärmendstes Gewand /

An mir geworden ohne Kniff noch Stich, /

Wenn auch der Ärmel fällt tief über meine Hand.

Ein Ungekannter hat ihr Maß gezirkt, /

Die fremdes Antlitz fühlt als trübes Wehn; /

Die großen Schwarzhalsschwäne sind gewirkt /

In ihre Falten; aber ich nur kann sie sehn.

Es tun sich meine innren Blicke auf /

- Ein Pfauenauge, das die Flügel schließt - /

Und schaun der Welle jadefarbnen Lauf, /

Die alte Säume licht und strömend übergießt.

Sie feuchten so wie einer Elbe Haar. /

Sie tragen noch den Fluss. Sie schleppen tief. /

Und graues Berggestade fängt das Jahr, /

Das wie ein Vogel ängstlich seine Tage rief.

Und nun ist Schweigen, Und das Kleid schwillt nun. /

Und ich muss wachsen, dass es mir noch ziemt, /

Drin Fische, wie sie niemals wirklich tun, /

Um meine Brüste schweben, pupurblau gekiemt.

Der Erde Körner sind hineingesät. /

Aus meiner Schulter bricht ein Felsengold, /

Das Tuch durchschimmernd, das sich schleift und bläht /

Und langsam über meiner Stirn zusammenrollt."

(Das Lyrische Werk S.123)

Diese Neigung zum 'Einsiedlertum' ist ihr zeitlebens geblieben. Stomps schreibt weiter: "Was dem heutigen Menschen spürbarer als den Menschen zu ihrer Zeit geworden ist: Einsamkeit ist das Motiv ihrer Dichtung. Doch sie scheint nicht verzagend, sondern fast unsentimental hingenommen. Einsamkeit aus Unberechenbarkeit der Welt und der Menschen, Einsamkeit gegenüber den daraus entstehenden Grausamkeiten ist auch das Problem der Gedichte, die der jüdischen Geschichte gelten. Machtlosigkeit der Unterdrückten, der Wehrlosen zeichnet Gertrud Kolmar in vielen Vergleichen mit der kreatürlichen Welt. Auch in ihnen prangert sie gemeine Herzlosigkeit an. So sind ihre Gedichte revolutionär im wägenden Bereich ihrer Menschlichkeit."

Wie die französische Jüdin Simone Weil will Gertrud Kolmar Strapazen ertragen und unterzieht sich einem moralischen Rigorismus, hegt Abscheu vor dem Wohlstand des gehobenen Bürgertums und lehnt sich gegen ihre Gesellschaftsschicht auf.

"Schon als Kind wäre ich gern eine Spartanerin gewesen, später wollte ich jedenfalls eine Heldin sein. Ich drängte Mutti, die spartanische schwarze Suppe zu kochen und aß unsere Linsensuppe schon deshalb so gern, weil Vati gemeint hatte, das sei sie. Und eines Tages hielt ich in der Küche die Hand ins offene Herdloch, um Mucius Scävola nachzuahmen." schreibt Gertrud Kolmar in einem Brief vom 9.Juli 1942 an ihre jüngste Schwester Hilde. Schon als Kind galt Gertrud Kolmar als Außenseiterin. "Verrückte Trude" nannte man sie.

Nicht nur im stillen Kämmerchen

Am turbulenten literarischen Leben der zwanziger Jahren hatte die Dichterin keinen Anteil. In den Erinnerungen und Autobiografien der Zeitgenossen kommt sie nicht vor. Unvorstellbar, dass sie je im Romanischen Café gesessen haben könnte. Anekdoten, kleine Skandal-, Streit und Liebesgeschichten wie sie Else Laser-Schülers Bild so nachhaltig geprägt haben, gibt es über sie nicht. Von ihr wissen wir weniger als von den meisten anderen Autoren des 20.Jahrhunderts. Was über sie bekannt geworden ist, entstammt vor allem den Erinnerungen ihrer elf Jahre jüngeren Schwester Hilde Wenzel und den Briefen, die sie zwischen 1938 und ihrer Deportation 1943 an die in die Schweiz emigrierte Schwester geschrieben hat.

Dennoch hat Gertrud Kolmar keineswegs nur im stillen Kämmerlein für sich hingeschrieben. Sie hat durchaus Leser und Zuhörer gesucht und gefunden, nachdem ihr Vetter Walter Benjamin die ersten literarischen Kontakte für sie geknüpft hatte. Von 1928 an wurde ihre Lyrik in Zeitungen, Almanachen und Anthologien veröffentlicht, wie etwa in der von Willy Haas herausgegebenen "Literarischen Welt", in der "Neuen Schweizer Rundschau" und im "Insel Almanach". Als sie einmal unerwartet ihren Namen in einer Zeitung findet "hinter dem Namen Mombert und vor dem Namen Dostojewski" schreibt sie am 14.November 1937 in einem Brief an Jacob Picard: "..wissen Sie, wie mir da zumute war? Das lässt sich nur schwer beschreiben - aber vielleicht empfand so Andersens 'hässliches Entlein', als es zum Schluss unter die Schwäne geriet und der Wasserspiegel ihm zeigte, dass es selbst ein Schwan sei.."

Nicht nur von Benjamin, auch von anderen Schriftstellern wurde Gertrud Kolmar gefördert. Elisabeth Langgässer beispielsweise brachte 1933 einige ihrer Gedichte in einer Anthologie von Frauenlyrik heraus. Unterstützung fand sie außerdem bei Wilhelm Lehmann, Nelly Sachs, Oda Schaefer und Ina Seidel. Nach 1933 hat sich Ina Seidel allerdings von Gertrud Kolmar abgesetzt und sich nach 1945 dann wieder ihrer Freundschaft mit der jüdischen Dichterin gerühmt. (Ähnlich verhielt sich Gottfried Benn gegenüber Else Lasker-Schüler.) Gertrud Kolmar selbst hat das Ende ihrer Verbindung zu Ina Seidel offenbar als tragische Enttäuschung erlebt. Karl Josef Keller berichtete: "G.K.beklagte sich auch bei mir über den plötzlichen Gesinnungswechsel ihrer 'arischen' Bekannten, die zuvor für ihre Arbeiten eingetreten waren. In diesem Zusammenhang nannte sie u.a. eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen, die m.E.in Berlin wohnhaft war u.sich distanziert hatte." Später bestätigte Keller auf Rückfrage, dass es sich bei dieser Schriftstellerin um Ina Seidel gehandelt hat.

Anerkennung erfuhr Gertrud Kolmar auch im Umkreis des Kulturbundes, jener von 1933 bis 1941 bestehenden Zwangsvereinigung aller kulturellen Institutionen der deutschen Juden, wo sie seit 1936 fast regelmäßig in Erscheinung trat und ihre Gedichte rezitierte. Auf diesen Veranstaltungen lernte sie zahlreiche jüdische Künstler kennen, unter ihnen Nelly Sachs, Karl Escher, Jacob Picard.

"..selbst wenn ich zur bedeutendsten jüdischen Lyrikerin seit der Lasker-Schüler erklärt werde; mich erregt es nicht sehr. Es gab eine Zeit, da mich fremdes Lob erfreuen und fördern konnte ..heute weiß ich auch ohne Kritiker, was ich als Dichterin wert bin, was ich kann und was ich nicht kann", schrieb Gertrud Kolmar am 16.Oktober 1938.

Preußische Wappen

In den Jahren 1927 und 1928 entstanden ihre Gedichte "Preußische Wappen" zu verschiedenen deutschen Wappen, zum Beispiel zu Pommern, Brandenburg und anderen Ländern. Es sind zumeist poetisch, straffe, sehr subjektive Deutungen der heraldischen Elemente. Der mutige Verleger Victor Stomps druckte diese Gedichte 1934 in seiner legendären "Rabenpresse". Eines der Wappengedichte beginnt:

"Ich geh durch Erde, die schon nicht mehr ist; /

Denn meine Erde ist nur Teil von mir, /

Wie ich mit Schaufel, Haupt und Widerrist /

Ein blödes, grauses ungeschlachtes Tier." /

(Das Lyrische Werk S.463)

Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens wollte Gertrud Kolmar ihre Dichtung vor nationalsozialistischem Missbrauch schützen. Walter Benjamin schrieb sie am 10.Oktober 1934: "Ich habe über die Veröffentlichung mit dem Verleger schon Anfang des Jahres 33 verhandelt, auch schon den Vertrag abgeschlossen, aber durch die Ereignisse ist das Erscheinen des Büchleins so lange hinausgezögert worden. Du findest auf einer der ersten Seiten das Entstehungsdatum der Verse, ich habe die Feststellung gewünscht, dass ich die 'Wappen' zu einer Zeit dichtete, als Heimatlyrik nicht große Mode war." (Sinn und Form 43.H.1,1991)

"Geschichte gegen den Strich bürsten"

Was sie bewegte, waren von Anfang an vor allem Vorstellungen von einer besseren Welt und die Leiden an der eigenen Zeit, die sie als mittelmäßig und als unheroisch empfand. Sie orientierte sich an den Helden des Altertums, an den Exponenten der Französischen Revolution und entwickelte dabei eine durchaus positive Sicht auf Robespierre, auf die Zeit der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution und versuchte so, die im deutschen Raum negative Einschätzung des Revolutionärs zu revidieren.

Im Herbst 1933 verfasste sie den Essay "Das Bildnis Robespierres", danach den Gedichtzyklus "Robespierre" und zwischen November 1934 und März 1935 ein Schauspiel in vier Aufzügen "Cécile Renault".

Offensichtlich war Gertrud Kolmar bemüht gewesen, die Geschichte im Benjaminschen Sinn 'gegen den Strich zu bürsten' und angesichts der eigenen tödlichen Bedrohung 'Hoffnung im Vergangenen' zu finden. So mag verständlich werden, dass Robespierre für sie nicht nur ein von der Menge Verleumdeter und zu Tode Gehetzter war, sondern auch als unbestechlicher und gläubiger Richter zu einer Identifikationsfigur wurde. Zwar habe sich Gertrud Kolmar in gewisser Weise aus ihrer Zeit weggestohlen, meint Beatrice Eichmann-Leutenegger, "aber sie hat sich ihr auch wieder gestellt: mit der Unerschrockenheit und Konsequenz ihrer ganzen Persönlichkeit."

Ihre Aufmerksamkeit galt "den Rand- und Leidfiguren"

Schon in den Dichtungen zur Französischen Revolution manifestierte sich der Protest dieser scheinbar weltabgewandten Lyrikerin, die fern aller politischen Aktivität, ihre Stimme gegen die politische Wirklichkeit erhob und sich bei allen Erscheinungen von Unrecht in der Welt mit den Leidenden identifizierte. Dabei hat sie auch die von der Welt Verachteten und Stigmatisierten in ihr Werk mitaufgenommen in Gedichten wie "Die Landstreicherin", "Die Irre", "Die Fremde", "Die Hässliche", "Die Lumpensammlerin" und "Die Kinderdiebin" und damit ihren Zeitgenossen in einem Spiegel die Bilder derer vorgehalten, die ausgeschlossen, geächtet, verfolgt sind, ohne diese indes zu idealisieren. "Die Leser müssen immer auch den kalten distanzierten Augen folgen, mit denen Therese Rubin auf Susanna blickt. Sie müssen in 'Jüdische Mutter' der Selbstverachtung, dem Selbsthass von Martha Wolg nachspüren", schreibt Thomas Sparr in seinem Nachwort zu "Susanna".

Wie der Essay "Das Bildnis Robespierres" zeigt auch das bisher unveröffentlichte Stück "Möblierte Dame (mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe" Gertrud Kolmar von einer wenig bekannten Seite. Monika Shafi weist darauf hin, dass diese kleine Szene keineswegs ein "amüsantes, aber beiläufiges oder triviales Nebenprodukt" von nur autobiografischem Wert sei, sondern in der nicht zu Wort kommenden, in Ihrem Anderssein nicht akzeptierten Frau die humoristische Brechung eines zentralen Themas des Kolmarschen Werkes. Galt doch, meint auch Monika Shafi, Gertrud Kolmars Aufmerksamkeit "den Rand- und Leidfiguren der Gesellschaft, deren Stimmen nicht vernommen wurden. Mit ungeheurer Intensität erforschte sie die Welt der Außenseiter, zu der sie selbst aufgrund ihrer Erfahrungen als Jüdin, Frau und Künstlerin gehörte. Es verwundert daher nicht, dass in ihrer Dichtung Ironie, Humor oder Groteske fast vollständig fehlen. In einem Werk, das weitgehend auf den hohen Ton von Seins- und Todesproblematik gestimmt ist, scheinen sich die Spielarten des Komischen zu erübrigen. Angesichts dieses Werkkontextes wirkt der kurze Text "Möblierte Dame(mit Küchenbenutzung) gegen Haushaltshilfe" um so erstaunlicher und ungewöhnlicher, da er sich einerseits grundlegend von Kolmars Dichtung unterscheidet und andererseits eine ironische Widerspiegelung ihrer zentralen Problematik darstellt."

Nicht jedem Kolmar-Kenner und -Verehrer dürfte bekannt sein, dass sich die Dichterin, wie Nelly Sachs, zum Tanz hingezogen fühlte und dafür eine Begabung zeigte. In einigen Gedichten, zum Beispiel in "Die Tänzerin" und "Der sonderbare Tanz" klingt das Motiv des Tanzes an. Schwester und Nichte lässt sie in einem ihrer Briefe wissen "..mit ihrer Absicht (die Absicht der Nichte Sabine), eine große Tänzerin zu werden, ist Tante Trude sehr einverstanden. Du weißt ja, dass ich die Tanzkunst liebe.."

Die einzigen Zerstreuungen, die Gertrud Kolmar zusagten, waren das Theater und der künstlerische Tanz. "Hier zeigte sich das Erbteil der Mutter, die nicht nur eine vorzügliche Pianistin war, sondern auch selbst gern Theater spielte" schreibt Hilde Wenzel im Nachwort zu "Das Lyrische Werk".

Neue Enttäuschung - neue Gedichte

Um 1937 dichtete Kolmar den Zyklus "Welten", der erstmals fast vierzig Jahre später, posthum 1974, im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wurde. Die Gedichte dieses Zyklus sind trotz aller Stilisierung ins Mythologische und ins Exotisch-Ferne charakteristische und autobiographische Dokumente einer unerfüllten und unerfüllbaren Liebe. Ihr Adressat ist diesmal Karl Joseph Keller, den sie über zwei, im "Insel-Almanach" im Jahr 1930 veröffentlichte Gedichte - "Die Gauklerin" und "Die Entführte" - kennen gelernt hatte. Man traf sich und besuchte zum Beispiel in Lübeck das Buddenbrook-Haus. Aber keiner entsprach den Vorstellungen des anderen, so dass auch die Beziehung zu Keller letzten Endes schmerzlich verlief. Man schrieb sich bis 1939. Doch er brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass er 1937 geheiratet hatte, dass er Angst habe, man könne seine nun nur noch freundschaftliche und ausschließlich briefliche Beziehung zu einer Jüdin entdecken. Aber sie schreibt Gedichte an ihn und über ihre Liebe, wie

"Die Verlassene (An K.J.)

Du irrst dich. Glaubst du, das du fern bist /

Und dass ich dürste und dich nicht mehr finden kann? /

Ich fasse dich mit meinen Augen an, /

Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.

Ich zieh dich unter dieses Lid /

Und schließ es zu und du bist ganz darinnen. /

Wie willst du gehn aus meinen Sinnen, /

Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?

Du lässt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen /

Wie einen welken Strauß, /

Der auf die Straße niederweht, vorm Haus /

Zertreten und betäubt von allen.

Ich hab dich liebgehabt. So lieb. /

Ich habe so geweint ..mit heißen Bitten.. /

Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten, /

Als deine Feder keinen Brief, mir keinen Brief mehr schrieb.

Ich nannte Freund und Herr und Leuchtturmwächter /

Auf schmalem Inselstrich, /

Den Gärtner meines Früchtegartens dich, /

Und waren tausend weiser, keiner war gerechter.

Ich spürte kaum, dass mir der Hafen brach, /

Der meine Jugend hielt - und kleine Sonnen, /

Dass sie vertropft, in Sand verronnen. /

Ich stand und sah dir nach.

Dein Durchgang blieb in meinen Tagen, /

Wie Wohlgeruch in einem Kleide hängt, /

Den es nicht kennt, nicht rechnet, nur empfängt, /

Um immer ihn zu tragen."

(Das Lyrische Werk S.127)

Andere Gedichte sind der "Engel im Walde", "Sehnsucht" und "Die Stadt".

"Gib mir deine Hand die liebe Hand und komm mit mir; /

Denn wir wollen hinweggehen von den Menschen. /

Sie sind klein und böse, und ihre kleine Bosheit hasst und peinigt uns.. /

So lasst uns fliehn.."

heißt es in "Der Engel im Walde", (Das Lyrische Werk. S.559)

Das Gedicht Sehnsucht beginnt mit den Worten:

"Ich denke dein. /

Immer denke ich dein.." /

(Das Lyrische Werk S.562)

"Die Frau und die Tiere"

Als letzte Veröffentlichung zu ihren Lebzeiten erschienen bei Erwin Löwe im Jüdischen Buchverlag unter dem Namen Gertrud Chodziesner die Gedichte "Die Frau und die Tiere", in denen deutlich wird, wie sehr sich die Dichterin Tieren, insbesondere den Amphibien verbunden fühlte, vermeintlich hässlichen Tieren, denen im allgemeinen keine Liebkosung gilt. Die Auflage musste jedoch nach dem Novemberpogrom im Jahr 1938 und dem anschließenden Verbot jüdischer Verlage eingestampft werden.

In manchen Tiergedichten ist die Beziehung zwischen Mensch und Tier innig und voll Liebe, in anderen wird die Natur durch die Natur oder durch die Menschen rücksichtslos zerstört, Dann wieder gibt es Gedichte, in denen ein Gericht der Tiere gestaltet wird, ein Ende der Menschheitsgeschichte, über das die Tiere das Urteil fällen.

"Die innige Beziehung zur Natur", schreibt Hilde Wenzel, "und die Liebe zu allen ihren Geschöpfen mag Gertrud vom Vater geerbt haben. Sein Wissensdrang, seine großmütige Gesinnung, sein nie erlahmendes Streben nach höchster Lauterkeit machten ihn zu einem unermüdlichen Streiter für die Sache, die er einmal als gerecht erkannt hatte.."

Gertrud Kolmar lebte in einer Zeit, die seit 1870/71 euphorisch dem Glauben an Technik, Ratio und Fortschritt verfallen war. Sie selbst jedoch lehnte diese Tendenz ab und wählte die Natur als ihr Reich. Ihre Gedichte über das Tierreich erschienen unter Titeln wie "Die Unke", "Die Kröte", "Olmgast", "Die Ottern", "Das Tier", "Der große Alk", "Krähen", "Die Tiere von Ninive", "Das Einhorn", "Die Unke" und "Das Lied der Schlange, in dem die Verse vorkommen:

"Ihr kennt mich stumm, nennt mich Ringelnatter. /

Doch zieht nur die Fäden aus meinem Gesange, /

Die flimmernden Silber- und kupfernen Fäden /

Behutsam aus schwarzem gebreiteten Tuche."

(Das Lyrische Werk S.161)

Der Dramaturg, Literaturkritiker und Redakteur Hugo Lachmanski schrieb in seiner Rezension des Gedichtbandes "Die Frau und die Tiere" in der 'Central-Verein-Zeitung. Allgemeine Zeitung des Judentums': "Das Bändchen Gedichte, das jetzt vorliegt, gibt willkommene Gelegenheit, das bisherige Gesamtschaffen einer Dichterin zu überblicken, deren Weg sich nicht in das dürre Gestrüpp des Lyrisch-Konventionellen verliert, sondern die einsam ihre Straße zieht, wirklich-unwirklich, ausgestattet mit dem Rüstzeug einer ganz ungewöhnlichen Diktion, hinausstrebend in ein geheimnisvolles Reich phantastischer Visionen...

(Der) echten, tief empfundenen Naturlaute gibt es nur wenige in Gertrud Chodziesners Lyrik, denn das hervorstechende Kennzeichen dieser Lyrik ist das Barock, eine Sprache von einer geradezu verschwenderischen Fülle absonderlicher Bilder und ornamental-malerischen Zierrats. Die Dichterin schwelgt in Farben, wie sie aus neuer Zeit eigentlich nur Arthur Rimbaud, der französische Symbolist, auf seiner Palette hat. Was auch immer bei der Dichterin diesen Farbensinn geweckt haben mag...,dies Sonnenbraun und Rosenrot, dies Pfauenblau und Orangen, dies Schwarzgrünlich und Silberfarben, dies Apfelsinengelb und Smaragden, dies Kupfern und Graubläulich präsentiert sich als das überreiche, schmückende Beiwerk einer Verssprache, über der sich dann noch die kühnsten, abgelegenen Metaphern wie schwere dunkle Kuppeln wölben.."

Und im "Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland" schreibt Bertha Badt-Strauß: "Das hat seit langem kein Buch mehr über mich vermocht - zumal nicht in dieser sorgenvollen Zeit..:eine Verzauberung, dass man einen Tag und eine Nacht lang in einer anderen Welt atmete, in einer fremden zaubervollen Welt voll harter, glitzernder Kristalle, voll unheimlicher Tiere und leidender Menschen. Gertrud Chodziesner und ihre Gedichte 'Die Frau und die Tiere'..haben mir dies lange nicht mehr gespürte Erlebnis bereitet, schon dadurch bezeugend, dass hier eine seltsam eigenwillige Stimme sich vernehmen ließ, fernab von vielem, was sonst in dieser Zeit in einer gebildeten Sprache, die für uns dichtet und denkt, an Gedichten geschaffen wurde. Eine grenzenlose Einsamkeit scheint dieses Buch einzuhüllen."

"Das Kind"

An zwei Themen entfalteten sich Gertrud Kolmars magische Einfühlungsgabe und Einbildungskraft aufs schönste: Einmal in den "Tierträumen", in denen sie die kreatürliche Wirklichkeit der Tiere benennt und zugleich den menschlichen Bezug herstellt, und dann im Gedichtkreis "Kind", in dem ihr Verlangen nach dem Kind, ihre Zuwendung von der Erwartung bis zur zärtlichen Sorge der Mutter in wechselnden Bildern und Rhythmen eingefangen wird.

"Mein Kind

Ich rühre dich mit Mund und Nüstern an /

Wie schönes Obst auf einer Schale /

Da Herb und Süß sich neidlos mengt." /

Diese so sinnlich griffigen Verse bedürfen jedoch ergänzend der beiden abschließenden Zeilen desselben Gedichts:

"Ich spreche irr. Mein Dunkel ruft dich mir. /

In meinem Tage bist du nicht."

Im Gedicht-Zyklus "Das Kind", der in zwei Fassungen erhalten ist, lebte mithin Gertrud Kolmars Sehnsucht nach dem Kind fort. Denn der Beruf als Erzieherin war für sie nur ein schwacher Trost für den Verlust des eigenen Kindes gewesen. Sie litt zutiefst an der Kinderlosigkeit, die ihr von Familie, der Gesellschaft und ihrer bürgerlichen Moral aufgezwungen worden war, während das Kind, das nie die vorgeburtliche Wassertiefe verlassen hat, wie ein amputiertes Glied, das noch schmerzte, in seiner Mutter ein Phantomleben führte. Sie stickte ihm einen Kittel mit ihren Träumen, nähte ihm Schuhe aus ihrem Hoffen, fütterte mit ihm, wie es in dem Gedicht "Spaziergang" heißt "Blaue Hühner, die es gar nicht gibt." (Das Lyrische Werk S.249)

"Ich sehe, ich fühle /

Durch die verschlossene Tür tritt lautlos /

Ein Kind /

das einzige, das mir zubestimmt und das ich nicht geboren. /

Nicht geboren um meiner Sünde willen; Gott ist gerecht."

(Das Lyrische Werk S.565)

"Die jüdische Mutter"

Im Nachlass Gertrud Kolmars fand sich ein umfangreicher Prosatext, der 1930/31, wenige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter entstanden war und 1965 erstmals gedruckt wurde. Es handelt sich dabei um den Roman "Die jüdische Mutter". In vielen Details spiegelt er autobiografische Erfahrungen Kolmars im Berlin der zwanziger Jahre, den stärker werdenden Antisemitismus und die gleichzeitige Notwendigkeit, sich mit der eigenen jüdischen Identität auseinander zu setzen.

Gertrud Kolmar hat hier ein ungewöhnliches Thema aufgegriffen: das Sittlichkeitsverbrechen an einem Kind. Sie erzählt von einer verwitweten jungen Frau, der Jüdin Martha Wolg, die für sich und ihre kleine Tochter Ursa den Lebensunterhalt als Fotografin verdient. Eines Abends, als sie von der Arbeit heimkehrt, ist die Fünfjährige verschwunden. Erst am nächsten Morgen entdeckt Martha ihr Töchterchen in einer abgelegenen Arbeiterbude: an dem Kind ist ein Sittlichkeitsverbrechen verübt worden. Da die seelischen Schäden, wie sich in der Klinik herausstellt, weitaus schwerer wiegen als die körperlichen, die dem Kind zugefügt worden sind, flößt Martha dem Mädchen ein tödliches Schlafmittel ein. Niemand hat die Tat bemerkt. Sie selbst glaubt, den Täter finden und das Verbrechen rächen zu müssen und zu können. Vehement fordert sie Gerechtigkeit. Als sie einen flüchtigen Bekannten ihres verstorbenen Mannes trifft, hofft sie, dass er ihr bei der Fahndung helfen werde und lässt sich mit ihm ein. Als dieser indes von ihrer Tat erfährt, graut ihm vor der Frau, und er verlässt sie. Martha Wolg verwindet das Verbrechen nicht. Die Schuld um das getötete Kind und die Schmach der am Ende zurückgewiesenen Liebe werden übermächtig. Da sie mit ihren traumatischen Erfahrungen nicht fertig werden kann, geht sie in die Spree und findet auf ihrem Weg ins Wasser ihr totes Kind wieder.

Martha Jadassohn, die jüdische Mutter wirkt herb, abweisend und auf den ersten Blick alles andere als sympathisch. Mit ihrer Verschlossenheit und Radikalität schreckt sie viele Menschen aus ihrer Umwelt ab. auffallend ist in dieser beklemmenden Darstellung der alttestamentarische Ruf nach Gerechtigkeit, ähnlich wie in dem Gedicht "Wir Juden" (Das Lyrische Werk S.101).

"Susanna"

Die einzige erhaltene Erzählung und offenbar das letzte erhaltene Werk von Gertrud Kolmar ist "Susanna", das sie zwischen dem 20.Dezember 1939 und dem 13.Februar 1940 zu Papier gebracht hat. Sie hat diese Geschichte unter widrigen Lebensumständen, denen zu jener Zeit alle Juden in Deutschland ausgesetzt waren, abgetrotzt und schreibt während der Arbeit an "Susanna" an ihre Schwester Hilde am 15.Januar 1940: "Jede dichterische Erschaffung ist für mich wie eine Geburt (die Wehen sind manchmal scheußlich). Zur Zeit findet dieses Ereignis - in Etappen - immer nachts statt." Das kleine Prosawerk erschien zuerst 1959 in der Anthologie "Das leere Haus". Eine später entstandene "kleine" Erzählung, von der sie in ihren Briefen vom 5.März und 13.April 1942 berichtet, "etwa 26 Heftseiten, allerdings eng beschrieben, in 3 Monaten", scheint verloren gegangen zu sein. Wenn auch die Prosa in Kolmars Werk eine weniger bedeutende Rolle spielt, so ist gerade "Susanna" künstlerischer Ausdruck ihrer lyrischen Gefühlswelt, aber auch der Ambivalenz ihres Wesens.

Hier der Inhalt: Eine Erzieherin nimmt eine Stelle in einem ostdeutschen Städtchen an, um ein gemütskrankes Mädchen zu betreuen. Die Handlungen entwickelt sich vorwiegend durch Dialoge zwischen beiden. Beide leben in verschiedenen Welten, nehmen die Wirklichkeit unterschiedlich wahr und bedienen sich unterschiedlicher Sprechweisen. Die Sprache der einen ist fantastisch und ausgreifend, die der anderen vernünftig und prosaisch. Denn Susanna entpuppt sich als ein fantasievolles Geschöpf im Gegensatz zur Ich-Erzählerin, die von sich sagt: "Ich bin keine Künstlerin. Nur eine alte Erzieherin mit grauendem Scheitel, zermürbter Stirn und Tränensäcken unter den müden Augen"(S.7). An Susanna dagegen ist alles "Anmut und Süße"(S.11). Sie lebt in einer Traumwelt, behauptet, "früher konnten Menschen und Tiere heiraten", dann wieder meint sie: "Ich bin doch ein Tier"(S.19) oder: "Ich bin eine Tochter vom König David oder vom König Saul." Susanna erfindet neue Worte und Zusammenhänge. Ihre Mythen und Märchen verzaubern, und sei es nur für einen Augenblick die gänzlich entzauberte Welt der Erzieherin. Sie wirkt, laut ihrer Betreuerin, wie "ein erwachsenes freundliches Kind" (S. 23).

Als sich angeblich die Vernunft schließlich Bahn bricht, und der junge Rubin, zu dem Susanna eine Art Liebesverhältnis entwickelt hat, auf Drängen seiner Mutter abreist, kommt es zur Katastrophe. Susanna folgt dem Geliebten auf den Gleisen seines Morgenzuges und findet den Tod. Die Erzählerin verlässt den Ort und erinnert sich erst wieder an diese Begegnung, als sie einige Jahre später die Todesanzeige von Rubins Mutter in der Zeitung liest.

"..eine klar gegliederte Erzählung, "deren Themen und Motive von Gertrud Kolmars lyrischem Hauptwerk gespeist sind" urteilt Thomas Sparr im Nachwort der Erzählung.

Nachzutragen bleibt, dass beide, Susanna und die Erzieherin, Jüdinnen sind. Die Icherzählerin bekennt in diesem Zusammenhang: "Ich kannte das Judentum nicht, meinen Glauben, und hielt das für eine ländliche Redensart" (S.15) und: "Ich trug einen Makel. Recht klein war der Makel und störte mich wenig, doch ich deckte ihn zu, wie es ging." (S.21) Das Judentum erscheint in dieser Erzählung auf der Schwundstufe der Assimilation. Wer genau hinhört und hinschaut, entdeckt manche Anspielungen auf die damalige Situation der Autorin im Nazi-Deutschland. Marion Brandt sieht im Tod Susannas, aber auch in dem der "jüdischen Mutter", ein "Sinnbild für die gescheiterte Assimilation deutscher Juden und zugleich für den Untergang des Ostjudentums".

Vorherrschend in dieser Erzählung ist jedoch der Gegensatz zwischen der Traum- und der Märchenwelt Susannas und den realitätsbezogenen Vorstellungen der Erzieherin, ein Gegensatz, der auch Kolmars lyrisches Werk prägt.

Gertrud Kolmar soll gerade im Umgang mit behinderten Kindern eine ausgezeichnete Erzieherin gewesen sein, insofern dürfte die Erzieherin in "Susanna" in gewisser Weise auch ein Spiegelbild der Dichterin sein. Auf der anderen Seite hat sie aber auch Anteil an der Figur Susannas, an deren poetischer Lebenssuche, die zuallererst Sprachsuche ist. Es gibt in dieser Erzähkung "einen semantischen Widerstreit", stellt Thomas Sparr fest, "von der nüchternen Diktion der Erzieherin, in deren Präteritum die Entsagung und Enttäuschung eines ganzen Lebens beschlossen liegt, zu den vorwärts drängenden Fragen Susannas, die Worte und Wendungen nach ihrer Bedeutung befragt, Märchen erzählt, Mensch und Tier zusammen sieht. .. Was aber in dieser Erzählung in zwei Figuren zerlegt erscheint, waren zwei Gegenkräfte in Gertrud Kolmars Leben." Allerdings vermeidet es Gertrud Kolmar, das Innenleben ihrer Figuren zu öffnen. Die Gemütskrankheit Susannas bleibt unerklärt. Susanna ist wie alle Frauengestalten Kolmas einsam. Gertrud Kolmar hat ihre Zeit streng und nüchtern wahrgenommen, wie eine Chronistin. Aber sie war auch eine Kartographin der Seele, die die Grenze von Wirklichkeit und Dichtung streng zog, um 'einem gezauberten, unüberschreitbaren Kreise", wie es in Susanna heißt, sein Recht und das heißt, sein Rätsel zu lassen. Ihr Leben teilten Risse, und diese kennzeichnen auch ihr Werk.

"Die Erzählung ist ein Kunstwerk besonderer Art und bezeugt den Gegensatz von Vernunft und Irrationalität, von preußischer Erziehung und jüdischem Schicksal in der Seele der Dichterin. Seherisch nimmt Gertrud Kolmar ihr eigenes Ende vorweg" heißt es in einer im "Tagesspiegel" erschienenen Rezension.

Was zeichnet Gertrud Kolmars Lyrik aus?

Eine bildgesättigte und vibrierende Sprache - Peter Matt rühmt "die visionäre Ungeheuerlichkeit" und "das rasselnd Barbarische dieser Sängerin."

"Ihre Gedichte und Briefe bekunden", urteilt Eberhard Horst, "die geistige Intensität und schöpferische Bewegtheit dieses Lebens. ... Die äußerste Zurücknahme ihrer eigenen Person ließ ein lyrisches Werk von unerschöpflichem imaginativem Reichtum wachsen, ein völlig geschlossenes Werk bei aller stofflichen und formalen Vielfalt."

Gertrud Kolmars Verse sind in der Tat mit thematischer und bilderfüllender Kühnheit von einem sicheren Kunstverstand geformt. Schon Picard betonte die "völlige Einheit des Niveaus intellektueller, imaginativer und formaler Kräfte."

Kolmars Gedichte enthielten, meint Horst weiter, keine Leerstellen, keine abgenutzte Metaphorik. "Große mythisch-visionäre Hymnen stehen neben reinen Huldigungsgedichten des Rosenzyklus, neben den balladesken Strophen in den historischen Gedichtkreisen auf 'Napoleon und Marie' und Robespierre."

"Naturnähe und visionärer Reichtum, ein ganz vom sinnenhaft-lyrischen Bild getragener, jede Romantizität und Gefühligkeit übergreifender Realismus finden in den Gedichten eine unepigonale und überzeugende Sprache." So weit Eberhard Horst.

Manche ihrer Verse haben eine geradezu halluzinatorische Kraft. Sie beschreiben oder benennen nichts im üblichen Sinne, sondern rufen unbekannte Bilder und Gefühle im Leser wach, die sich noch lange in seinem Kopf festhaken.

Peter von Matt: "Da ist eine Frau, die wirft Bilder wie die Füchsin, wie das Marderweibchen ein Nest voll Junge. Das liegt dann da und regt sich, ist gefährlich und rührend, zart und grausam zugleich, wird geleckt und gehegt und ist ein großes Gedicht. Die Ruhmesgeschichte dieser Gertrud Kolmar ist ein so langsamer und unaufhaltsamer Vorgang, dass er die Behauptungen, im Bereich der Literatur laufe heute alles beschleunigt ab, widerlegt. Die guten Bücher haben noch immer Zeit. Was mit Monaten rechnen muss, ist in der Regel auch darnach."

Wie stand Gertrud Kolmar zu ihrer jüdischen Herkunft?

Während ihre Eltern noch in der ungebrochenen Überzeugung lebten, die deutsch-jüdische Symbiose sei Wirklichkeit, und dabei völlig übersahen, dass die Stellung von Juden in der Gesellschaft des Kaiserreiches keineswegs unumstritten war - in ihrem Haus herrschte eine ausgesprochen deutschfreundliche, kaisertreue Stimmung -, war ihrer ältesten Tochter das aufgeklärte Judentum Berlin nicht Heimat genug war. Vielmehr setzte sie sich vom liberalen Modell der jüdischen Emanzipation ab und suchte als Jüdin woanders nach den Wurzeln ihrer Herkunft, übte sich im heimlichen Aufstand gegen die wilhelminisch orientierte Familie und rebellierte schon in den zwanziger Jahren selbstbewusst in ihrer Dichtung gegen die Verleugnung des jüdischen Erbes im assimilierten Judentum. Um 1930 begann sie dann, sich intensiv mit der Problematik der antisemitischen Hetze und ab 1933 mit der beginnenden Judenverfolgung im Dritten Reich auseinander zu setzen. Ihr Gedicht über das Schicksal der Juden ist eine einzige leidenschaftliche Liebeserklärung an das jüdische Volk. In dem visionären, frei rhythmischen Gedicht "Wir Juden" identifiziert sie sich voll und ganz mit ihrem Volk und legt Zeugnis ab von der Fähigkeit dieses Volkes, in der Gewissheit seiner Erlösung, an der grenzenlosen Verachtung dieser Welt nicht zugrunde zu gehen.

"Wir Juden

Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk, /

Und will dich ganz mit Armen umschlingen heiß und fest, /

So wie ein Weib den Gatten, der am Pranger steht, am Kolk /

Die Mutter den geschmähten Sohn nicht einsam sinken lässt.

Und wenn ein Knebel dir im Mund den blutenden Schrei verhält, /

Wenn deine zitternden Arme nun /

grausam eingeschnürt, /

So lass mich Ruf, der in den Schacht der Ewigkeiten fällt, /

Die Hand mich sein, die aufgereckt an Gottes hohen Himmel rührt.

Denn der Grieche schlug aus Berggestein seine weißen Götter hervor, /

Und Rom warf über die Erde einen ehernen Schild, /

Mongolische Horden wirbelten aus Asiens Tiefen empor, /

Und die Kaiser in Aachen schauten ein südwärts gaukelndes Bild.

Und Deutschland trägt und Frankreich trägt ein Buch und /

ein blitzendes Schwert, /

Und England wandelt auf Meeresschiffen bläulich silbernen /

Pfad, /

Und Russland ward riesiger Schatten mit der Flamme auf /

seinem Herd. /

Und wir, wir sind geworden durch den Galgen und /

das Rad.

Dies Herzzerspringen, der Todesschweiß, ein tränenloser /

Blick /

Und der ewige Seufzer am Marterpfahl, den heulenden /

Wind verschlang. /

Und die dürre Kralle, die elende Faust, die aus Scheiter- /

haufen und Strick /

Ihre Adern grün wie Vipernbrut dem Würger entgegenrang.

Der greise Bart, in Höllen versengt, von Teufelsgriff zerfetzt, /

Verstümmelt Ohr, zerrissene Brau und dunkelnder Augen /

Fliehn: /

Ihr! Wenn die bittere Stunde reift, so will ich aufstehn hier /

und jetzt, /

So will ich wie ihr Triumphtor sein, durch das die Qualen /

ziehn!

Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter /

schwellt, /

Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts /

harter Zeit; /

O könnt ich wie lodernde Fackel in die finstere Wüste der /

Welt /

Meine Stimme heben: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! /

Gerechtigkeit!

Knöchel. Ihr schleppt doch Ketten, und gefangen klirrt mein /

Gehn. /

Lippen. Ihr seid versiegelt, in glühendes Wachs /

gesperrt. /

Seele. /

In Käfiggittern einer Schwalbe flatterndes Flehn. /

Und ich fühle die Faust, die das weinende Haupt auf den /

Aschenhügeln mir zerrt.

Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid. /

Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter /

glitt, /

So wirf dich zu dem Niederen hin, sei schwach, umarme das /

Leid, /

Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken des /

Starken tritt!"

(Das Lyrische Werk S.101)

Beatrice Eichmann-Leutenegger geht im Vorwort zu ihrem Buch über Gertrud Kolmar auf dieses Gedicht näher ein und weist darauf hin, dass Verfolgungen die Dichterin nicht hinnehmen wollte, "sondern 'aufstehen hier und jetzt'. Dreimal ertönt ihr Ruf nach Gerechtigkeit, als ob sie Bruno Bettelheims "Befreiung vom Ghettodenken" vorwegnehmen wollte. In dieser Rebellion wirkt die Stoßkraft der zionistischen Bewegung. Auch wenn sie davon spricht, das Leid zu umarmen, so setzt sie damit noch nicht den Schlusspunkt. Die wahre Revolte vollzieht sich im letzten Vers. Dieser ist von umwälzender Erlösungsbotschaft des Jesaja getragen, seiner Verheißung einer künftigen Herrlichkeit Zions nach aller Qual. Da verkehrt sich alles. "Aus dem Kleinsten wird ein Stamm und aus dem Geringsten ein starkes Volk.."(Jes. 60,22). In Gertrud Kolmars Schau tritt daher der Wanderschuh des Schwachen auf den Nacken der Starken, der Unterlegene wird zum Sieger. Zäh muss in der Dichterin diese Hoffnung gelebt haben. Für den Zionismus soll Gertrud Kolmar, nach Aussage ihrer Schwester Hilde Wenzel, eine starke Sympathie, insbesondere nach Hitlers Machtantritt empfunden haben. Johanna Woltmann, eine gute Kolmar-Kennerin, meint dagegen, dass Gertrud Kolmar in ihrer demütigen Akzeptanz eines auferlegten Schicksals keine Nähe zum Zionismus erkennen lasse. Sie scheine zwar schon in früheren Jahren "eine tiefe Religiosität empfunden, nicht aber eine Hinwendung zum Zionismus als religiöser und politischer Richtung praktiziert zu haben. Zudem fühlte sie sich vom märchenhaften Orient angezogen. Ihre Sehnsucht galt nicht Amerika. "Nach Osten send ich mein Gesicht" und: "Ich bin wohl auch eine Art "verhinderter Asiatin". Sie erlernte sogar die hebräische Sprache. Später schrieb sie einige Gedichte in hebräisch. Einem zwischen 1939 und 1940 entstandenen Lebenslauf für eine Bewerbung ins Ausland, vermutlich nach Palästina, fügte sie zum Beweis ihrer Hebräischkenntnisse eine Übersetzung des Gedichts "Herbstnacht" von Chaim Nachman Bialek bei.

Am 15.Mai 1940 ließ Gertrud Kolmar ihre Schwester Hilde wissen, "dass ich seit April hebräische Konversation treibe..., der Erfolg ist der, dass ich gestern am 14.Mai nach Schluss der 5.Stunde mein erstes hebräisches Gedicht 'verbrochen' habe." Sie wäre wohl gerne nach Palästina ausgewandert. Da sie aber ihren alternden Vater, der die deutsche Heimat nicht aufgeben wollte, nach dem frühen Tod der Mutter im nationalsozialistischen Terrorstaat nicht allein lassen wollte, schlug sie alle Emigrationsvorschläge aus und blieb als einzige der vier Geschwister 1933 in Deutschland. Offensichtlich war in ihr ein Grundmuster jüdischer Erziehung tief eingeprägt: die Anhänglichkeit an die Eltern.

Einige ihrer Gedichte vor allem jene äußerst zeitkritischen aus der 1933 entstandenen Sammlung "Wort der Stummen", spielen auf die Situation und die Leidensgeschichte der Juden an, die seit altersher dauert und nun grausam aktualisiert wird "im dritten, christlich deutschen Reich. "Ewiger Jude" heißt eines dieser Gedichte, in dem der ewige Jude zum gehetzten alten Mann geworden ist. "Ach, das Zeichen, gelbes Zeichen/Das ihr Blick auf meine Lumpen näht."

(Das Lyrische Werk S.99)

Auch andere Gedichte bezeugen ihre Bindung an das Judentum oder äußern Protest gegen die antijüdische Hetze, neben ihrem Roman "Die jüdische Mutter" auch die zwischen 1927 und 1932 entstandenen Gedichten "Maurische Legende", "Die Jüdin" sowie die Dichtung:

"Der Misshandelte

In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht. /

Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht;

Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun. /

Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun.

Die andern kehren wieder, unterhalten sich /

Mit meinem Schrein und Stöhnen, lachen über mich,

Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen's Sport. /

Ich breche in die Knie..und endlich gehn sie fort.

Ich seh nicht Bäume, Sonne - ob es die wirklich gibt? /

Ob wo ein armes Kind noch seinen Vater liebt?

Kein Zeichen mehr, kein Brief- und ich habe doch eine Frau!- /

Sie sagten:"Du bist rot; wir schlagen dich braun und blau."

Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Rumpf war bloß.. /

O Gott! O Gott! Nein, nein. Ich bin ja glaubenslos,

Ich habe nicht gebetet im Felde, im Lazarett, /

Nur abends als ein kleiner Junge, und die Mutter saß am Bett.

Die Erde ist Kerkergruft, der Himmel ein blaues Loch. /

Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott . .ach, hilf mir doch!

Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein. /

Jesus litt für uns alle; ich leide für mich allein.

Ich steh und sinke ein bei Wasser und wenig Brot /

Stunden und aber Stunden. Wie gut, wie gut ist der Tod!

Hingelegt..und verschlossen in tiefem, dunklem Schacht. /

Keine grelle Lampe. Nur Schlaf. Nur Stille, Nacht..."

(Aus dem Zyklus:"Das Wort der Stummen")

"Die Jüdin

Ich bin fremd.

Weil sich die Menschen nicht zu mir wagen, /

Will ich mit Türmen gegürtet sein, /

Die steile, steingraue Mützen tragen /

In Wolken hinein.

Ihr findet den erzenen Schlüssel nicht, /

Der dumpfen Treppe. Sie rollt sich nach oben, /

Wie platten, schuppigen Kopf erhoben /

Eine Otter ins Licht.

Ach, diese Mauer morscht schon wie Felsen, /

Den tausendjähriger Strom bespült; /

Die Vögel mit rohen, faltigen Hälsen /

Hocken, in Höhlen verwühlt. /

In den Gewölben rieselnder Sand, /

Kauernde Echsen mit sprenkligen Brüsten- /

Ich möcht' eine Forscherreise rüsten /

In mein eigenes uraltes Land.

Ich kann das begrabene Ur der Chaldäer /

Vielleicht entdecken noch irgendwo, /

Den Götzen Dagon, das Zelt der Hebräer, /

Die Posaune von Jericho.

Die jene höhnischen Wände zerblies, /

Schwärzt sich in Tiefen, verwüstet, verbogen; /

Einst hab ich dennoch den Atem gesogen, /

Der ihre Töne stieß.

Und in Truhen, verschüttet vom Staube, /

Liegen die edlen Gewänder tot, /

Sterbender Glanz aus dem Flügel der Taube /

Und das Stumpfe des Behemoth.

Ich kleide mich staunend. Wohl bin ich klein, /

Fern ihren prunkvoll mächtigen Zeiten, /

Doch um mich starren die schimmernden Breiten /

Wie Schutz, und ich wachse ein.

Nun seh ich mich seltsam und kann mich nicht kennen, /

Da ich vor Rom, vor Karthago schon war , /

Da jäh in mir die Altäre entbrennen /

Der Richterin und ihrer Schar. /

Von dem verborgenen Goldgefäß /

Läuft durch mein Blut ein schmerzliches Gleißen, /

Und ein Lied will mit Namen mich heißen, /

Die mir wieder gemäß.

Himmel rufen aus farbigen Zeichen. /

Zugeschlossen ist euer Gesicht: /

Die mit dem Wüstenfuchs scheu mich umstreichen, /

Schauen es nicht.

Riesig zerstürzende Windsäulen wehn, /

Grün wie Nephrit, rot wie Korallen, /

Über die Türme. Gott lässt sie verfallen /

Und noch Jahrtausende stehn."

(Das Lyrische Werk S.36/37)

Auf das berühmte Gedicht "Die Jüdin" aus dem Zyklus "Weibliches Bildnis" von 1938 gibt Johannes Bobrowskis "Gertrud Kolmar "überschriebenes Gedicht ein direktes Echo:

"Buche, blutig im Laub, /

in rauchender Tiefe, bitter /

die Schatten, droben das Tor /

aus Elstergeschrei.

Dort ist eine gegangen, /

Mädchen mit glattem Haar, /

die Ebene unter den Lidern /

lugte herauf, in den Mooren /

vertropfte der Schritt.

Ungestorben aber /

die finstere Zeit, umhergeht meine Sprache und ist /

rostig von Blut.

Wenn ich deiner gedächte: /

Vor die Buche trat ich. /

ich hab befohlen der Elster: /

Schweig, es kommen, die hier /

waren - wenn ich gedächte: /

Wir werden nicht sterben, wie werden /

mit Türmen gegürtet sein?"

Nelly Sachs widmete ihr ebenfalls ein Gedicht. Es trägt den Titel "Die Hellsichtige".

"G.C.

Du sahst die Gedanken kreisend gehen /

Wie Bilder um ein Haupt. /

Der Luft hast du geglaubt /

Darin die Sterne auferstehn.

Und hattest nicht den Blindenstar /

Der altgewordenen Zeit. /

Wo für uns noch der Abend war, /

Sahst Du schon Ewigkeit."

In einigen Gedichten nimmt die Dichterin die teuflische Bedrängnis vorweg, die über das jüdische Volk und über sie selbst kommen sollte.

"Und Drohung ist über mir. /

Die Drohung wird über Israel lagern /

Gleich Flügeln von Raben, krächzenden, magern, /

Und plump vor ihm stehen als horniger Stier."

In dem Gedicht "Das Opfer" ahnt sie ihr eigenes Schicksal voraus. Es endet mit den Sätzen:

"Doch in ihrem Herzen ist Gott, /

Auf ihrem ernsten und schönen Antlitz haftet sein Siegel, /

Das aber weiß sie nicht."

(Das Lyrische Werk S.582)

Ein weiteres Gedicht von Gertrud Kolmar:

"Maurische Legende

Fahrt auf, ihr Toten, fahret auf und zeugt! /

Hier ist der Wein, wir wollen ihn um euch verschütten, /

Und sind die braunen Brote unsrer Hütten. /

Und sind die Judenfraun - und keine, die ein Kind mehr säugt.

Wir weinen ..Dennoch bringen wir gemaltes Angesicht, /

Und dennoch schließen wir den Arm in schweres Goldgespänge /

Und leuchten mit des Halses blitzendem Gehänge, /

Und unsre Herzen kennen unsre Leiber nicht.

Die Herzen: dieses weiße Herz der Braut, /

Die unvollbracht verfällt in ihrer Schöne, /

Das rote Herz der Witwe ohne Söhne; /

Sie ist wie Stein, dem Götzentempel eingebaut.

So haben wir gekauert, so zu Gott geschrien: /

In Öden rings, in wüsten Gärten liegt der Mann erschlagen. /

Die Feinde höhnen, weil wir niemals Frucht mehr tragen, /

Kein süßer Weinberg aufsteigt mehr an unsern Knien.

Wir sind das brache Feld.. Der Herr hat sich erbarmt. /

Der Herr hat eine späte Saat uns zugesprochen. /

Ihr Schweigenden, die Maurenwut durchstochen, /

Er will, dass ihr uns einmal noch umarmt.

Kommt, Bräute, zieht das bärtige geliebte Haupt vom Sand /

An eure Brüste..Weiber gleitet nieder /

Und presst euch warm an blutbespülte Glieder, /

Und gib du Mädchen, still dich der bestaubten Hand.

Dies ist nicht Frevel: Dass ihr mit dem Tode ruht. /

Dies nicht ..Wie möchte Gott sein Volk ersticken? /

Kehrt heim im Morgen, ohne umzublicken. /

Und seid der Krug, die Scholle diesem letzten Blut,

Und lasst es keimen not- und freudevoll /

Und seine Ähren reifen über alle Erde, /

Dass ihm ein Sichelblatt geschmiedet werde /

Und eine Pflugschar, die ihm Furchen reißen soll."

(Das Lyrische Werk S.229)

Die Gedichte, in denen Gertrud Kolmar 1933 auf die nationalsozialistische Machtergreifung mit Gedichten reagierte, zeigen deutlich, dass sie über das, was Juden zu erwarten haben, keinen Augenblick im Zweifel war.

Im Jahr 1933 entstand dieses Gedicht:

"Er hielt an einer Straßenecke. /

Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.

Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht /

Ein großes östliches Gesicht, /

doch schwer und wie erschöpft von Leid /

Ein härenes verschollenes Kleid.

Er sprach und rührte mit der Hand /

sein Kind, das arm und frostig stand:

'Ihr macht es krank, ihr schafft es blass; /

wie Aussatz schmückt es euer Hass,

ihr lehrt es stammeln euern Fluch, /

ihr schnürt sein Haupt ins Fahnentuch,

zerfresst sein Herz mit euerer Pest, /

dass es den kleinen Himmel lässt -'

Da griff ins Wort die nackte Faust: /

'Schluck selbst den Unflat, den du braust!

Du putzt dich auf wie Jesus Christ /

und bist ein Jud und Kommunist.

Du krumme Nase, Levi, Saul /

hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!'

Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb. /

Die Leute zogen mit. Er blieb.

Gen Abend trat im Krankenhaus /

der Arzt ans Bett. Es war schon aus -

Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz /

im fernen Staub des Morgenlands.

Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich /

im dritten, christlich-deutschen Reich."

Ihrer Schwester Hilde gestand sie in der Nazizeit, dass sie viel gelernt habe, "..vor allem dies Eine: Amor fati, Liebe zum Schicksal." Sie wächst an ihrer Bindung zum Judentum und bekennt: "Creo ergo sum" ich schaffe, also bin ich,

Auch in dem zwischen 1939 und 1940 entstandenen Gedicht "Nachruf" ahnt sie ihre Schicksal voraus.

"Ich werde sterben, wie die Vielen sterben, /

Durch dieses Leben wird die Harke gehen /

Und meinen Namen in die Scholle kerben. /

Ich werde leicht und still und ohne Erben /

Mit müden Augen kahle Wolken sehn."

(Das Lyrische Werk S.456)

Gertrud Kolmars Briefe - ein Kleinod

In den Jahren 1938 und 1939 begann zwischen Gertrud Kolmar und ihrer in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde Wenzel ein reger und mehrere Jahre anhaltender Briefwechsel, von dem allerdings nur Gertrud Kolmars Briefe erhalten geblieben sind. Sie sind eines der wenigen autobiografischen Zeugnisse der Dichterin und daher von unschätzbarem Wert. Geben diese doch Auskunft über ihr Leben in den Jahren der Entrechtung und über ihre Haltung des aktiven Duldens, mit der sie der Diskriminierung und Todesdrohung in Würde und ohne Selbstzerstörung begegnete. Außerdem gewähren die Briefe Einblick in ihre Lektüre und in ihr dichterisches Selbstverständnis. Sie zeigen Gertrud Kolmar als eine Frau, die Urteilskraft mit Mitgefühl in hohem Maße verbindet. Daneben geht Gertrud Kolmar auch auf die Probleme und Sorgen ihrer Schwester ein, die anfangs in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis bekam und offensichtlich mit ihrer beruflichen Selbstfindung gewisse Schwierigkeiten hatte. So zeigt sie sich tief berührt, ja erschüttert, als sie in einem der Briefe ihrer Schwester liest, "es gibt nichts, was ich mehr liebe als meinen Laden und die Arbeit." Sie selbst, gesteht Gertrud Kolmar, könne sich "eine gleichsam 'absolute' Liebe zu einem Berufe, der mit Mann und Kind nichts zu tun hat, ...zwar denken; aber ich kann sie nicht mitempfinden."

Wichtig werden für Gertrud Kolmar die Briefe an die jüngste Schwester, weil sie hier ein Echo empfängt. Mitunter blickt sie in ihren Briefen auf die Kindheit zurück. Sie gerät dann ins Erzählen und erinnert sich genau, zum Beispiel an frühere Weihnachtsabende. "Habt Ihr ein Bäumchen? Sicherlich doch. Ich sprach neulich mit Hilde(Benjamin)darüber, welchen essbaren Baumschmuck wir am liebsten gemocht hätten; sie meinte, die Schokoladenkränze mit weißem oder buntem Mohn, und ich meinte, das Russische Konfekt und die Quittenwürstchen. Ein nicht essbarer Schmuck übrigens ...waren die ..beiden Krokodile aus Watte, die Großmama Schoenflies uns geschenkt hatte und die jede Weihnachten über die Tannenzweige krochen, eine zoologische Merkwürdigkeit...". Selbst in den Jahren der Verfolgung beging die Briefeschreiberin noch immer das Weihnachtsfest.

Köstlich sind vor allem die Briefe, die Gertrud Kolmar an ihre Nichte Sabine, der 1933 geborenen Tochter von Hilde und Peter Wenzel, schreibt. Sie nennt sie liebevoll "das kleine Ungeheuer", mitunter auch "Bienelein" oder spricht von ihr als einem kleinen bestrickenden Wesen. Aus vielen dieser Briefe schimmern das weitherzige Verständnis und der Humor durch, die Gertrud Kolmar als Erzieherin zu eigen gewesen sein müssen. Hier einige Kostproben von Briefen an Sabine oder solchen, in denen von ihr die Rede ist:

"Liebe Hilde", schreibt sie am 12.Juni 1936: "Püppi ist mir eine wundervolle Hilfe. Sie deckt den Tisch, räumt ab, füttert die Hühner mit Löwenzahnblättern und gießt die Erdbeeren mit einer kleinen 'Dießkanne.' - Mit vielen schönen Grüßen Trude." Der nächste Brief stammt von Sabine gen. Püppi, den die Tante in deren Namen an die "Liebe Mutti" geschrieben hat und in dem sie Sabine über sich, die Tante, ein wenig spötteln lässt.

Im März 1941 lässt sie Hilde wissen:

"Ich finde das auch sehr unrecht von dem Papa, dass er die Rechtschreibung seiner Tochter bemängelt. 'Spiele' kann jeder schreiben, aber 'SBILE' nur das kleine Ungeheuer! Das ist doch mal was anderes! Und wenn man bedenkt, dass sie vielleicht noch siebzig, achtzig, neunzig Jahre lang 'Brief' mit dem 'e' schreiben wird, warum soll sie das Wort dann nicht während eines kurzen Jahres ohne 'e' malen? Hauptsache ist, dass dem Kind die Freude am Schreiben und Lesen erhalten und gekräftigt wird. Schularbeiten sollen überwacht und verbessert werden, ja; aber wenn das Kind einmal zu seinem Vergnügen den Bleistift in die Hand nimmt, dann soll man an seiner Schreiberei nicht herumnörgeln, sonst wird das Vergnügen auch nur zur Schularbeit, und das ist schade..."

Anderthalb Jahre später fragt Gertrud Kolmar in einem Brief ihre Schwester: "Meinst Du, dass Deine Tochter minder fantasiebegabt ist als Du? Ihre Rechtschreibung spricht gegen diese Annahme. 'Geburztag'-das finde ich herrlich, das schönste Wort vielleicht aus Eurem ganzen Briefe: wie sieht das neu und blank aus, und wie alt und abgegriffen erscheint dagegen 'Geburtstag'. Ich danke dem 'Ungeheuer' recht herzlich für seine Zeilen."

Ihrer Nicht aber schreibt sie am 14.7.1940: "Nun bleibe weiter gesund und brav und wenn Du mal ungezogen bist - ein Kind muss auch mal unartig sein, nicht wahr, damit der Mutti das ewige Artigsein nicht zu langweilig wird - also wenn Du schon mal ungezogen bist, dann bleibe es nicht zu lange."

Dann wieder schildert Tante Trude ihrer Nichte von ihrer eigenen Geburtstagsfeier, als sie selbst noch Kind war oder wie sie als Kind in einem See gebadet habe und ein anderes großes Mädchen "beim Springen von dem hölzernen Turm das Sprungbrett abbrach und mitsamt dem Brett ins Wasser sauste - aber ich will aufhören, sonst gibt's von dem vielen Wasser am Ende noch eine Überschwemmung."

In einem anderen Brief erzählt die Tante ihrer Nichte:"..als Opa uns sagte:'Ihr habt ein Brüderchen bekommen, meinte ich:' Ein Eulchen wär' mir lieber...

Du hast mir eine Eule geschickt; hat die Mutti Dir gesagt, dass ich die Eulen so gern mag? Ich bin selbst so eine halbe Eule, weil ich nämlich im Dunkel auch so gut sehe; bloß Mäuse esse ich nicht. Mich wundert nur, dass die Mäusekarte an Opa angekommen ist, dass die Eule nicht unterwegs die Mäuse gefressen und bloß den Pilz und den Frosch übrig gelassen hat.."

In einigen Briefen an ihre Schwester äußert sie sich über andere Dichter und ihr eigenes Selbstverständnis. So erfährt man, dass sie Rilke sehr geschätzt, aber erst so spät kennen gelernt hat, dass er sie nicht mehr beeinflussen konnte. Allerdings hatten beide ein gemeinsames Vorbild: "die große französische Lyrik."

Von sich selbst sagt sie: "Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein" "..ich versuche, wahrscheinlich mit unzulänglicher Kraft, für die Ewigkeit zu schaffen." Der Erfolg sei ihr nicht wichtig genug, "wesentlich ist anderes." Doch lag ihr nichts daran, "an einem Himmel mittlerer Gestirne als Stern erster Größe hervorzuleuchten."

"Auch mein Flussbett trocknet nicht selten aus, aber dann quäl' ich mich nicht damit ab, ihm künstlich Kanalwasser zuzuleiten, sondern warte still, bis der Regen des Himmels die versiegte Flut erneuert."

Als sie trotz widriger Umstände eine Erzählung verfasst, schreibt Gertrud Kolmar: "Freilich ist es nur Prosa, nicht Vers, was ich schreibe, eine Erzählung: jedenfalls kam dies Wieder-Gestaltenkönnen nach längerer Schaffenspause als ein ungeahntes Geschenk." .."etwa 26 Heftseiten allerdings eng beschrieben, in 3 Monaten, das ist ein Schneckengang, dennoch bin ich so froh, dass es überhaupt ging! Mir scheint, dass diese Leistung mich nicht bloß seelisch, sondern auch körperlich gekräftigt hast;.."

In einigen Briefen macht sie sich Gedanken über die Bibel, über Altersfrömmigkeit. über Spinoza und die Freiheit des Willens.

Ihre letzten Briefe an die Schwester und an andere Empfänger legen Zeugnis davon ab, wie ihr Selbstbewusstsein und Widerstandskraft gegenüber dem unmenschlichen Schicksal ständig zuwuchsen. "Meine Aufgabe hat gleichsam in mir gelegen: da liegt sie noch, und was ich suche, ist nur der der geeignete Ort, an dem ich mich ihr widmen kann", heißt es noch am 13.Mai 1939. Am 1.Oktober 1939 aber bekennt sie: "Ich habe mich inzwischen immer tiefer in das Bleibende, das Seiende, das Ewigkeitsgeschehen zurückgezogen (dies Ewigkeitsgeschehen braucht nicht nur 'Religion', es kann auch 'Natur, kann auch 'Liebe' heißen).."

Im "Wort der Stummen" steht am Ende das Gedicht "Der Engel im Walde"(in Motiv und Haltung auf ein Gedicht gleichen Titels im Zyklus "Welten" von 1937 deutend). In diesem Gedicht hat die Dichterin eine Gestalt des Nichthandelns entworfen, "als ein Inbegriff reinen Leidens und des Einverständnisses mit dem Geschehen" (Silvia Schlenstedt). Dieser Engel ist Symbol für eine geistig-seelische Verfassung, die die Dichterin in ihren letzten Jahren zu erringen suchte: ein Sein"außerhalb aller Wirklichkeit", durch das Ruhe und innere Harmonie gefunden werden kann. Es ist eine tief religiöse Haltung, die auf eine ganz eigentümliche Weise Selbstaufgabe und Lebensbejahung zu vereinen gestattet. 1941, nachdem sie zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war, sagte Gertrud Kolmar von sich, zu ihrer "Kraft zum Dulden" gehöre "etwas durchaus Aktives": der Glaube, "dass der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu verwandeln vermag, mit ihm ringen kann, wie Jakob mit dem Engel kämpfte." Das Verstehen des eigenen Schicksals, die Beziehung zu Gott und das große Verhängnis am Ende ihres Lebensweges sieht sie unter dem Bibelwort:"Ich lasse dich nicht, Du segnest es mich denn." - "..auch Schillers Wort gilt wohl für mich:'Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron. 'Leider, leider und das ist es, was mich so niederdrückt, findet meine Auffassung, meine Einstellung, wo sie sich äußert, fast niemals ein Echo ..ich kann anderen Schicksalsgenossen von der seelischen Kraft, die ich besitze, nichts abgeben." Das Bild vom mit dem Engel kämpfenden Jakob taucht in den Briefen häufiger auf, so auch in einem der Briefe an Hilde:

"..der Glaube daran, dass der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu verwandeln vermag, mit ihm ringen kann wie Jakob mit dem Engel kämpfte:"Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn:" Ich kann solche Haltung gut verstehn; geht es mir doch mit meiner jetzigen Arbeit ähnlich, ob aber Dir das klar ist?" In einem anderen Brief liest man das erstaunliche Bekenntnis: "Ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt, und die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusionen. Glaubst du mir das? Es war so für mich. Nicht, als ob ich nie unglücklich gewesen sei, als ob ich keinen Schmerz erlitten hätte. Nein, ich bin sehr, sehr unglücklich gewesen; ich habe große und tiefe Schmerzen erduldet, die ich doch auch geliebt habe wie eine werdende Mutter die Qualen lieben kann, mit denen ihr Kind sie segnet. Aber ich hatte das alles vorher geahnt, es kommen sehn, im voraus schon auf mich genommen; ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung. Ich hab' die Vokabeln 'ewig', 'beständig, 'treu' (soweit sie auf meinen Partner Anwendung finden sollten) von vornherein aus meinem Wörterbuche gestrichen. Wozu wohl auch schon der Umstand mich führte, dass ich niemals 'die Eine' war, immer 'die Andere'..Du magst mich für sehr anspruchslos halten; ich war es nicht...Ich habe Kleines, Kleinliches, Hässliches auch erlebt, ich habe durch allerhand Dreck hindurchwaten müssen. Aber hinterher sagt' ich immer und sag' es auch heute noch: Was war, war gut..."

In dem Verlangen, "dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn zu geben", vermochte die Dichterin gegen Verzweiflung und Einsamkeit Bilder einer Fülle und Diesseitigkeit herauszustellen, die ihren nie aufgegebenen Anspruch auf die Bewahrung des Humanen vermitteln.

An Susanne Jung richtete Gertrud Kolmar am 26.Oktober 1941 folgende Zeilen: "Glaube mir, dass ich, was auch kommen mag, nicht unglücklich, nicht verzweifelt sein werde, weil ich weiß, dass ich den Weg gehe, der mir von innen her bestimmt ist.. So viele von uns sind ihn, die Jahrhunderte hindurch, gewandert, warum sollte ich anders gehen wollen als sie! ...Diese Wanderung wäre lediglich eine durch äußere Umstände erzwungene, ich will vor dem nicht fliehen, was ich 'innerlich' soll. Ich habe bisher nie so wie heute gewusst, wie stark ich bin, und dieses Wissen erfreut mich."

Gertrud Kolmar war, wie Kafka und viele andere Juden, von der Vorstellung besessen, dass, wo eine Strafe ist, auch eine Schuld sein muss. Das bezeugen zahlreiche Gedichte und auch die Erzählung "Die jüdische Mutter". Das gleiche Bewusstsein einer unbenennbaren Schuld lässt Gertrud Kolmar wenige Tage nach ihrem Geburtstag am 15.Dezember 1942 in einem ihrer letzten Briefe an ihre Schwester folgende Worte finden: "So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein. Wenn ich es schon nicht kenne, ich habe es im voraus bejaht, mich ihm im voraus gestellt und damit weiß ich, dass es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden.

Wie viele von denen, die heute im bloßen Anblicken eines für sie viel zu großen Schicksals zusammenklappen, haben sich denn gefragt, ob sie nicht irgendeine Strafe verdient haben, nicht irgendeine Sühne leisten müssen? Ich war nicht schlimmer in meinem Trachten und Tun als andere Frauen. Aber ich wusste, dass ich nicht lebte, wie ich gesollt und war immer bereit zu büßen. Und alles Leid, das über mich kam und über mich kommen mag, will ich als Buße auf mich nehmen, und es wird gerecht sein. Ich will es tragen, ohne Jammern und irgendwie finden, dass es ist, was zu mir gehört, das auszuhalten und irgendwie zu überstehen ich geschaffen ward und gewachsen bin mit meinem Wesen."

Bei Gertrud Kolmar nimmt das Opfer nicht nur das Leid, sondern auch noch die Schuld auf sich und lässt die Schergen ungeschoren. In der Gestalt der Martha Jadassohn ist diese Schuld sogar als Tat nach außen gekehrt. Die Mutter tötet ihre geliebte kleine Tochter, die von einem Vergewaltiger schwer verletzt worden ist. Ihr Tod in der Spree dient als Buße.

In Kolmars Werk wird Schuld immer wieder spürbar, ist unüberwindlich gegenwärtig und doch ist der Schuldige ebenso wenig auszumachen wie die Ursache der Schuld. Es ist unendlich viel Schuld in der Welt - das war Gertrud Kolmars feste Überzeugung, ja eigentlich kennt sie nur Schuldige, im Zweifel ist sie es selbst, die mit sich hadert und in dem, was ihr geschieht, Strafe sucht.

Zudem hat das Erbe ihrer Kindheit Gertrud Kolmar Zeit ihres Lebens aufs schwerste belastet: Eine unstillbare Sehnsucht nach der zu früh entbehrten innigen Nähe zur Mutter und das Bedürfnis nach Selbstaufopferung in der Beziehung zur Welt. Über Leben und Werk der Dichterin steht wie ein Symbol des Fehlenden Raffaels Bildnis der "Madonna Tempi" eine der größten Darstellungen der Nähe und Vertrautheit zwischen Mutter und Kind. Diesem Bild hat Gertrud Kolmar das erste Gedicht ihrer ersten Veröffentlichung von 1917 gewidmet.

"O Mutter! Deren Arm ein All umspannt! /

So süß entzückt, mit schüchternem Begreifen, /

So zitternd trägt ihr Blümlein deine Hand /

Und wagt es kaum, den zarten Schmelz zu streifen.. /

Ich knie nicht vor der Himmelskön'gin Thron, /

An einem Frauenglück möcht teil ich haben; /

Ich grüß die Mutter mit dem kleinen Sohn, /

Nicht die Madonna mit dem Jesusknaben."

("Madonna aus dem Hause Tempi, Strophe 1 und 5)

Die Rivalität zur Mutter war für Gertrud Kolmar von vornherein mit Schuld beladen.

Ihre Briefe schildern außerdem völlig unsentimental den Alltag der verfolgten Juden in Berlin und die Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik. Doch verschweigt sie, welchen Schikanen und Einschränkungen sie immer mehr ausgesetzt ist, welcher Unmenge von Verboten sie unterliegt. Das alles verschweigt sie in ihren Briefen, nicht nur wegen der Zensur, sondern auch aus Rücksicht auf die Schwester.

Ab 1939 dürfen Gertrud Kolmar und ihr Vater keine Theater, Kinos und Konzerte mehr besuchen. Durch jede neue Verordnung wird ihr Leben immer mehr ghettoisiert und sie selbst mehr und mehr vom Stadtalltag ausgeschlossen. Sie müssen wie alle Juden im Hitler-Regime ihren bürgerlichen Namen die Vornamen Sara und Israel hinzufügen und ab 1.September 1941 den Judenstern "sichtbar auf der linken Seite des Kleidungsstückes" tragen. Wiederholt schreibt Gertrud Kolmar von einem "Gefühl der Unwirklichkeit" ihres Lebens.

Als sie zur Fabrikarbeit gezwungen wird, klagt sie nicht direkt, aber man spürt zwischen den Zeilen, wie schwer und belastend der Alltag für sie wird, "zum Lesen komme ich jetzt nicht viel."

Ihr Wille zum Dienen - (eins ihrer Gedichte trägt die Überschrift "Dienen") -, ihr Pflichtgefühl und ihr hohes Verantwortungsbewusstsein für andere kommen in der Schilderung des Alltags gleichfalls deutlich zum Ausdruck sowie ihre persönliche Bescheidenheit und Zurückhaltung und ihre - wie ihre Schwester es nennt - sprichwörtliche Demut.

"Ich bin lieber in der Fabrik als zu Hause", heißt es einmal, denn bei den Männern fühlt sie sich wohler als bei den Frauen, obwohl die Arbeit leichter ist, aber das Geschwätz und Geschrei dort gehen ihr auf die Nerven, ähnlich wie die Mitbewohner ihrer Wohnung. Sie berichtet von den beengten Wohnverhältnissen; ihr ist "kein Zimmer für sich allein" geblieben. Die zwangseingewiesenen Mieter, Juden aus dem bürgerlichen Mittelstand, empfindet sie als oberflächlich und geschwätzig. Vom vergreisenden Vater entfremdet sie sich immer stärker. "Zu Hause", schreibt sie, "fühlt sie sich nur noch in der Fabrik, allerdings auch hier nur bei den Arbeitern, nicht bei den Damen ihres Standes. Als hätte mit dem Einzuge unserer Mieter jeder gute Geist unsere Wohnung verlassen; ich schau und höre nur Unnützes, Törichtes, Unliebsames, Schlimmes ..Und ich bin willens, mich jetzt nur noch an das Wesentliche zu halten und alles andere abzutun, wie ein plundriges Kleid." Hilde Wenzel bemerkt dazu im Nachwort von "Das Lyrische Werk": "..alles Zweideutige und Vulgäre war Gertrud zuwider, darin ihrem Vater gleich, der vom Tisch aufstehen konnte, wenn ein Gast eine zweideutige Geschichte erzählte.."

Oft zieht sich jetzt Gertrud Kolmar zurück und "errichtet wieder eine Mauer des Schweigens um sich."

Als Zwangsarbeiterin entdeckt sie indes eine andere Freude. Verrichtete sie doch die harte Fabrikarbeit durchaus gern und war stolz darauf, dass sie sich qualifiziert und einen Arbeitsplatz unter Männern zugewiesen bekommt, für die sie von diesen Anerkennung erntet. Zudem erlebt sie hier sogar eine Art neue Liebe. Denn zwischen ihr und einem 21jährigen Medizinstudenten, der wie sie in der Rüstungsindustrie arbeitet, entwickelte sich eine tiefere, wenn auch etwas wechselvolle Beziehung, die von ihr als letztes großes Liebesfest gefeiert wird.

In den letzten Monaten, nachdem der Vater abgeholt worden war, muss sich Gertrud Kolmar im "Judenhaus" in der Speyerer Straße sehr einsam gefühlt haben, vor allem um die Weihnachtszeit. Sie schreibt noch einige Briefe an die Schwester nach Zürich, verfasst einige nicht erhaltene Gedichte auf hebräisch, in der Sprache ihrer Sehnsucht.

Zwischendurch versichert sie brieflich ihrer Schwester, so am 7.November 1942:"... ich habe auch Freude.. nur ungetrübt ist sie nicht, was weder an ihm noch an mir liegt", und: "Ganz ohne Freuden bin ich freilich nicht."

Aber: "Soll ich bedauern, dass es nur noch Erinnerungen für mich gibt? Im Gegenteil, ich freue mich, sie zu haben; sind sie gleich nicht die Sommersonnenglut, so wärmen sie doch wie ein Herdfeuer, das an kalten Tagen wohl tut."

Ihrer Schwester Hilde bekennt sie zudem: "Du bist, offen gesagt, der einzige Mensch, zu dem sich meine Beziehungen seit seiner Auswanderung nicht verflacht, nicht bloß erhalten, sondern bedeutend vertieft haben" und: "Und sollten wir nicht sogar unsere Trennung irgendwie bejahen? Wären wir beide je einander so nahe gekommen, wenn uns das Schicksal so weit von einander entfernt hätte? Dass das Eine so bleiben und das Andere sich ändern möge, wünscht zum neuen Kalenderjahr Deine Trude." Offensichtlich stirbt tatsächlich die Hoffnung zuletzt.

Durch ihre Briefe ist mir die Dichterin ein gutes Stück näher gerückt, gerade weil diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern nur an die jeweilige Adressatin oder den jeweiligen Adressaten gerichtet waren, ist mir die Dichterin durch ihre Korrespondenz mehr und mehr zugewachsen, wobei sich ein Gefühl der Verehrung, fast der Liebe auf Distanz einstellte, schwesterliche Gefühle. Gertrud Kolmars Briefe sind nämlich ein wahres Kleinod, ein kostbarer Schatz und waren mir beim Lesen in unserer so sehr auf Vergnügen ausgerichteten Spaßgesellschaft Labsal und Trost.

Nachdem Gertrud Kolmar abtransportiert worden war, schrieb Peter Wenzel an seine Frau Hilde Wenzel: "Berlin 12.März 1943. Ich weiß nicht, ob Trude Dir noch vor ihrer Abreise schreiben konnte; als ich jetzt einige Tage nach dem Luftangriff in ihre Wohnung ging, fand ich diese nicht so vor wie sonst in den letzten Monaten und wie ich sie vorzufinden hoffte. Obgleich man schließlich mit einem solchen Ereignis rechnen musste, wird Dich diese Nachricht schwer treffen. Aber ich kenne Deinen und Trudes Mut in den Schicksalsschlägen der letzten Jahre und ich weiß, dass Du auch diesen überwinden wirst. Näheres kann ich Dir im Augenblick nicht mitteilen; es ist ja auch belanglos."

Schluss

Ein großer Teil des dichterischen Nachlasses von Gertrud Kolmar konnte gerettet werden. Einen Gedichtzyklus hatte Hilde Benjamin versteckt, jene Hilde Benjamin, die vor 1945 selbst zu den Verfolgten gehört hatte (ihr Mann, ein Bruder Walter Benjamins, kam im KZ Mauthausen ums Leben) und dann in der DDR als "rote Hilde" im Amt der Justizministerin Angst und Schrecken verbreitete.

Dem jahrelangen Bemühen von Hilde und Peter Wenzel um die Publikation des "Lyrischen Werkes", für die sich auch Peter Suhrkamp und Hermann Kasack einsetzten, ist es zu verdanken, dass dieses Werk für die Nachwelt erhalten geblieben ist. Auch der Erhalt der Briefe von Gertrud Kolmar und aller weiteren noch vorhandenen Dokumente ist das Verdienst der beiden Angehörigen.

Nach dem Krieg hat es an Bemühungen wahrlich nicht gefehlt, Gertrud Kolmars Dichtung in Deutschland bekannt zu machen. 1947 erschien ihre Gedichtsammlung "Welten" bei Suhrkamp. Andere Verlage publizierten ebenfalls wiederholt Bücher von ihr. Im Jahr 1993 erinnerte eine Ausstellung im Marbacher Schiller-Nationalmuseum und 1994 eine weitere im Heimatmuseum Falkensee an die jüdische Dichterin. Im Jahr 1993 verlegte der Jüdische Verlag erneut ihre Erzählung "Susanna" und gab einen reich bebilderten Dokumentationsband über ihr Leben und Werk heraus.

Renate Wiggershaus weist in einem Aufsatz über "Feministische Aufbrüche" darauf hin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nur konservative Autorinnen rezipiert wurden. "Die Gedichte der Nationalsozialistinnen Ina Seidel und Agnes Miegel fanden sich zuhauf in bundesrepublikanischen Lesebüchern. 1959 waren bereits dreizehn Oberschulen nach Miegel benannt, die Hitlers 'Wahn' mit 'schweigend ehrfürchtigem Staunen' erlebte und diesen Machtbesessenen und Mörder 'tief und glühend ergriffen' grüßte, erfüllt von 'demütigem Dank', dass sie ihm 'dienen' durfte. Vergeblich sucht man in Lesebüchern für höhere Mädchenschulen aus jener Zeit Gedichte von Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, die von den Nationalsozialisten ermordet oder vertrieben wurden."

Ob sich in Zukunft eine größere Leserschaft für Gertrud Kolmars Dichtung erwärmen dürfte, dünkt freilich immer noch fraglich. Ihre geistige Nähe zu Christine Lavant und Elisabeth Langgässer sowie ihr moralisch rigoroser Lebenswandel, der dem Lebensstil der französischen Jüdin Simone Weil gleicht, dürften heute manchen eher abschrecken als anziehen.

Hier noch eine Empfehlung an Leser von Gertrud Kolmar:

"Die Dichterin

Du hälst mich in den Händen ganz und gar. /

Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt /

In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht; /

Denn sieh, du blätterst einen Menschen um, /

Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht."... /

Das Gedicht endet mit den Zeilen:

"So ruf ich dich. Mein Ruf ist dünn und leicht. /

Du hörst, was spricht. Vernimmst du auch, was fühlt?"

(Das Lyrische Werk S.9)

Auswahlbibliographie:

Über Gertrud Kolmar schrieb ich


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