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Antisemitismus
Wie ernst meint es der Vatikan mit Israel? Wird der Antijudaismus jetzt endgültig besiegt?(1994)
Kurz vor Jahresschluss,am 30.12.1993, unterzeichneten der stellvertretende Außenminister Israels Jossi Beilin und sein Amtskollege des Vatikanstaates Claudio Celli in Jerusalem ein Abkommen, in dem sich beide Seiten gegenseitig anerkennen. Reichlich spät erfüllte der Heilige Stuhl damit einen lang gehegten Wunsch seines Vertragspartners. Immerhin besteht der jüdische Staat schon seit mehr als fünfundvierzig Jahren. Aber erst vor achtzehn Monaten waren Verhandlungen über eine gegenseitige Anerkennung in Gang gekommen. Wer weiß, wie lange sich die Beratungen noch hingezogen hätten, hätten nicht Rabin und Arafat im Nahen Osten für eine überraschende Wende gesorgt. Jetzt konnte und durfte auch der Vatikan nicht länger mehr zurückstehen, wenn er nicht vollends unglaubwürdig werden wollte.
Warum jedoch fand er sich erst jetzt, als letzter europäischer Staat,zur Anerkennung Israels bereit, obwohl er politische Beziehungen mit vielen anderen Ländern pflegt und eine Versöhnung nach zweitausend Jahren Antijudaismus längst fällig gewesen wäre? Aus politischen Bedenken,aus Rücksicht auf die Christen unter den Palästinensern,heißt es. Auch habe man,so wird berichtet,während der anderthalbjährigen Beratungszeit über die für Juden leidvolle Geschichte des Christentums kein einziges Mal gesprochen.
Diese Geschichte wollen wir hier kurz Revue passieren lassen, denn nur wenn man um die historischen Hintergründe weiß und sich klarmacht, dass die jahrtausendalte Judenfeindschaft im Grunde ein Armutszeugnis war für Verblendung, Arroganz, Verbohrtheit und Selbstüberschätzung des angeblich durch christliche Liebe geprägten abendländischen Geistes,kann man ermessen, welch ein Meilenstein das Jerusalemer Abkommen für die Beziehungen zwischen Christen und Juden bedeutet.
Am Anfang der erbitterten und aggressiven Feindschaft zwischen beiden steht die absurde Anklage des sogenannten Gottesmordes. Sie war ein Grund für das oft wenig christliche Verhalten der Christen gegenüber den schwächeren Juden. Mit Fug und Recht kann man behaupten,je inbrünstiger die Christen glaubten und je frommer sie wurden, um so mehr wurden die Juden verteufelt, zu Sündenböcken gestempelt, verfolgt, verjagt und ermordet. Das begann vor allem mit den aus christliche Reformgesinnung heraus entstandenen Kreuzzügen, in deren Verlauf sich die Christen nicht nur im Heiligen Land barbarisch benahmen. Auch am Rhein fielen ihrem frommen Fanatismus blühende Judengemeinden zum Opfer.
Welches theologische Urteil das christliche Mittelalter über das Judentum fällte, zeigt sich heute noch an den Bildern mancher Kirchen, insbesondere an der Gestalt der Ecclesia, die über die Synagoga triumphiert. Wer so triumphalistisch denke und sich so absolut setze, werde blind für das Geheimnis eines anderen, meint Alttestamentler Erich Zenger.
Später änderten sich die Anlässe für Judenverfolgungen. Ging ein Kind verloren, oder eine Kinderleiche wurde gefunden, tauchte alsbald das Gerücht auf, Juden hätten das Kind in ritueller Wiederholung des Christusmordes umgebracht. Ausgerechnet jene, die im Gegensatz zu anderen Religionsgemeinschaften auf Opferungen verzichten, werden beschuldigt, Opferpraktiken zu betreiben, Hostien zu schänden und Kinder zu töten. Eine andere mittelalterliche Variante war der Vorwurf der Brunnenvergiftung bei Ausbruch der Pest. In ihrem Drang nach der Weltherrschaft, so lautete die Begründung, hätten die Juden Gift in die Brunnen gestreut.
Bekanntlich entzündete sich die heftige Feindschaft zwischen Juden und Christen an der Frage, ob Jesus der verheißene Messias sei. Dabei beriefen sich die Christen auf biblische Überlieferungen mit überwiegend judenfeindlichen Aussagen, auf den Propheten Jeremias beispielsweise, auf den Jünger Johannes, den Apostel Paulus, den Kirchenvater Johannes Chrysostomus, auf Origines, Augustinus, Hilarius,Tertullian und viele andere,die mit ihren Aussagen der Dämonisierung des Judentums Vorschub leisteten. Mittlerweile haben christliche Theologen wie Erich Zenger und jüdische Religionsphilosophen wie Pinchas Lapide und Schalom Ben Chorin subtil nachgewiesen,dass die meisten antijüdischen Ausfälle der Christen auf einem eindeutig falschen Textverständnis beruhen. Den Juden wäre gewiss manche dunkle Stunde erspart geblieben, wenn Christen die missverständlichen Sätze in ihren heiligen Schriften über die Juden genauer gelesen und auch solche Textstellen zur Kenntnis genommen hätten, aus denen Sinn und Wert des Judentums deutlich hervorgeht. Selbst die Bedeutung des Alten Testamentes sei von den Christen nicht richtig erkannt worden,konstatiert Zenger. Völlig irrig sei nämlich die weit verbreitete Auffassung, das Judentum folge einer angeblich typisch alttestamentlichen Ethik der Vergeltung und Rache, während das Christentum im Anschluss an die Lehre Jesu eine Ethik der Liebe vertrete. Das Gebot der Nächstenliebe stehe schon im Alten Testament,ebenso finde man die Forderung der Feindesliebe in jüdischen Schriftauslegungen. Unverständnis gegenüber den jüdischen Wurzeln bezeugten im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Theologen und Kirchenleute, nicht zuletzt jene, die sich unter Hitler zur "Entjudung des Christentums" hinreißen ließen.
Unweigerlich drängt sich die Frage auf: Welchen Anteil hat der christliche Antijudaismus am Holocaust? Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches haben Theologen immer wieder darauf hingewiesen, dass nicht christlicher oder gar katholischer Antisemitismus die Juden in die Vernichtungslager getrieben habe, sondern der Rassenwahn eines verbrecherischen antikirchlichen und antichristlichen Regimes, und dass infolgedessen der millionenfache Mord an den Juden ein Werk der Antichristen gewesen sei. Nur wenige Autoren,wie Friedrich Heer, der anglikanische Geistliche und Historiker James Parkes und die katholischen Theologen Thomas und Gertrude Sartory, vertraten schon früh die Meinung,zum Missfallen etlicher Theologen, dass der bald zweitausendjährige Antijudaismus "eine Geschichte von Blut und Tränen" war, die ohne Zäsur bis in die Öfen von Auschwitz" führte.
Man mag darüber streiten, ob es tatsächlich "ohne das Christentum keinen Holocaust gegeben" hätte, doch so viel steht fest: seine stärkste Kraft bezog der moderne Antisemitismus aus der christlichen Wurzel. Die Nazitäter,die die Vernichtung der Juden betrieben, waren fast alle Christen oder hatten zumindest eine christliche Erziehung genossen. Selbst der Papst habe sich indirekt schuldig gemacht, schreibt der amerikanische aus Wien stammende jüdische Philosoph Leonhard H.Ehrlich, weil er sich nicht berechtigt gefühlt habe, durch eine Stellungnahme zur Ausrottung der Juden im Hitler-Reich,den einzelnen Gläubigen unter den Deutschen in Gewissenskonflikte zu stürzen. Stattdessen habe er es vorgezogen, angesichts des Bösen zu schweigen, obwohl bewusstes Verschweigen eine Bedingung für das Vergießen unschuldigen Blutes war. Vieles wäre gewiss anders gekommen,vermutet der Autor, wenn das kirchliche Christentum den Mut gehabt hätte,aus den Quellen des Christentums heraus Juden gegenüber christlich zu handeln. Leider habe sich die christliche Kirche bis zum Aufkommen des NS-Regimes nie veranlasst gesehen,die seit alters her tradierten und geltenden christlichen Einstellungen zum Judentum zu revidieren, "um so gegen die an sich nach-christlichen gesellschaftlichen und politischen Bewegungen,die auf ihre Weise und für ihre Zwecke mit dem Judenhass ernst zu machen gewillt waren, im Namen christlicher Gesinnung und Gesittung gewappnet zu sein."
Weder die Katholische noch die Evangelische Kirche sind dem Antisemitismus entschlossen entgegengetreten, im Gegenteil: Schon in der Weimarer Republik haben sie sein Feuer geschürt, den Nationalsozialismus vielfach als Bollwerk gegen den Kommunismus begrüßt und während des Dritten Reiches allenfalls daran gedacht, die Rechte der Kirche zu sichern,ohne sich um andere, etwa um Liberale,Sozialisten und Juden, zu kümmern. Als 938 die Synagogen brannten und die Shoah geschah, mitten in Europa, stellten sich die Kirchen blind und taub. Nur einzelne Christen haben ihr Leben gewagt. In Auschwitz ist, wie der jüdische Philosoph Emil Fackenheim einmal ganz richtig gesagt hat, das Christentum gestorben.
Man denke ferner an die Unzahl antijüdischer Bilder und Ansichten, die sich aus der christlichen Lehre heraus entwickelt haben und die mit dafür verantwortlich sind, dass während der Hitler-Zeit die christlichen Kirchen und ihre Gläubigen den bedrängten und verfolgten Juden kaum zu Hilfe kamen-nicht einmal der zum Christentum übergetretenen Philosophin und Karmelitin jüdischer Abstammung Edith Stein. Sie wurde zwar im Mai 1987 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen. Zu einer Aussöhnung zwischen Juden und Christen ist es freilich damals nicht gekommen, weil wieder einmal das Eingeständnis christlicher Schuld unterblieb.
Natürlich kann man den Antisemitismus des 19.und 20. Jahrhunderts nicht mit der christlich gefärbten Judenfeindschaft des Mittelalters gleichsetzen. Dennoch sind die Unterschiede zwischen beiden Phänomenen keineswegs so groß, wie sie von kirchlichen Würdenträger gern hingestellt werden. Der Antijudaismus ist wohl eine religiöse Diffamierung,die ihre Argumente aus dem christlichen Glauben bezieht, der Antisemitismus dagegen eine abwegige Rassenlehre, die in tieferen Schichten verankert ist als die allgemein üblichen Vorurteile gegenüber Ausländern oder Menschen anderer Hautfarbe. Seine emotionale Kraft verdankt der Antisemitismus indessen eindeutig dem Antijudaismus. Beide haben ihre Anhänger,wenn auch mit unterschiedlicher Begründung, zu menschenverachtendem Verhalten und Handeln motiviert. Die einen sprachen vom geistigen Aussatz des verdorbenen Blutes, die anderen von der Nichtigkeit des von Gott verworfenen Volkes. Zudem ähnelt die antisemitische Gedankenwelt der Nazis, insbesondere ihre Hirngespinste vom Kampf der Lichtgestalten mit infernalischen Kreaturen der Finsternis, durchaus religiösen Terminologien und Denkschemata. Außerdem wurden fast alle antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten -Verbot von Mischehen, Ghettoisierung, Anzünden von Synagogen, Bücherverbrennung, Verfolgung, Vertreibung und Mord -von Christen erfunden und von ihnen, schon lange vor den Nazis, praktiziert. Während Gregor IX. 1239 den Talmud vernichten ließ, verlangte im selben Jahrhundert Papst Innozenz III. für Juden eine besondere Kleiderordnung. Eine Zeitlang mussten sie an ihrer Kleidung einen gelben Fleck tragen oder der Spitzhut war obligatorisch.
Nach dem Krieg setzte dann auch im Bereich der Kirchen die große Geschichtsverdrängung ein. Im Vatikan wurde zunächst lediglich der kirchliche Widerstand gewürdigt, über die Ermordung der Juden hingegen kein Wort verloren. Viel lieber verhalf man Nazitätern zur Flucht und betete weiterhin in den Kirchen, noch dreißig Jahre nach Auschwitz, für die"verräterischen Juden".
Erst Papst Johannes XXIII. sorgte für einen Wandel und brach mit den ersten Tabus, als er 1959 das von Papst Gelasius eingeführte berüchtigte Wort "Oremus et pro perfidis Judaeis" (lasset uns auch für die treulosen, unredlichen, ungläubigen Juden beten)aus der Karfreitagsliturgie streichen ließ und 1965 auf dem zweiten vatikanischen Konzil dafür sorgte, dass die Juden fortan nicht mehr für den Tod Jesu verantwortlich gemacht werden dürfen. Doch es sollten abermals zwanzig Jahre vergehen, ehe die Katholische Kirche neue sichtbare Schritte der Annäherung unternahm bis hin zur jetzigen Anerkennung Israels. .Zwischendurch allerdings konnte man am aufrichtigen Willen des Vatikans, sich mit Israel und den Juden zu versöhnen, durchaus irre werden. Man erinnere sich nur an die Papstaudienzen für den früheren österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim und für PLO-Chef Jassir Arafat, als dieser noch ein erklärter Feind Israels war, sowie an das päpstliche Schweigen zu den Angriffen Saddam Husseins auf Israel, das sofort unliebsame Reminiszenzen weckte an das Verstummen Roms gegenüber dem nationalsozialistischen Massenmord.
Nun bleibt zu hoffen, dass auch dem Antijudaismus, den es in den christlichen Reihen immer noch gibt, allen Proklamationen und öffentlichen Bekundungen zum Trotz, ein Ende bereitet wird. Denn was zweitausend Jahre lang hochgezüchtet wurde, läßt sich so schnell nicht aus der Welt schaffen. Was in den letzten Jahren in den Studierstuben, am Katheder und durch das Lehramt entwickelt wurde, setzt sich in der Praxis, in den Gemeinden, auf der Kanzel und in den Schulen nur mühsam durch. Noch immer trüben antijüdische Ressentiments den christlichen Alltag, zumal der Einordnung des Judentums in eine christliche Eschatologie und der Judenmission an manchen Orten nach wie vor ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Offensichtlich hat sich ein Teil der Christen in der eigenen, von den offiziellen Kirchen nicht mehr vertretenen Theologie des Antijüdischen verfangen.
So ist in einzelnen dörflichen Gemeinden der Antijudaismus nach wie vor tief verwurzelt. Die Ritualmordlegende von Judenstern, die besagt, jüdische Kaufleute hätten ein "Knäblein zu Tode gemartert", hielt sich bis in die achtziger Jahre unseres Jahrhunderts mit Seligenverehrung und Prozessionen, an denen bis zu 30000 Pilger teilnahmen. Bis in die neunziger Jahre hinein fanden Wallfahrten zur"Deggendorfer Gnade" statt, in Erinnerung an einen angeblichen Hostienfrevel von Juden im 14.Jahrhundert. Erst vor wenigen Jahren wurde die Wallfahrten abgeschafft - gegen den heftigen Widerstand der Bevölkerung -,weil Wissenschaftler herausgefunden haben, dass all diese Beschuldigungen nichts anderes als Hirngespinste waren.
Auf Judenhass hat das Christentum bisher sein Selbstverständnis mit aufgebaut. Nun kommt es darauf, dass auch biedere Priester und schlichte Christen an der Basis lernen, sich in ihrem Christsein positiv zu definieren und dass sie anfangen, wie Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch der Großen Synagoge in Rom im April 1986 Juden als die bevorzugten, älteren Brüder der Christen anzuerkennen und zu bejahen. Nebenbei bemerkt: ein öffentliches Bekenntnis ihrer Schuld mit der Bitte um Vergebung stünde der Katholischen Kirche wohl an.
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