zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


Der Weg nach Auschwitz aus unterschiedlichen Perspektiven -Drei wichtige Neuerscheinungen zu diesem Thema-(1994)

Jean-Claude Pressac,

Die Krematorien von Auschwitz.

Die Technik des Massenmordes.

Piper Verlag,

München 1994;

210 Seiten, DM 38,--

Thomas Hofmann/Hanno Loewy/Harry Stein(Hrsg.)

Pogromnacht und Holocaust, Frankfurt, Weimar, Buchenwald...

Die schwierige Erinnerung an die Stationen der Vernichtung.

Böhlau Verlag,

Weimar, Köln, Wien 1994;

199 Seiten, DM

Deborah Dwork,

Kinder mit dem gelben Stern

Europa 1933-1945.

C.H.Beck Verlag, München 1994

390 Seiten, DM 58,--Obwohl der Holocaust in den letzten Jahrzehnten recht gut erforscht worden ist,so gibt es doch immer noch Aspekte,die, nach Meinung von Experten, einer genaueren Klärung bedürfen, etwa die Frage, wie die Vernichtungsmaschinerie im einzelnen organisiert war und technisch funktioniert hat oder die Überlegung,was die Novemberpogrome im Jahr 1938 vom späteren Genozid unterscheidet. Gravierender noch als diese beiden strittigen Punkte ist die Tatsache, dass Wissenschaftler,die die Hintergründe und Zusammenhänge des nationalsozialistischen Völkermords untersucht haben, bislang eine ganze Gruppe übersehen und ausgeklammert haben: die jüdischen Kinder im Dritten Reich. Ihr Schicksal blieb bis heute weitgehend unbeachtet. - Zu den hier kurz angedeuteten Themen erschienen drei wichtige Bücher.

Die Erwägung,ob es in Auschwitz und anderen nationalsozialistischen Lagern Massentötungen gegeben hat, beantwortet sich im Grunde genommen von selbst. Immerhin ist der Holocaust nicht nur das grausigste, sondern auch das am besten dokumentierte Tötungsgeschehen in der Menschheitsgeschichte. Zweifel an ihm sind indiskutabel und eigentlich nicht erlaubt. Zudem zeugen solche Bedenken nicht gerade von übergroßer Sensibilität gegenüber den Opfern. Doch leider sterben die Unbelehrbaren nicht aus. Insofern verdient die auf den ersten Blick makaber wirkende Studie des französischen Apothekers Jean-Claude Pressac über "Die Technik des Massenmordes"Beachtung. Ob aber jene,die Auschwitz leugnen, sich überhaupt in Pressacs minutiöse Beschreibungen der Vernichtungsanlagen vertiefen, geschweige denn sich vom Gegenteil ihrer eigenen irrigen Ansichten überzeugen lassen wollen, scheint fraglich.

Auch der Verfasser des Buches"Die Krematorien von Auschwitz" gehörte zum Umkreis jener, die den Holocaust nicht wahrhaben wollten. Als sich der französische Literaturwissenschaftler Robert Faurisson wegen Verbreitung der "Auschwitzlüge" vor Geÿricht verantworten musste, hat Pressac, der Faurisson nahestand, die Akten der Verteidigung gründlich studiert und ist dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass Faurissons Argumente nicht haltbar seien. Mehr als zehn Jahre ist Pressac in detektivischer Kleinarbeit der Geschichte der Vernichtungsmaschinerie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau nachgeÿgangen. Material hierzu war reichlich vorhanden. Aber erst nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation erhielt er Zugang zu den Moskauer Archiven, in denen die Unterlagen der ehemaligen SS-Bauleitung von Auschwitz heute noch lagern.

Bei seinen Untersuchungen hat sich Pressac vor allem auf die technischen Details konzentriert. Er hat sich in die eiskalte, unmenschliche Logik der Vernichtungsmaschinerie so gut hineingedacht und das Ungeheuerliche, den technischen Erfindungsreichtum und die wirtschaftliche Leistungskraft,die für die industrielle Leichenproduktion und ihre spurlose Beseitigung aufgeboten wurden,so kühl, sachlich und akribisch penibel dokumentiert, dass man fast das Gefühl hat,das Funktionieren des verbrecherischen Apparates habe ihn mehr interessiert als das traurige, zum Himmel schreiende Los der Opfer.

Anhand von Bauplänen, Korrespondenzen, Kostenvoranschlägen, Gesprächsprotokollen, Zeichnungen und Skizzen erklärt Pressac, exakt und lückenlos,die Beheizungsarten der Öfen, wie viel Brennstoff pro Leiche benötigt wurde, wie die einzelnen Keller be- und entlüftet wurden, wie die Decke des Leichenraums beschaffen war, damit man das Zyklon B einstreuen konnte, und dergleichen mehr. Die Tötungen durch Giftgas begannen in Auschwitz wahrscheinlich im Dezember 1941, behauptet Pressac. Als im Sommer 1944 das Zyklon B knapp geworden sei, habe man die "Arbeitsunfähigen" aus den Transporten ohne weitere Umstände sofort lebendig in die brennenden Gruben gestoßen.

Historiker wie Raul Hilberg und andere zollen der Studie höchstes Lob, da sie dem Bild des Grauens noch schärfere Konturen verliehen habe und ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt sei für die künftige Holocaust-Forschung. Den einfachen Leser hingegen macht das Buch fassungslos, weil hier der Mensch,das Einzelschicksal, völlig aus dem Blickfeld gerät. Offensichtlich lag das in der Absicht des Autors. Er habe, so bekennt er in der Einleitung, bewusst auf mündliche oder schriftliche Augenzeugenberichte verzichtet,weil diese fehlbar seien und mit der Zeit immer ungenauer würden.

Sein Vorhaben,zu beweisen,dass das Fassungs- und Leiÿstungsverÿmögen der Gaskammern ausgereicht habe, um Millionen von Menschen zu ermorden, ist ihm vollauf gelungen. Aber hat es eines Beweises wirklich bedurft?

Der Weg von den Novemberpogromen 1938 bis zu den Gaskammern, erläutert Ulrich Herbert, Leiter der Hamburger Forschungsÿstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus, sei keineswegs automatisch verlaufen. Jedoch hätten die Exzesse des 9.November den Weg zur Massenvernichtung gebahnt. Dieter Schiefelbein schildert den Verlauf der Pogromnacht in Frankfurt und Harry Stein das Schicksal jüdiÿscher Häftlinge in Buchenwald von 1938 bis 1942 - beide aus der Sicht von Historikern,die das Dritte Reich selbst nicht miterlebt haben. Franz Ephraim Wagner gehörte dagegen zu den mehr als 2600 jüdischen Bürgern, die 1938 von Frankfurt nach Buchenwald verschleppt wurden. Er erzählt, wie er als Neunzehnjähriger im Lager Zeuge vieler Gewalttaten wurde.

Auch im Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar kamen im Dritten Reich viele tausend Menschen ums Leben. Was hier geschah, gehört zur Vorgeschichte der fabrikmäßigen Massenvernichtung in Auschwitz. Mit der "Katastrophe vor der Katastrophe"(Dan Diner) befassten sich die Mitarbeiter der Gedenkstätte Buchenwald und des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts sowie eingeladene Referenten auf einer Tagung in Weimar und Buchenwald im November 1992. Die Ergebnisse ihres gemeinsamen Nachdenkens liegen jetzt gedruckt vor.

Weimar und Buchenwald - nie hat es in der Geschichte dieser Stadt wohl einen schlimmeren Widerspruch gegeben. Oben auf dem Berg herrschten Mord und Totschlag, schreibt der Marburger Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott,unten ging man nach Feierabend ins Nationaltheater. Der Selektionsarzt Friedrich Mennecke brachte beides mühelos zusammen. "Die doppelte Patenschaft Goethes und Hitlers"-aus heutiger Sicht Sinnbild deutscher Geschichte und vielleicht auch deutscher Mentalität - war dem SS-Arzt "für seine Arbeit keine Frage".

Wie aber gingen wir Deutsche, nachdem das Dritte Reich zerschlagen war, mit der schlimmen Vergangenheit um? In der DDR galt der Faschismus vierzig Jahre lang lediglich als eine Diktatur von Kapital, Militär, Konzernherrn und "Junkern". Die Mitschuld des Volkes an der braunen Herrschaft wurde ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie die antisemitische Vernichtungspolitik der Nazis. Lange blieb auch in Westdeutschland das Erinnern die selbstgestellte Aufgabe einer moralischen Minderheit. Mit welcher Halbherzigkeit und Blindheit hier zuweilen mit der Erinnerung an die NS-Zeit umgegangen wurde, auch das machen die Beiträge deutlich.

Der Ostberliner Historiker Olaf Groehler beschäftigt sich mit der Wahrnehmung der "Reichskristallnacht" in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft.(Unerklärlich warum die Autoren auf den fatalen Ausdruck nicht gänzlich verzichtet haben, mitunter fehlen sogar die Anführungsstriche.)

Groehlers Beitrag liest man mit zwiespältigen Gefühlen. Obgleich der Verfasser die Geschichte der DDR nicht unkritisch betrachtet, so ist er doch zuweilen der Versuchung erlegen, ihren Verlauf, insbesondere die Lage der Juden im östlichen Teil Deutschlands etwas schönfärberisch darzustellen. Ob "der Umgang mit der 'jüdischen' Frage dort tatsächlich eine größere Rolle" spielte als vielfach angenommen, weil die meisten Diskussionen eher verdeckt als öffentlich ausgetragen worden seien, wie Groehler behauptet, sei dahingestellt. Natürlich hat er recht,wenn er schreibt, dass viele Juden in der DDR hohe Staatsämter bekleidet haben, mehr als je zuvor in einem deutschen Staat, doch vergisst er zu erwähnen, dass es nicht opportun war, wenn diese ihr Jüdischsein hervorkehrten und dass zu Anfang der fünfziger Jahre der Staatssicherheitsdienst jüdische Parteimitglieder grundlos bespitzeln und verhaften ließ. Verschwiegen wird ferner die antizionistische und antiisraelische Haltung der DDR-Regierung, mit der sie gleichzeitig die eigenen Juden in Schach zu halten versuchte. Und wenn Groehler meint, dass kein anderer deutscher Staat anlässlich des 50.Jahrestages der Reichspoÿgromnacht 1988 die Öffentlichkeit derart moÿbilisiert habe wie die DDR, so muss er sich entgegenhalten lassen, dass er offensichtlich nicht weiß, was sich in jenem Jahr zum selben Gedenktag in der Bundesrepublik abgespielt hat an Veranstaltungen, Seminaren und Ausstellungen, von der Fülle der Publikationen zum 9.November 1938 ganz zu schweigen.

Ein noch schmerzlicheres Thema als die Verfolgung und Ermordung von Erwachsenen durch die Nazis ist das Los jüdischer Kinder unter dem Hakenkreuz. Dieses Kapitel hat nun die amerikanische Historikerin Deborah Dwork, Professorin für Geschichte am Child Study Center der Yale University, intensiv erforscht. Mehr als zehn Jahre lang hat sie Überlebende in ganz Europa und Nordamerika aufgespürt und Interviews mit ihnen geführt. Zugute kam ihr auch, dass einige Kinder ihre Beobachtungen in Tagebüchern und Zeichnungen festgehalten haben. Sie hat außerdem reichhaltiges Quellenmaterial aus den Archiven sorgfältig ausgewertet und so Oral History und wissenschaftliche Methoden geschickt miteinander verbunden.

Dworks Band vermittelt einen nachhaltigen Einblick in die unterschiedlichen Erfahrungen jüdischer Kinder während der Nazizeit. Er zeigt,wie die Welt kindlicher Zufriedenheit und Ahnungslosigkeit brutal zerstört wurde. Viele Kinder-die einen wuchsen in Berlin,die ÿanÿdeÿren in Amsterdam,in der Ukraine, in Rumänien oder anderswo auf - verstanden zunächst gar nicht, warum sie plötzlich nicht mehr zur Schule gehen durften,und später,warum sie sich verstecken mussten, oft bei Leuten, die sie merken ließen, dass sie unerwünscht waren. Manche wurden wie Anne Frank verraten und deportiert. Einige fanden auch Pflegeeltern, von denen sie aufrichtig geliebt wurden. In dem Zusammenhang erinnert die Verfasserin an die viel zu wenig beachteten Menschen und Organisationen,die es in jedem europäischen Land gab, die jüdische Kinder zu retten versuchten. Besonders schlimm erging es Kindern, die in Ghettos oder in Durchgangs-, Arbeits- und Vernichtungslagern untergebracht waren. Sie hatten kaum eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Etwa neunzig Prozent der Menschen, die hier vorgestellt werden, fanden den Tod.

Der Leser wird mit erschütternden Bildern und Geschichten konfrontiert, die ihn noch lange verfolgen, nachdem er das Buch aus der Hand gelegt hat. Die einen offenbaren die Bruÿtalität des Menschen, andere wiederum sind ein Zeugnis dafür, wie selbstlos und barmherzig manche selbst unter unmenschlichen Verhältnissen waren.

Deborah Dworks Studie - sie ist die derzeit umfassendste über die Lebensbedingungen jüdischer Kinder in der Hitler- Zeit - ergänzt die Geschichte des Holocaust um ein wesentliches Kapitel. An ihrer Publikation kommt keiner vorbei, der genau wissen will, was im Dritten Reich geschah und zu welchen Verbrechen Deutsche fähig waren. Sie ist gut geschrieben, reich dokumentiert,sauber und gründlich recherchiert und macht eindringlich klar, warum uns die Ereignisse vor über ÿfünfzig Jahren auch heute noch nicht zur Ruhe kommen lassen dürfen.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis