Inhaltsverzeichnis |
Die Auseinandersetzung mit dem Judentum hält an
Ein weiterer Beleg für die anhaltende, wenn auch immer wieder von längeren Pausen unterbrochene Beschäftigung mit der jüdischen Religion ist eine Notiz aus dem Tagebuch unter dem 6.November 1915: "In der Alt-Neu-Synagoge beim Mischna-Vortrag. Mit Dr.Jeiteles nach Hause. Großes Interesse an einzelnen Streitfragen." Dr.Jeiteles war - wie aus den Anmerkungen Brods hervorgeht, "Talmudgelehrter aus der frommen Familie Lieben in Prag".
Im Sommer 1923 wohnte der schon schwerkranke Kafka im Müritzer Ostseeband zufällig neben der Ferienkolonie des Jüdischen Volksheims und gab sich mit den "vielen Hebräisch-Sprechenden, gesunden, fröhlichen Kindern" ab, zwar "nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks".
Einmal bemerkte er in der Küche des Heims ein Mädchen. Dieses war damit beschäftigt, Fische abzuschuppen. "So zarte Hände und solch eine blutige Arbeit!", sagte er missbilligend. Das Mädchen schämte sich und ließ sich eine andere Arbeit zuweisen. Das war der Beginn seiner Bekanntschaft mit Dora Diamant, seiner Lebensgefährtin" des letzten Lebensjahres, die als junge Frau aus ihrer orthodox-chassidischen Familie von Polen nach Deutschland geflüchtet war. Ihre chassidische Erziehung und ihr natürliches, naives, hilfsbereites Wesen hatten den Dichter gleichermaßen angezogen. Sie mieteten eine Wohnung in Berlin-Steglitz. In jener Zeit soll Kafka, nach Aussagen seiner Biographen, sehr glücklich gewesen sein. Zudem wurde seine Hinwendung zum Judentum durch Dora Diamant tatkräftig unterstützt. Immerhin war sie, nach Aussage von Brod, eine vorzügliche Hebraistin. Mit ihr gemeinsam vertiefte Kafka seine jiddischen und hebräischen Sprachkenntnisse. Das belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass er mit ihr Josef Chaim Brenners Epoche machendes Werk "Sterben und Scheitern" (1920) gelesen hat.
Außerdem besuchte Kafka die Berliner "Hochschule für das Judentum" und beschäftigte sich weiter intensiv mit dem Judentum. Auch dachten beide daran, nach Palästina auszuwandern. "Ich träume davon", vertraute Kafka seinem Gesprächspartner Gustav Janouch an, "dass ich als Landarbeiter oder Handwerker nach Palästina gehe." Max Brod berichtet ebenfalls, dass Kafka mit ihm sehr oft darüber gesprochen habe, dass er nach Erez-Israel auswandern und dort als einfacher Handwerker leben wolle. Dann wieder spricht Kafka davon, ein kleines Restaurant in Tel Aviv zu führen mit Debora Diamant als Köchin und ihm selbst als Kellner - "ein perfektes Szenario für eine Chaplin-Komödie", meint sein Biograph Ernest Pawel. Doch die geplante Reise kam nie zustande, nicht zuletzt deshalb, weil Kafka seit 1917 krank war.
Je älter Kafka wurde, desto mehr hat er sich mit der Geschichte seines Volkes befasst. Das beweist die späte Legende "Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse", einer tiefsinnigen Parabel über ein Volk, das einmal zu singen verstand und noch Lieder bewahrte, die niemand mehr begriff. Hier präsentiert sich ein Motiv, das Kafka Zeit seines Lebens stets beschäftigt hat - das (von Felix Weltsch zitierte) Juden-Thema der vergessenen Überlieferung.
uhomann@UrsulaHomann.de | Impressum Inhaltsverzeichnis |