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Brief an den Vater

Zwischen dem "Brief an den Vater", in dem Kafka über seine Prager Kindheit schreibt und sich über seine mangelnde religiöse Erziehung und jüdische Bildung beklagt ("in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen") und dem Besuch von Vorträgen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin 1924 lag nicht nur ein erster Schritt zu einem objektiven Verhältnis zum Judentum, sondern auch eine äußerst schmerzhafte Abkehr von seiner Prager Herkunft.

Im "Brief an den Vater" setzt sich Kafka ausführlich und heftig mit dem ungeliebten, jedoch respektierten und gefürchteten Patriarchen und dessen oberflächlicher Beziehung zum Judentum auseinander. Er wirft dem Vater seine mangelnde jüdische Bildung vor und schreibt in diesem Sinne auch im Oktavheft H: "Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantel noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang."

"Die einschlägige Passage im 'Brief an den Vater' markiert eine Position im Niemandsland, aus der heraus die Tradition gewiss nicht mehr fraglos die Lebens- und Denkweise prägt, aber deshalb, als problematisch gewordene, eine Bedeutung für Kafkas Schriftstellertum in seiner geschichtlichen Situation gewinnen mag, die im gegebenen Fall nicht hoch genug eingeschätzt werden kann" (Beda Allemann).

Der "Brief an den Vater" zeigt Kafka in der Attitüde eines enttäuschten Israeliten, der seinem Vater Lässigkeit im Glauben, mangelnde religiöse Erziehung seiner Kinder und gähnenden Gehorsam gegenüber den Geboten vorwirft: "Was war das für ein Judentum, das ich von Dir bekam! Du gingst an vier Tagen im Jahr in den Tempel, warst dort den Gleichgültigen zumindest näher als jenen, die es ernst nahmen, erledigst ruhig die Gebete als Formalist, setztest mich manchmal in Erstaunen, dass Du mir im Gebetbuch die Stelle zeigen konntest, die gerade rezitiert wurde, im übrigen durfte ich, wenn ich nur (das war die Hauptsache) im Tempel war, mich herumdrücken, wo ich wollte."

Dieser Briefe bezeugt nicht, wie man bisweilen geglaubt hat, Kafkas religiöse Indifferenz - er gleicht im Gegenteil, dem Aufschrei eines Dürstigen, der Zeit seines Lebens nach frischem Wasser verlangte und stattdessen abgestandenes, verdorbenes zu trinken bekam. Dem Sohn erscheint das Synagogen-Zeremoniell, losgelöst von allem dinglich-sichtbaren Bezug, als verleiblichte Langeweile. Wie ein böser Türhüter verstellte der Vater, für Kafka die Verkörperung eines um jeden Preis nach Assimilation in Sitte, Praktik und Verkehr strebenden Provinz-Israeliten, "dem Sohn den Ausblick auf das Gesetz." Neuerwerbung, nicht selbstverständlicher Besitz lautet das Stichwort, unter dem man Kafkas Verhältnis zum Judentum nachforschen muss. Der Brief ist, befindet Klaus Wagenbach, "das schmerzlichste und undurchsichtigste autobiographische Dokument Kafkas", das triste Zeugnis eines, der das Fürchten, aber nicht das Lieben gelernt hat. Denn gerade in seinen frühen Jahren musste Kafka die Liebe der Nächsten entbehren, eine Liebe, die dem Kind gerecht wird, die seine Sprache spricht und es versteht, die es bedingungslos bejaht und "gehen lässt".

Kafka vermochte, sich vom Joch der väterlichen Autorität nicht zu befreien. Auch wenn er ganz klar erkennt und dem Vater vorwirft: "Du konntest z.B.auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden, und zwar nicht nur in Auswahl, sondern in jeder Hinsicht und schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist."

Der eigene Vater, der Kafkas Schicksal als Jude und Außenseiter festlegte und der göttliche Weltenvater, der das jüdische Volk zum Exil bestimmte, waren in Kafkas Augen identisch. Verlangte er doch, dass beide gerecht handelten, dass sein Leiden sinnvoll sei und seine Seele, die keine Sünde begangen hat, Gerechtigkeit empfange. Aber dieses Verlangen bleibt unerfüllt, und so rennen Kafkas Helden mit dem Kopf gegen die Wand und werden im Kampf zermalmt.

Kafkas kristallklare Darstellungen im ganzen völlig unklarer Beziehungen hat in seiner Beziehung zum Vater ihren Grund sowie die Beschreibung der Ohnmacht des Opfers vor einer rätselhaften Macht. Denn um beziehungslose Beziehungen geht es immer wieder in seinen Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten; am vielschichtigsten und verworrensten vorgeführt im "Schloss", am klarsten und unerbittlichsten in den Parabeln wie "Vor dem Gesetz" und "Eine kaiserliche Botschaft".

Nebenbei bemerkt: Kafkas unverständiger Erzeuger Hermann dürfte zu den am übelsten beleumundeten Vätern der Literaturgeschichte gehören. Als in den 70er Jahren ein allseitiger Psychologismus herrschte, hat man auch Kafkas Brief an den Vater eingehend studiert.

Kafka reagierte übrigens auf den Druck des Vaters mit einer immer engeren Bindung an Max Brod, den sein Vater einen "meschuggenen Ritoch" nannte, einen "verrückten Querkopf".


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