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Kafkas jüdische Seite sollte man nicht missachten
Das Werk Kafkas hat vielfältige Deutungen erfahren. Dem einen ist Kafka ein Theologe im Gewande des Schriftstellers, dem anderen der Dichter des Nihilismus und einer "Gott-ist-tot"-Theologie oder der Poet einer metaphysisch-mythologischen Tradition. Eine katholische Deutung besagt: "Kafkas Welt ist die der Vorhölle."
Die Kafka-Interpreten wissen zwar, dass Kafka Jude war, sind sich aber oft der Tragweite dieses Jude-Seins für Leben und Werk des Dichters nicht bewusst gewesen. Manche halten es für einen eher ephemeren Punkt. Dabei bezeichnet genau dieser Punkt das Zentrum der Existenz Kafkas und seines Werkes.
Nicht wenige Literaturwissenschaftler identifizieren in seinem Werk vielfach Reste der antiken Mythologie oder des christlichen Glaubens, Zitate der Weltliteratur, nicht aber Fragmente der jüdischen Gedankenwelt oder Hinweise auf jüdische Quellen, weil sie diese Quellen nicht kennen. Und warum nicht? Weil die über tausend Jahre alte jüdische Tradition in Europa die Kultur einer unterdrückten und von der Mehrheit verachteten Minderheit war und weil sie sich heute nach der Ausrottung eines großen Teils des europäischen Judentums dem Erfahrungskreis der westlichen Kultur fast völlig entzogen hat. Was man nicht kennt, erkennt man nicht. Wenn man aber die Tradition des Judentums nicht kennt, kann man die Verarbeitung dieser Tradition im Werk Kafkas auch nicht erkennen.
Lange wurde der jüdische Aspekt in Kafkas Werken vor allem deshalb vernachlässigt, weil Kafka als deutschsprachiger Autor meistens von Germanisten interpretiert wurden und seine nichtjüdischen Interpreten die Anspielungen auf jüdische Hintergründe leicht übersahen, zumal keine der Figuren in Kafkas Werken direkt als Jude auftritt.
Neuerdings werden die jüdischen Aspekte von Kafkas Leben und Werk stärker beachtet: Der Widerstreit von Westjudentum gegen Ostjudentum und jiddische Literatur, Zionismus, Vaterkomplex, Gesetzlichkeit und Verschuldung treten dabei in den Blick.
Tatsächlich entstammt vieles in Kafkas Büchern der jüdischen Tradition, die berühmte Türhüterparabel beispielsweise basiert auf der kabbalistischen Tradition, und wenn Kafka vom Gesetz spricht, dann meint er meistens die Torah. Auch seine schlichte, eindringliche, vokabelarme Sprache erinnert an die großen hebräischen Texte.
Kafka ist in vielerlei Hinsicht jüdischer als manche Leser glauben und als er selber glaubte. Kafka war ein Kind seiner Zeit, der Vertreter einer modernen, aber schwer verständlichen, einer aufgeklärten, aber unübersichtlichen Welt, hierfür gebrauchte er jüdische Vorstellungen.
Walter Benjamin, wohl der erste, der in der Prosa Kafkas das unmittelbare Echo der Thora und des Talmuds erkannte, schrieb 1939: "Ich denke mir, dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne." Gershom Scholem wiederum deutete Kafkas Werk als "Theologia negativa eines Judentums", dem "die Offenbarung als ein Positivum abhanden gekommen ist." In den Schriften Kafkas seien zwar die mystischen Antriebe gleichsam auf den Nullpunkt angelangt, der Schlüssel zur mystischen Exegese sei verloren gegangen, aber der unendliche Antrieb, ihn zu suchen, sei geblieben, und somit gehöre letzten Endes auch die Kafkasche Welt in die Genalogie der jüdischen Mystik hinein.
Karl Erich Grözinger hat in den Schriften Kafkas Beziehungen zum kabbalistischen Denken ebenfalls ausfindig gemacht. Allerdings habe Kafka, meint Grözinger, die jüdisch-kabbalistische Weltsicht nicht einfach nachgezeichnet, sondern kreativ mit neuen, modernen Gedanken verbunden,
Ein Nichtwahrnehmen von Kafkas jüdischen Wurzeln läuft folglich Gefahr, sein Werk misszuverstehen. Aber mit dem Nachweis jüdischer Traditionen und Denkstrukturen bei Kafka sollte man auch nicht ins andere Extrem fallen und ihn ausschließlich dieser Tradition zuordnen.
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