zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


Kafkas Romane und Erzählungen

Wenden wir uns nun Kafkas Werken zu, seinen Erzählungen und Romanen. Ihre Sprache ist einfach, unverziert, klar, etwas kalt, bilderarm und gleichwohl von höchster Anschaulichkeit und Eindringlichkeit. Sie bewegen sich in einer seltsamen Spannung zwischen phantastischer Erfindung und konkreter, kühler Beschreibung, zwischen einer klaren, wörtlich-realistischen, sozusagen kleistischer Sprache, in der erzählt wird, und dem seltsamen, phantastischen, irrealen Erzählten. Darin liegt eine große Herausforderung für Interpreten und einer der Gründe, warum Kafka der wohl am meisten interpretierte Autor der Weltliteratur ist.

Kafka liebte keine gedanklichen Formulierungen, am wenigsten theologische, er dachte bildhaft und gestaltete dementsprechend. Seine plastische Darstellungskraft zeigt sich eben darin, dass er einer anderen, traumhaften und ungegenständlichen Welt drohende Realität zu geben vermochte. Er war weder ein philosophischer noch ein theologischer Denker, sondern ein Dichter, der Künder der in dieser Zeitenwende ins Unheils verkehrten Heilsgeschichte. Wurzellosigkeit und Entfremdung des Individiums, Einsamkeit und Isolation als Folge einer konkreten gesellschaftlichen Realität dominieren in seiner Prosa.

Offenbar hat er ein doppeltes Leben gelebt, im alltäglichen Leben ist er ein überzeugter Jude gewesen, der dem Amschel in ihm entsprechend lebte. Dagegen hat er in seinen Werken die Welt seiner Vorfahren total unterdrückt. In einer Zeit, als Dichter wie Jakob Wassermann, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und andere, die weit weniger bewusste Juden waren, sogenannte "jüdische" Bücher schrieben (Wassermann, "Die Juden von Zirndorf", Schnitzler, "Der Weg ins Freie", Zweig "Jeremias") bleibt Kafkas Werk beinahe frei von jüdischen Gestalten und offenen jüdischen Bezügen.

In seinen Romanen und Erzählungen kommt zwar das Wort 'Jude' überhaupt nicht vor. Dennoch ist von nichts anderem die Rede. Immer wieder wird das Leiden der Juden dargestellt.

K.'s Fremdheitsgefühl im "Schloss" ist beispielsweise, laut Max Brod, "das besondere Gefühl des Juden, der sich in einer fremden Umgebung einwurzeln möchte, der aus allen Kräften seiner Seele danach strebt, den Fremden sich anzunähern, gänzlich ihresgleichen zu werden - und dem diese Verschmelzung doch nicht gelingt." Er bleibt ein Fremder, der gerade noch geduldet wird. Der Vorwurf der Wirtin: "Sie kommen hierher, kritisieren alles und wollen es besser wissen als wir, die wir hier schon lange Jahre die Verhältnisse kennen. Sie maßen sich an mehr zu wissen und mehr zu sein", ist gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Wirtsvölker gegenüber Juden.

Für Imre Kertész ist "das Schloss" ein genauer Befund des osteuropäischen Lebens, das Bild einer Welt der Knechtschaft, die auf allgemeiner Übereinkunft basiert. Im "Prozess" wacht jemand frühmorgens auf und findet sich angeklagt und verhaftet und weiß nicht, warum. Auch das ist die Situation von Juden schlechthin.

Im "Bericht für eine Akademie" geht es um einen im Urwald eingefangenen Affen. Dieser erwirbt die Eigenschaften des Menschen und wird so zu einem Mitglied der menschlichen Gesellschaft, bleibt aber Außenseiter. Die Geschichte verdeutlicht mit ihrer Analogie zum Bild des Ostjuden den von Buber und anderen Westjuden verdrängten Konflikt, der, nach Meinung von Kafka, immer dann entsteht, wenn Juden in einer als fremd betrachteten Sprache, nämlich in Deutsch, authentisch über jüdische Belange schreiben.

In seiner Erzählung "Vor dem Gesetz" verkehrt sich die Glaubensgewissheit in ihr Gegenteil: die Türen zum Gesetz sind verschlossen, Lebensregeln sind unbekannt. Schmutz und Sünde überall, kein Gott weit und breit. Die Menschen verharren in Finsternis und Unwissenheit. Kafkas Erzählungen haben oft verschiedene Mythen zum Thema wie "Poseidon". Die Erzählung "Hochzeitsvorbereitungen" wiederum ist ein Zeugnis von der Urkraft messianischer Erwartung. Durch eine Neudeutung rückt Kafka in "Das Stadtwappen" die biblische Erzählung von der Sprachverwirrung in eine problematische Perspektive. Auch diese Sprachauffassung wurzelt in der jüdischen Tradition, vor allem in der rabbinischen und in der mystischen. Doch steht Kafka nicht mehr in der Glaubensgewissheit der Mystiker, sondern am "Nullpunkt", wie Scholem sagt.

Kafka hat die jüdischen Probleme besonders stark empfunden. Immerhin gehörte er in doppelter Hinsicht einer Minderheit an: der deutschsprachigen Minderheit in Prag und innerhalb der deutschsprachigen Minderheit der jüdischen Minderheit.

Ähnlich äußerte sich Marcel Reich-Ranicki in seinem Büchlein "Ruhestörer": "Die durch die jüdische Herkunft bedingte Außenseiterposition und Abwehrhaltung trieben Kafka in Einsamkeit und Trauer. Erst als sich die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft weitgehend verändert hatte, Jahrzehnte nach Kafkas Tod, vermochte man zu erkennen, dass er mit seinen Werken der Epoche vorausgeeilt war. Die in einer spezifischen Prager Konstellation erzählten und zunächst nur auf diese Konstellation zu beziehenden Geschichten vom Schicksal der Ausgestoßenen und Angeklagten erwiesen sich als klassische Parabeln von der Heimatlosigkeit und Entfremdung." Mit anderen Worten: Die von Kafka dargestellte Tragödie der Juden wurde von späteren Lesern als Extrembeispiel der menschlichen Existenz verstanden. Kafka wurde eine zentrale und repräsentative Figur der deutschen und der europäischen Literatur, weil er ein Außenseiter war.

Kafka zeigt die Situation des Juden in der nichtjüdischen Gesellschaft von Prag, und das hat außer den Prager Juden zunächst niemand sonderlich interessiert. Dreißig Jahre später jedoch wurde sein Werk zum Welterfolg, weil sich herausstellte, dass es etwas verdeutlichte, was der Schriftsteller vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte: die Situation des Menschen in der modernen Welt.

Die jüdische Situation war oft die eines Menschen, der unschuldig verurteilt wird, der ohne Grund verfolgt wird und ohne ordentlichen Prozess schuldig gesprochen wird, aber dies ist zugleich auch ein extremer Ausdruck der allgemein menschlichen Situation, wie der moderne Mensch sie häufig erfährt.

"Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird" (Scholem). Das Negative seiner Zeit hat er aufgenommen. "Es ist uns auferlegt", meinte Franz Kafka, "das Negative zu vollbringen, das Positive ist schon gegeben."Kafka versuchte, das Nicht-Mitteilbare mitzuteilen, wobei er die Sprache durchaus bewusst einsetzte. Bei ihm ist das Göttliche in der Welt nicht zu erkennen. Die einzelnen Stufen der Hierarchie des Gerichts in seinem Roman "Der Prozess", die Säle in der Erzählung "Vor dem Gesetz", die Höfe in "Eine kaiserliche Botschaft" bezeichnen nur die Abwesenheit Gottes, die riesige Entfernung, den endlosen Weg.

"Das Gesetz" oder "Das Gericht" sind vergebliche Versuche der menschlichen Intelligenz, der Verzweiflung wenn nicht Herr zu werden, so doch ihr einen Sinn abzutasten. Kafka hat das Nichts gefunden als Bedingung und Voraussetzung des Lebens und die Verzweiflung darüber als einzigen Grund menschlicher Größe. Franz Blei nennt Kafka einen "Gottesknecht eines ungeglaubten Gottes".

Wir sind, sagte Kafka, Brod zufolge, in einem Gespräch im Februar 1920, "nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen." - Wir sind nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag. Brod fragte: "So gäbe es außerhalb unserer Welt Hoffnung?" Kafka lächelte: "Viel Hoffnung - für Gott - unendlich viel Hoffnung -, nur nicht für uns."

Auf Kafkas Bemerkung: "Wir sind nihilistische Gedanken, die Gott in den Sinn gekommen sind", erläuterte Brod seinem Freund die gnostische Vorstellung, dass der Demiurg diese Welt sündig und böse gemacht habe. "Nein", erwiderte Kafka, "ich glaube nicht, dass wir solch ein radikaler Abfall von Gott sind, nur eine von seinen schlimmen Launen. Er hatte einen schlechten Tag."

Im Kerngedanken des Judentums, in der messianischen Erwartung, ist Kafka ohne Einschränkung gläubiger Jude. Er sieht die Welt unerlöst und keinerlei Möglichkeit zur Erlösung, bis der Messias kommen wird. Den Glauben an den Messias hat er auf seine individuelle Weise modifiziert. Die Welt befindet sich für ihn in weit größerer Finsternis als für die Rabbiner. Die Texte Kafkas vermitteln eine Ahnung davon, dass die Ankunft des Messianischen unvorstellbar oder nicht wahrnehmbar geworden ist. Kafkas Texte machen klar, dass wir keinen sicheren Boden unter den Füßen haben, dass wir uns auf nichts verlassen können, dass wir mit dem Einbruch des Dunklen, des Unheimlichen rechnen müssen, dass es Augenblicke gibt, in denen wir Objekt werden, in denen wir unsere Verantwortung nicht wahrnehmen können.

"Die Darstellung seiner gottverlassenen, ins Nichts gesunkenen Welt in ihrer ganzen qualvollen und düsteren Wahrheit ist in ihrem Grunde nichts anderes als die Darstellung seiner messianischen Sehnsucht", behauptet Margarete Susman und schreibt Kafka 1921: "Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein."

Dem materialistisch-messianischen Geschichtsverständnis konträr ist das Vergessen. Wenn in Kafkas "Der Prozess", so führt Benjamin aus, andere Romanfiguren K.etwas mitteilen, dann zumeist so, als ob es sich um Neues handle, als ergehe nur unauffällig an den Helden die Aufforderung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. Und Benjamin zitiert die Interpretation von Willy Haas, die besagt, dass der Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held .. das Vergessen sei. Das Vergessen nun wiederum steht in einer Beziehung zur Hoffnung und zur Erlösung, wenngleich in einer spiegelverkehrten.

Benjamin fragt, wie man sich im Sinne Kafkas die Projektion des Jüngsten Gerichts in den Weltlauf wohl zu denken habe. "Macht diese Projektion aus dem Richter den Angeklagten? Aus dem Verfahren die Strafe? Ist es der Hebung oder dem Verscharren des Gesetzes gewidmet? Auf diese Frage hat Kafka, so meine ich, keine Antworten gehabt." Kafka versucht, auf der Kehrseite des Nichts die Erlösung zu ertasten. Jede Art von Überwindung dieses Nichts wäre ihm, wie die theologischen Ausleger um Brod sie verstehen, ein Gräuel gewesen.

Umkehr und Studium sind nach Benjamin Kafkas messianische Kategorien. Der zentrale Punkt im Werk Kafkas ist die Erfahrung des notwendigen Scheiterns. Der Begriff der Gesetze hat bei Kafka einen scheinhaften Charakter und ist eigentlich eine Attrappe.

Am 14.April 1938 schreibt Benjamin, der in Kafka einen Gescheiterten sah und sich von ihm inspirieren ließ, er habe sich die Kafkasche Formulierung des kategorischen Imperativs zu eigen gemacht: "Handle so, dass die Engel zu tun bekommen." Bei Kafka findet man die Worte, die eigens für Benjamins bitteres Lebensende geschrieben sein könnten: "Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten." ("Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande".)

Kafka wusste um die Verlorenheit des Menschen und bestritt, dass es für den Menschen noch Hoffnung gibt. Kafkas Protagonisten, denen in einer grausamen und undurchschaubaren Umwelt keine Handlungsfreiheit gelassen ist, leiden unter ihrer existentiellen Schuld, ohne deren Ursache klar zu erfassen: "Die Schuld ist immer zweifellos." In der kristallklaren Sprache Kafkas enthüllt sich das labyrinthische Umherirren einer vergebens den Sinn und das Ziel ihres Daseins suchenden Menschheit.

Schloss und Prozess sind zwei Ausdrucksformen desselben Seins, die der Theologe "Gnade" und Gericht" zu nennen gewohnt ist. Der K.des Schlosses ringt um die Verbindung mit der Gnade der Gottheit. Dieses Ringen füllt sein ganzes Leben aus. Das "Gericht" macht dem Menschen den Prozess, das Schloss bringt die ewige Unruhe in sein Dasein. Der Mensch schreit in die Welt hinein um Hilfe. Aber es gibt keinen Widerhall, im Ernstfall keine Sicherheit und kein Geborgensein im Glauben, sondern nur einen alle Positionen erschütternden Zweifel. Dieser Zweifel geht nicht gegen die Existenz der himmlischen Ordnung selber, sondern gegen deren Zusammenhang mit dem irdischen Dasein. "Sinn ist da - nur nicht für uns", sagt Kafka.

Sein beiden großen Nachlassromane "Der Prozess" und "Das Schloss" sind Fragmente geblieben, weil sie in sich, ihrer inneren Gestalt nach, unvollendbar sind. In beiden Romanen ist das Gegenüber, von dem her das menschliche Leben zu richten und zu rechtfertigen wäre, durch die Lücke im Text, in der Unabschließbarkeit entschwunden.

Das Konzentrationslager ahnte Kafka in seiner skurril-dämonischen Novelle "in der Strafkolonie" voraus. George Steiner schreibt: "...die wichtigste Tatsache über Kafka ist, dass er von einer angstvollen Vorahnung besessen war, dass er ins kleinste Detail den sich zusammenbrauenden Schrecken sah. 'Der Prozess' stellt ein klassisches Modell eines Terrorstaates dar. Er präfiguriert den hinterhältigen Sadismus, die durch den Totalitarismus ins Privat- und Sexualleben eingeschlichene Hysterie, die geschichtslose Langeweile der Killer. Seit Kafka ist das nächtliche An-die Tür-Klopfen unzählige Male geschehen, und der Name jener, die wie ein Hund fortgeschleppt wurden, ist Legion. Kafka sagte die aktuellen Formen des Debakels des Humanismus westlicher Prägung voraus, das Nietzsche und Kierkegaard als eine unbestimmte Dunkelheit am Horizont erblickt haben."

Durch den Holocaust haben Kafkas Geschichten eine reale Bedeutung bekommen, die Geschichte hat ihren "Surrealismus" in "Naturalismus" verwandelt. Es ist beinahe so, als ob die Lücken in seinen Texten, die Brüche durch diese monströse Erfahrung gefüllt worden seien. Heute erkennen viele Kafkas Werke als prophetische Vorwegnahme geschichtlicher Ereignisse. Den Prozess oder in Kafkas Schreibweise "Proceß", geschrieben 1914, las man, vor allem unter Hitler und Stalin, als politische Parabel über Willkür und Terror. Die Opfer des Terrors lasen ihn als Trost. Die Täter hassten ihn.

Heute wissen wir, dass Kafka nicht nur die jüdische Situation zum Ausdruck gebracht, die oft die eines Menschen war, der unschuldig verurteilt, ohne Grund verfolgt und ohne ordentlichen Prozess schuldig gesprochen wurde, sondern zugleich auch ein extremer Ausdruck der allgemein menschlichen Situation, wie der Mensch sie heute häufig erfährt, der aus der Bahn geworfen wird, der merkt, dass er keinen sicheren Boden unter den Füßen hat, dass wir alle uns im Grunde auf nichts verlassen können und stets mit dem Einbruch des Dunklen und Unheimlichen rechnen müssen, dass es Augenblicke gibt, in denen wir Objekte werden und unsere Verantwortung nicht wahrnehmen können. Aber erst durch den Holocaust haben Kafkas Geschichten eine reale Bedeutung bekommen. Heute erkennen viele Kafkas Werke als prophetische Vorwegnahme geschichtlicher Ereignisse. Und so ist es wohl kein Wunder, dass Kafkas Werk erst dreißig Jahre nach seinem Tod - er starb am 3.6.1924 in Kierling bei Wien, - zum Welterfolg wurde, weil sich herausgestellt hat, dass Kafka nicht nur die Identitätskonflikte des aufgeklärten assimilierten Juden zur Sprache gebracht hat, sondern auch Krise und Orientierungslosigkeit des modernen Menschen.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis