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Geburtsstunde war die Erfahrung der Krise

Die Literatur des Expressionismus lässt sich als symbolischer Ausdruck kollektiver Krisenerfahrung lesen, die von den jungen Autoren des vorigen Jahrhunderts einerseits als Möglichkeit zur Befreiung von überalterten und nur noch zwanghaft aufrecht erhaltenen Orientierungsangeboten wahrgenommen, andererseits jedoch auch als Verlust begriffen wurden. Denn wenn man alles über Bord wirft, entstehen Leerstellen, die wieder gefüllt werden müssen.

Zudem litten die Schriftsteller und Dichter an ihrer metaphysischen Obdachlosigkeit. Sie hatten keinen Halt in einer transzendenten Welt. Sie fühlten sich wurzellos und suchten nach einer neuen Verankerung. Immerhin hatten vielfach die Kirchen in der Wilhelminischen Epoche durch ihre Anpassung an die damalige Obrigkeit und Oberflächlichkeit ihre Glaubwürdigkeit verloren. Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und sein Freund Franz Overbeck hatten diese Entwicklung frühzeitig erkannt und zur Sprache gebracht.

Die expressionistischen Schriftsteller verachteten die hinfällig gewordene traditionelle Ordnung in allen ihren Formen und fühlten sich mit einer oft geradezu ekstatisch-zarathustrischen Schau berufen, das Neue zu verkünden, den Menschen aufzurütteln und die Wirklichkeit zu verändern. Nietzsche, der 1900 gestorben war und dessen Philosophie erst nach seinem Tod ihre Wirkung entfaltete, hatte bei vielen Expressionisten Pate gestanden.

Im Grunde stellt der Expressionismus eine Reaktion der Seele dar gegen die materiellen Wirklichkeitsnachbildungen im Naturalismus und gegen die bloße Wiedergabe äußerer Eindrücke im Impressionismus. Man wollte tiefer schürfen. Die künstlerische Gestaltung erfolgte nun als rein geistiger Ausdruck innerlich geschauter Wahrheiten und seelischer Erlebnisse des Ichs unter freier Benutzung der äußeren Gegebenheiten wie Natur und Sprache. Man kehrte das Innerste nach außen. Die herkömmlichen ästhetischen Formen wurden durch Umkehr oder Aufhebung der Sprachlogik gesprengt. Das wiederum führte zu einem spielerischen Umgang mit der Sprache, einem für die damalige Zeit unerhörten Phänomen.

Kunst wurde dabei zum Agitationsmittel. Denn die Forderung nach ästhetischer Neuerung verband sich zugleich mit Gesellschaftskritik, politischen Ideen und utopischem Entwurf. Der Expressionismus war mithin alles andere als eine "l'art pour l'art"-Bewegung.

Man empörte sich über das Grauen der entseelten Welt. Man machte Front gegen eine "ungeistige" beziehungsweise avitale Wirklichkeit der zivilisatorischen Moderne, der Wissenschaft, der Technik und gegen das Phänomen der Masse, weil man fühlte, dass das Leben, die Seele oder das Gefühlsleben, menschliche Wärme und der Geist durch die zunehmende Vorherrschaft von Technik und Wissenschaft zu kurz kamen (Phänomene, an denen auch unsere Gegenwart leidet), und man wehrte sich dagegen mit allen Mitteln, vor allem mit den Mitteln der Kunst. Ernst Bloch schrieb in der zweiten Fassung von "Geist der Utopie"(1922) von der "technischen Kälte" .

Man protestierte, revoltierte, suchte nach neuen Werten und forderte einen neuen Menschen und ein neues Menschenideal. Der Expressionismus ist vielfach mit dem Schlagwort "O-Mensch-Pathos" charakterisiert und auch abgewertet worden. "Mensch" ist geradezu zu einem Schlüsselwort des Expressionismus geworden.

Die Forderung nach dem neuen Menschen kommt in vielen Titeln zum Ausdruck, wie "Der Mensch in der Mitte", "Menschheitsdämmerung" oder "Masse Mensch".

Das gesuchte und zugleich erlittene Außenseitertum vieler expressionistischer Autoren und ihrer literarischen Hauptfiguren ist eng verknüpft mit ihrer Antibürgerlichkeit. Der Bürger als solcher war damals die alles beherrschende Figur, und gegen die machte man Front. Die negative Darstellung der bürgerlichen Welt stand somit im Zentrum der Gesellschaftskritik, wobei sich die Schriftsteller nicht selten einer chiffrenhaft verknappten, "geballten" oder rhythmisch ausgreifenden Sprache bedienten, sowohl in der expressionistischen Prosa, als auch in der Lyrik und im symbolhaft gestaltetem Drama.


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