zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


Kindheit und Jugend

In Goethes Knabenzeit war die Begeisterung für die Griechen häufig größer als eine gründliche Vertrautheit mit ihrer Literatur und Kunst. Die Welt, in der Goethe groß wurde, seine Umgebung, wusste nichts von den Griechen, “aber sie war bereit, das Beste von ihnen zu glauben”, schreibt Humphry Trevelan in seiner Monographie ”Goethe und die Griechen”. Der Dichter hatte sozusagen eine angeborene oder unbewusst angenommene Sympathie für die Griechen.

Erst allmählich entdeckte man in Deutschland wieder die Bedeutung der griechischen Überlieferung für die westliche Kultur. In der Familie am Hirschgraben gab es keine Tradition des Interesses an griechischen Dingen. Goethes griechischer Sprachunterricht begann in seinem neunten Jahr. Mit zehn oder elf kannte er die griechische und lateinische Mythologie. Unter den Bildern des Vaters waren Szenen aus Ovid, die der ältere Tischbein gemalt hatte.

Die ersten Eindrücke von Griechenland wurden Wolfgang durch die alten Sagen vermittelt, die sich im Deutschland des 18.Jahrhunderts, wenn auch häufig in seltsamer Form, noch eines kräftigen Weiterlebens erfreuten. Wolfgangs Kenntnisse in alter Geschichte und Literatur blieben allerdings in den Jahren vor der französischen Besatzung Frankfurts (Januar 1759) neben der Mythologie gering. Wichtig war nur, dass sein Kopf schon die Fülle griechischer Götter und Helden beherbergte, und dass ihm Hellas eine mindestens ebenso reiche Grube der Phantasie bedeutete wie das alte Israel.

In "Dichtung und Wahrheit" erzählt der Dichter einiges über seine Studien und Fortschritte im Griechischen während seiner Kindheit und berichtet, dass er eher mit Hilfe des Ohres als durch grammatische Regeln gelernt habe.

Das erste Entzücken an der neuen Sprache (Wolfgang war ein lebendiger Schüler) ließen seine Lehrer verkümmern. Die herrliche Fülle griechischer Literatur, die ihn unter sicherer Leitung von Stufe zu Stufe bis zu hoher Vollendung hätte führen können, blieb ungenutzt. Er dachte sich seine eigenen Wege aus, um die Sprache in ein lebendiges Wesen zu verwandeln. Er verfasste einen Roman in Briefen: Sieben Geschwister sollten in verschiedenen Sprachen miteinander korrespondieren: in zwei stilistischen Varianten des Deutschen, in gutem Deutsch der älteste Bruder, einem "frauenzimmerlichen" Stil mit kurzen Sätzen die Schwester, dann in förmlichem Latein und mit griechischen Nachschriften ein Theologe, ein in Hamburg tätiger Handelsgehilfe in Englisch, ein Musiker in Italienisch, ein weiterer Bruder in Französisch, und schließlich der Jüngste, weil für ihn nichts übrig blieb, in "Judendeutsch". Mit den verschiedenen Sprachen hatte Goethe die einzelnen Personen typisieren wollen. Aber wie hier deutlich wird, war Griechisch offenbar noch ein Aschenbrödel unter den vielen Sprachen, die im Kopf des jungen Goethe gegeneinander stießen. Durch Dr. Albrecht, von dem er Hebräisch lernte, ist er vielleicht mit den Werken Lukians in Berührung gekommen, wahrscheinlich die einzige Gelegenheit zu jener Zeit, um Griechisch lesen zu können. Doch wirkten die Namen von Orpheus und Hesiod auf den jungen Goethe (um 1764) ebenso mächtig wie die von Hiob und Salomo.

Zu Orpheus fühlte er sich schon als Knabe hingezogen. Die Welt "als der Gottheit lebendiges Kleid" ist eine orphische Konzeption (Faust). Goethe verehrte ferner Sokrates am meisten von allen griechischen Philosophen und zwar nicht so sehr wegen seiner Lehre, sondern wegen seines christengleichen Lebens und edlen Todes. Die Haltung der Stoiker bewunderte er. Er las Epiktet, Plotin und den Neuplatonismus. Als er fünfzehn war, hatte er noch kein Werk der griechischen Literatur gelesen, abgesehen von der Ilias in einer schlechten deutschen Übersetzung.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis