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Goethe fand die Religion in der Natur

Goethe war weder ein Religionsverächter noch ein religiöser Mensch im konfessionellen Sinn. In einem Brief an Sulpiz Boisserée vom 22.März 1831 schreibt er, er habe "keine Konfession gefunden, zu der ich völlig hätte bekennen mögen." Stattdessen übte er schon früh Kritik an den positiven Formen geoffenbarter Religion und der Kirche und hielt sich schon in der Jugend an die Vorstellung einer natürlichen Religion, nach der ein höheres ordnendes Wesen nur in der Natur verborgen spürbar sei.

Sein Leben lang suchte Goethe nach der wahren Religion und fand sie zunächst und am ehesten in der Natur. "Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Von Jupiters Throne/ Zuckt der allmächtige Strahl, nährt und erschüttert die Welt." (Vier Jahreszeiten 1796)

Religion erschöpfte sich für Goethe nicht in mythologischen Bildern und in austauschbaren Mythologemen, sondern galt ihm als eine besondere Sicht auf die Welt, den Menschen und die Natur.

Schon früh hat sich der Dichter dazu bekannt:"Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen." Bei der Betrachtung von Schillers Schädel widmete er seinem früh verstorbenen Freund einen Nachruf, an dessen Schluss es heißt:

"Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, /

Als dass sich Gott-Natur ihm offenbare? /

Wie sie das Feste lässt zu Geist gerinnen, /

Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre." /

Der Natur, der Goethe eine geradezu religiöse Verehrung entgegenbrachte, weil er sie mit Gott gleichsetzte, ordnete er Willen, Vernunft, Weisheit, Güte und Liebe zu. Er war überzeugt von dem Wirken einer höchsten Macht in ihr und von dem schöpferischen Prinzip der Polarität als einer dynamischen Kraft alles Werdens, dem Naturgesetz von Anziehung und Abstoßung bei fortwährender Steigerung des Einfachen auf die jeweils vollendete Form. Goethe war voll Ehrfurcht vor dem Lebendigen in all seinen wahrnehmbaren Aspekten wie auch vor dem letztlich unerforschlichen Wirken des Göttlichen, in dem Welt und Leben aufgehoben sind.

Religion ist für Faust wie für Goethe eine Sache des Gefühls. Auch Faust blieb nachdem er die Unerfüllbarkeit seines Wunsches, "dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält", erkannt hat, am Ende nur die Ehrfurcht vor dem unerforschlichen und unbegreiflichen Wesen der Welt, Die Ehrfurcht vor dem unfassbaren Gott, für den Faust keinen Namen hat und den in Begriffe zu fassen, er ablehnt.

Für Georg Simmel handelt es sich bei all den Aussagen von Goethe über Gott und Religion um unmittelbare Äußerungen seines Weltgefühls. "Er fängt es nicht erst in dem Medium des abstrakten Denkens auf", schreibt Simmel, "sein unvergleichlich starkes Empfinden der Bedeutsamkeit des Daseins und seines inneren Zusammenhangs nach Ideen treibt seine 'philosophischen' Äußerungen hervor wie die Wurzel die Blüte. Mit einem ganz freien Gleichnis: Goethes Philosophie gleicht den Lauten, die die Lust- und Schmerzgefühle uns unmittelbar entlocken, während die wissenschaftliche Philosophie den Worten gleicht, mit denen man seine Gefühle sprachlich-begrifflich bezeichnet. Da er nun aber zuerst und zuletzt Künstler ist, so wird jenes natürliche Sich-Geben von selbst zu einem Kunstwerk. Er durfte 'singen wie der Vogel singt', ohne dass seine Äußerung ein unförmig zudringlicher Naturalismus wurde." - "Wenn Goethe nach seinem eigenen Wort 'die Idee mit Augen sieht', so heißt das, dass ihm Wert und Vollendung der Dinge, die für uns andere nur wie ein mehr oder weniger traumhaftes Gebilde über ihnen zu schweben scheint, in ihrer Wirklichkeit wohnte, wie er sie zu sehen verstand."

Für Goethe ist, laut Simmel, das Lebensprinzip der Natur zugleich auch "dasjenige der menschlichen Seele, beide sind gleichberechtigte Tatsachen, aber hervorgehend aus der Einheit des Seins, die die Gleichheit des schöpferischen Prinzips in die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen entwickelt, so dass der Mensch in seinem eigenen Herzen das ganze Geheimnis des Seins und vielleicht auch seine Lösung zu finden vermag. Der ganze künstlerische Rausch der Einheit von Innen und Außen, von Gott und Welt, bricht aus ihm hervor."

Da die Religion für Goethe in erster Linie eine Sache des Gefühls ist, bleibt sein Glaube auch weiterhin überwiegend ein gefühlsmäßiges Erfassen und Erfasstsein der Seele, weshalb er jede rationale Bestimmung und Deutung der religiösen Gegenstände und Erlebnisse ablehnt.

1810 dichtete Goethe:

"Wär nicht das Auge sonnenhaft, /

Wie könnt' die Sonne es erblicken? /

Wär nicht in uns des Gottes eigne Kraft, /

Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"

Hier führt der Dichter die Erkenntnisbeziehung zwischen Menschen und Naturphänomenen auf eine Wesensgleichheit zwischen beiden zurück, wie es schon Empedokles tat, als er lehrte: "Dadurch, dass die Elemente aller Dinge in uns selbst sind, können wir die Dinge erkennen."

Im Laufe seines Lebens entwickelte Goethe pansophistische, mystische und auch pantheistische Vorstellungen - wonach Gott identisch sei mit allem was ist. Das freilich sind Vorstellungen, die im scharfen Gegensatz stehen zum christlichen und jüdischen Glauben. Goethe sieht sich daher wiederholt dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt, obwohl er doch nur die Gegensätze zu vereinen versuchte.

Goethes Pantheismus zeigt sich in großen Hymnen, wie etwa in:

"Gesang der Geister über den Wassern"

"Des Menschen Seele /

Gleicht dem Wasser: /

Vom Himmel kommt es, /

Zum Himmel steigt es, /

Und wieder nieder /

Zur Erde muss es, /

Ewig wechselnd."


Und der Schluss lautet:


"Seele des Menschen, /

Wie gleichst du dem Wasser! /

Schicksal des Menschen, /

Wie gleichst du dem Wind!"

Für Goethe hat die Natur ferner in die Existenz eines jeden lebendigen Wesens so viel Heilungskraft gelegt, "dass es sich, wenn es an dem einen oder dem anderen Ende zerrissen wird, selbst wieder zusammenflicken kann; und was sind die tausendfältigen Religionen anders als tausendfache Äußerungen dieser Heilungskraft," die ihnen innewohnt?

"Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung." heißt es in "Sprüche in Prosa 1817". Goethe sah die Natur zudem ohne Verwertungsspekulationen, antik, großartig und ohne die spätere zivilisatorische Aufteilung in Idee und Realität.


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