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In Enklaven und Zeitungen lebte das Jiddische lange fort

Größere jiddisch sprechende Gemeinden gab es jedoch weiterhin in den südamerikanischen Ländern, besonders in Argentinien, Brasilien und Uruguay, in Städten wie Montreal und Buenos Aires. Hier lebte die von den Einwanderern ins Land gebrachte jiddische Kultur zwar noch, schien allerdings auch hier im Niedergang begriffen. "Trotz weltweiter Aufmerksamkeit ist das Jiddische als Sprache zum Untergang verurteilt" behauptete einmal die am 16.Mai 2002 im Alter von 90 Jahren in St.Gallen verstorbene und aus Galizien stammende Publizistin Salcia Landmann.

In New York sprachen ebenfalls nur noch die Alten der Einwanderer jiddisch, während ihre Kinder und Enkel die englische Sprache oder den amerikanischen Slang bevorzugten. Dagegen waren die jiddischen Zeitungen in Amerika zunächst besser dran als in anderen Ländern. Denn die Zeitung, das gedruckte Wort, gehört, wie man in der jiddischen Kultur allgemein glaubte, zu den zehn Dingen, die bereits vor der Erschaffung der Welt geschaffen worden waren.

Dennoch haben sich die meisten dieser Zeitungen, in denen jiddische Schriftsteller häufig ihre neuesten Texte präsentierten, nicht lange gehalten. Schon in den zwanziger Jahren zirkulierte in der Neuen Welt der traurige Witz über den Verleger einer jiddischen "New Yorker Zeitung", dessen Redaktion auf der Eastside im jüdischen Viertel liegt. Als er vom Fenster aus einen Trauerzug vorbeidefilieren sieht, ruft er seinem Setzer zu: "Chaim! Druck ein Exemplar weniger!"

Bekannt wurde vor allem die sozialistische Zeitung "Forverts" als Organ osteuropäischer Juden in Amerika. Sie war lange Zeit die Tageszeitung mit der höchsten Auflage unter allen nichtenglischen Zeitungen der USA. Gegründet hat sie 1897 Abraham Cahan (die erste Ausgabe erschien am 22.4.1897 und kostete einen Cent). Da die meisten Einwanderer nur schlecht oder gar kein Englisch sprachen, wurde der "Forverts" in jiddisch gedruckt. Neben politischen Einschätzungen gab die Zeitung Einwanderern praktische Anleitungen, um sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. In ihr hatte bis 1917 Philipp Scheidemann (1865-1939) eine regelmäßige Kolumne, während Isaac B.Singer (1904-1991) in dieser Zeitung fast alle seine Werke als Vorabdruck auf jiddisch veröffentlichte. Die Leser sollten mit jedem Kapitel neugierig auf den Fortgang der Geschichte werden, damit sie die nächste Ausgabe auch kauften. Aber es war Singers und des Jiddischen tragisches Geschick, dass seine Werke bald fast nur noch in Übersetzungen gelesen werden konnten.

In den zwanziger Jahren lag die Zahl der verkauften Exemplare bei rund 280.000 täglich. "Forverts" sollte ein Blatt für den einfachen Menschen sein. Eine Anekdote verdeutlicht die Intention der Herausgeber. Eines Tages kommt ein junger Universitätsabsolvent in Cahans Büro, um einen Artikel zu verkaufen. Cahan ruft daraufhin seine Sekretärin, händigt ihr das Manuskript aus und sagt: "Geben Sie das dem Liftboy, wenn er es versteht, drucken wir's ab."

Seit 1983 erscheint der "Forverts", der bis dahin gleichzeitig als "Jewish Daily Forward" herauskam, nur noch als Wochenzeitung. Seit Dezember 1995 gibt es auch einen russischen "Vorwärts!" mit 4.000 Auflage. Überleben kann die Zeitung freilich nur, weil dem Verlag auch eine Talk-Radio-Station gehört (WEVD, Mittelwelle 1050), die Gewinn macht, mit dem die Verluste der Zeitung ausgeglichen werden können.

Auch in Frankreich erschienen etliche jiddische Zeitungen. Doch mit der Ausgabe vom 28.Juni 1996 hat sich die in Paris erscheinende Zeitung "Unzer Wort" als letzte jiddische Tageszeitung der Welt, 48 Jahre nach ihrer Gründung, von ihren Lesern verabschiedet, da nur noch wenige von der in alle Welt versprengten Gemeinschaft lebten, denen diese Mischung aus Mittelhochdeutsch, slawischen Lehnwörtern und Hebräisch Muttersprache war.

Seit 1947 hatte die von Marc Jarblum und Israel Jefroykin als Sprachrohr der "Jidds" gegründete Zeitung "Unzer Wort" sowohl über die Weltpolitik informiert als auch über das Geschehen in der jüdischen Gemeinde. Zuletzt produzierte die dreiköpfige Redaktion nur noch drei Ausgaben pro Woche. Begonnen hatte man mit sechs Ausgaben pro Woche.

Jacques Cypel, der letzte Chefredakteur, Herausgeber und Verleger des Blättchens, meinte, Zionismus und die ständige Erinnerung an die Schoa ließen sich heute nicht mehr verkaufen, schon gar nicht auf jiddisch. Zynisch kommentierte Cypel den Untergang seiner Zeitung: "Die in den Gaskammern Verschwundenen waren unsere Leser und die Menschen, die Majdanek, Buchenwald, Ravensbrück, Auschwitz und andere Höllen überlebt haben. Die Generationen im Osten, die jiddisch sprachen, liegen heute zu 85 Prozent auf dem Friedhof, und jetzt folgt ihnen eben ihre Zeitung nach". Das Sterben der jiddischen Kultur und Sprache vollzog sich langsam, aber offensichtlich unaufhaltsam. Nicht nur die Leser - zwei- bis dreitausend mögen es zum Schluss noch gewesen sein - sterben aus, sagte Cypel, "auch Autoren, die das Jiddische in Wort und Schrift perfekt beherrschen."

Doch blieb Jiddisch in gewisser Weise noch ein Verkehrsidiom, das Antwerpener Diamantenhändler, Russland-Emiganten aus der Wiener Lepoldstadt und jüdische Pensionisten aus Brooklyn oder Tel Aviv miteinander kommunizieren ließ.

Im Nachkriegseuropa gab es, laut Julius H.Schoeps (FAZ vom 22.3.1991) zunächst kaum jemand, der größeres Interesse entwickelt hätte, die wenigen noch vorhandenen Zeugnisse jener durch den Holocaust zerstörten Kultur des osteuropäischen Judentums systematisch zu sammeln. Was nicht durch den Holocaust vernichtet wurde, fiel der Politik des Sowjetsystems zum Opfer, die mit der als rückständig geltenden Schtetl Kultur nichts anfangen konnte. Wer heute durch Litauen oder das einstige Galizien reist, Orte besucht mit den früher so klangvollen Namen wie Wilna, Lemberg, Przemysl oder Brody, sucht vergeblich nach Spuren der osteuropäisch-jüdischen Kultur, die bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dort lebendig war und in hoher Blüte stand.

In den Köpfen von Nichtjuden löst das Schtetl heutzutage zumeist Assoziationen folkloristischer Natur aus, die kaum noch etwas mit der einstigen Wirklichkeit zu tun haben.

"Wenn die deutschen Intellektuellen die 'Sinnkrise' packt," schrieb Peter Dittmar im August 1992 anlässlich einer Ausstellung in der Tagszeitung "Die Welt", "entdecken sie das Ostjudentum. Das war zu Beginn des Ersten Weltkrieges so, als die assimilationsgeneigten Westjuden, die das Ostjudentum als ein mittelalterliches Relikt missachteten, in den von der deutschen Armee besetzten russischen Gebieten plötzlich eine neue Welt selbstbewusster jüdischer Frömmigkeit als Realität erlebten. Das geschah zwischen den Kriegen, als das Moskauer Habima-Thater mit dem 'Dybbuk' von An-Ski Triumphe feierte, man die zuwandernden Ostjuden aber wenig schätzte. Und das wiederholt sich heute mit der Sentimentalisierung im Stile von 'Tewje'. Die Wirklichkeit der Juden in Russland vor und nach der 'Oktoberrevolution' wurde davon nicht erfasst."


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