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Man bemüht sich wieder um jiddische Sprache und Literatur

Bis vor kurzem sah es ganz so aus, als ob Jiddisch, dieser Schmelztiegel aus mittelhochdeutschen, hebräischen und slawischen Sprachelementen mit seiner "wilden Grammatik", dem unvermeidlichen Untergang geweiht sei. Abgesehen von den Jeschivot, den Lehrhäusern für höhere Bibelwissenschaften, namentlich in Belgien und England, wo auf jiddisch gefachsimpelt wird, schien eine tausend Jahre alte Kultur fast erloschen.

Seit einiger Zeit bemüht man sich jedoch an vielen Orten, die jiddische Sprache und die jiddische Literatur vor dem Vergessen zu bewahren. An israelischen, amerikanischen und europäischen Universitäten und Sprachinstituten wird neuerdings Jiddisch gelehrt und erforscht. Das Oxford Institute for Yiddisch Studies bemüht sich sogar, dem Jiddischen als Volkssprache außerhalb der Akademien Gehör zu verschaffen. An der Ehrenrettung der jiddischen Sprache und der ostjüdischen Welt im Spiegel ihrer Literatur beteiligen sich auch Verleger und Literaten und gaben in den letzten Jahren alte und neue Veröffentlichungen aus dem jiddischen Sprachkreis heraus. Mittlerweile liegen sogar "Max und Moritz", der "Struwwelpeter", Antoine de Saint-Exupérys "Der kleine Prinz", Brechts "Dreigroschenoper" und George Orwells "Farm der Tiere" auf jiddisch vor.

Zudem weiß man heute, dass das Jiddische zu Unrecht als bloße Dialektik verachtet, als verderbtes Deutsch verspottet und als Mauscheln oder Kauderwelsch verlacht wurde. Schuld daran war das Verdikt, dass das Jiddische eine Mischsprache sei. Inzwischen hat man dieses Urteil revidiert, nachdem man erkannt hat, dass viele unserer Kultursprachen Mischsprachen sind und dass gerade in der jiddischen Sprache ein großer Reichtum steckt.

Das Festhalten am Jiddischen und an seinem Kulturleben, das sich auf diese Sprache gründet, darf auch als Reaktion auf den alleinigen Geltungsanspruch der modernen hebräischen Staatssprache in Israel, des Iwrit, angesehen werden.

Viele der seit dem Zusammenbruch des Osten bei uns aus Russland, den Baltischen Staaten und der Ukraine eingewanderten Juden haben in ihrer Kindheit noch die jiddische Sprache mitbekommen. Sie können sich daher zum Beispiel mit älteren Berliner Synagogenbesuchern noch auf Jiddisch unterhalten. Auch hilft ihnen die jiddische Sprache, sich im Deutschen relativ rasch zurechtzufinden. Werden mithin Pessimisten, die unmittelbar nach dem Ende der Nazidiktatur zu dem Schluss kamen, dass die jiddische Sprache tot sei, nicht Recht behalten? Oder wird die Welle der Begeisterung für das Jiddische eines Tages verebben, und werden dann die Orthodoxen in Israel und New York, wie Salcia Landmann vermutet hatte, das Jiddische über kurz oder lang wieder aufgeben?

So viel ist wohl richtig, dass Reichtum und Schönheit einer Sprache, in der vor dem Zweiten Weltkrieg elf Millionen Menschen redeten, stritten, liebten und hofften, heute in erster Linie zwischen Buchdeckeln fortlebt: "Mir wern gehasst un getribn, mir wern geplogt und varfolgt, un alz nor derfar, weil wir liebn dos orime, schmachtnde volk" - "Wir werden gehasst und getrieben, wir werden geplagt und verfolgt, und alles nur, weil wir lieben das arme! das leidende Volk."

Gegenwärtig gibt es sechs Lehrstühle für Jiddistik. Zwei in Israel - an der Hebräischen Universität in Jerusalem und der Bar-Ilan Universität in Ramat-Gan -, zwei in den Vereinigten Staaten - an der Harvard University in Cambridge(Mass.) und der Indiana University in Indianapolis - sowie zwei in Deutschland - an der Universität Trier und seit 1996 an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. An dieser Universität wurde der Lehrstuhl "Jiddische Kultur, Literatur und Sprache" mit der niederländischen Hochschullehrerin Marion Aptroot besetzt. (Sie stammt aus Den Haag und war von 1988 bis 1991 Redakteurin für Buchrezensionen in der Zeitschrift "Yiddisch".) An der Universität Trier existiert ein Lehrstuhl für Jiddisch schon seit 1970 im Rahmen des Fachs Germanistik in Forschung und Lehre. 1985 wurde Jiddistik mit der Gründung einer eigenen Abteilung innerhalb der Germanistik institutionell verankert, und zum Wintersemester wurde dann auch eine Professur hierfür eingerichtet. In Göttingen wurde dagegen ein Arbeitskreis für Jiddische Sprache und Kultur an der Universität ins Leben gerufen. Aber auch an vielen anderen Universitäten und Volkshochschulen in Deutschland gibt es mittlerweile Jiddischkurse. Um den weit verstreuten Jiddisten ein Forum zu bieten, haben die Jiddisch-Abteilungen in Düsseldorf und Trier beschlossen, einmal im Jahr ein Symposium zu veranstalten, auf dem Studierende und Lehrende ihre Ideen austauschen, ihre Projekte vorstellen und Fragen zur Diskussion stellen können.

Wer will, kann sogar im Internet Jiddisch lernen. Der Düsseldorfer Förderverein für Jiddische Sprache und Kultur hat's möglich gemacht. Unter der Url "www.jiddischkurs.org" hört man Originaltöne, sieht Bilder, Interviewtexte, Übersetzungen und erhält Erklärungen, um die Gespräche mitsamt ihres kulturellen, historischen und zeitgeschichtlichen Rahmens besser zu verstehen.

Was aber treibt junge Studenten an, jiddisch zu lernen? Selten ist, so war von einem Göttinger Dozenten zu erfahren, die Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Zeit dafür ein Motiv. Eher könne man von einem Modetrend sprechen. Allerdings hebe die

Beschäftigung mit jiddischer Kultur auch ihr Verschwinden aus Deutschland ins Bewusstsein. Manche wollten damit eine Wissenslücke stopfen und schrieben ihre Examensarbeit über die jiddische Sprache, um später als Lehrer oder Lehrerin ihren Schülern Jiddisch beibringen zu können. In Göttingen haben sich für das Jahr 2002 rund 80 Studenten für die Kurse eingeschrieben, an der Universität Düsseldorf sind es etwa hundert Studenten, darunter auch ältere Semester. Sie alle lernen nun, dass die jüdische Kultur ein wichtiger Bestandteil der europäischen ist. Denn wenn man sich mit der jiddischen Sprache beschäftigt, stößt man unweigerlich auf Namen von jüdischen Riten und Festtagen wie Laubhüttenfest oder Pessach und erfährt dabei eine Menge Details über jüdische Kultur und Religion. Zugleich werden alte Klischees und Feindbilder begraben.

In Trier und in Düsseldorf sind die meisten Studenten ebenfalls über die Germanistik und das Interesse an Sprache zur Jiddistik gekommen. Diese ist in der Tat ein spannendes Fach, das viele, noch unerforschte Bereiche bietet. Immer noch finden sich jiddische Manuskripte, in die seit vielen hundert Jahren keiner mehr reingeschaut hat.

Amerikanische Germanistikstudenten entdecken gleichfalls, dass sie sich durch das Erlernen der jiddischen Sprache den Eintritt zu einer einzigartigen Literatur verschaffen können. Dabei geht es auch ihnen nicht um eine jiddische Nostalgie. Denn die Geschichte der jiddischen Kultur war alles andere als eine Idylle, in der, wie etwa auf den Bildern des aus Witebsk stammenden Malers Marc Chagall, Liebespaare in blühenden Bäumen schweben. Handelt es sich doch hierbei um die Geschichte von Menschen, denen es nicht beschieden war, Staatsmänner zu werden oder den Großen ihrer Kultur Monumente zu errichten. Alles, was sie tun konnten, war, Bücher zu schreiben. Die Kenntnis dieser Bücher werden nun seit geraumer Zeit durch Übersetzungen, Tonbandkassetten, Vorträge und Kurse verbreitet.

Was die jungen "Jiddisten" aber am meisten an der Literatur fasziniert, die sie sich zu retten vorgenommen haben, ist die Kraft, die sie ausstrahlt, obwohl sie buchstäblich aus Machtlosigkeit entstand. "Eine Generation, die sich unfähig fühlt, Kernwaffen zu kontrollieren", sagt der Jiddist Aaron Lansky, von dem gleich noch weiter die Rede sein wird, "kann von dieser Literatur der Außenseiter nur lernen."

Nun verleihen die verschiedenen Fakultäten der jiddischen Sprache zwar ein akademisches Fundament, nicht aber die Möglichkeit, als zeitgenössische, moderne Fremdsprache in Umlauf zu geraten. Von der EU kürzlich als "Minderheitensprache" anerkannt, ist Jiddisch heute die einzige Sprache im EU-Raum, die nicht durch nationale Grenzen definiert ist, gleichzeitig aber sprachlich homogenen Gruppen angehört.

Ursprünglich war die verstärkte Anstrengung, das Jiddische vor dem Vergessen zu bewahren, der Sorge um das Schicksal jiddisch-literarischer Errungenschaften der Vorkriegsjahre entsprungen. Heute profiliert sich das Jiddische als Sprachrohr mehr und mehr für eine neue Generation von jiddischen Schriftstellern. Damit besteht gute Aussicht, dass das Jiddische aus seiner Lähmung befreit wird und dass man es nicht ausschließlich jenes akademische Leben fristen lässt, zu dem Latein und Altgriechisch verdammt sind.

Zudem wird dem Jiddischen Aktualität und praktischer Nutzen bescheinigt. So stellte der "Weltverband für die Erhaltung und Verbreitung jiddischer Kultur" auf einem Kongress in Jerusalem fest, das Jiddische sei geeignet, die Bindungen zwischen Israel und der Diaspora aufrechtzuerhalten und das Verständnis der jungen Israelis für die jüdische Geschichte zu schärfen.

Gegenwärtig sprechen nach vagen Schätzungen noch vier bis fünf Millionen Menschen die jiddische Sprache, die meisten von ihnen als Zweitsprache. Sogar in der Diaspora nimmt die Zahl derer wieder zu, die jiddisch sprechen und schreiben.

Ingeborg-Liane Schack behauptet sogar schon im Jahr 1977, Jiddisch sei noch immer "die meistgesprochene jüdische Sprache bis zum heutigen Tag."

Begonnen hatte die Renaissance des Jiddischen wie ein Märchen. Sigrid Bauschinger berichtete davon in der Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine" vom v.5.4.1986: Es war einmal ein Student namens Aaron Lansky im Jahr 1980 in der kanadischen Stadt Montreal, der wollte die Geschichte der Juden in Osteuropa studieren. Aber er fand keine Bücher darüber. In seiner Verzweiflung klopfte er an die Türen der Juden und fragte, ob sie keine Bücher hätten, die in der jiddischen Sprache geschrieben seien. Doch fast alle hatten diese weggeworfen. Die über 30.000 jiddischen Titel, die zwischen 1880 und 1940 vor allem in den osteuropäischen Ländern erschienen und von zehn Millionen Menschen gelesen worden waren, deren erste oder einzige Sprache Jiddisch war, waren allem Anschein nach nicht mehr aufzutreiben. Doch der Student gab er nicht auf, sondern richtete nun seine Bitte an alle jüdischen Zeitungen. Nach vier Wochen hatte er bereits 3000 Bücher, nach fünf Jahren 400.000. So nahm das "National Yiddish Book Center" in einer alten Fabrikhalle seinen Anfang, die sich das Center zunächst sich mit einem Weber, einem Töpfer und einer Verkäuferin von Ziegenmilch teilen musste. Doch bald umfasste das Lagerhaus "die größte Sammlung jiddischer Bücher in der Welt und in der Geschichte der jiddischen Literatur".


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