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Wie das Ostjiddische entstand

Ein bedeutsamer Einschnitt in der Entwicklung der jiddischen Sprache war die durch die Pogrome der Kreuzzüge ausgelöste Wanderung der Juden in den slawischen Osten. Eine zweite massenhafte Einwanderungswelle von Juden nach Polen und Litauen erfolgte im 14.Jahrhundert, zur Zeit der Pest, für dessen Ausbruch man die Juden verantwortlich gemacht hatte. Viele Aschkenasim (Juden aus dem deutschen Sprachraum) zogen während der Kreuzzüge und Verfolgungen im Mittelalter nach Osteuropa, wo sie mit offenen Armen empfangen wurden. Die früheren Dialekte und Sprichwörter ihrer Heimat wurden indessen weiter gepflegt. Daher finden sich in der jiddischen Sprache Osteuropas Überreste des Schwäbischen, Alemannischen und Fränkischen, ja man kann sagen, dass die jiddische Sprache zu 70 bis 80 Prozent auf dem süddeutschen Dialekt ehemaliger Landjuden beruht.

In der klassischen Umgebung des Jiddischen, dem Schtetl Osteuropas, war sie reine Alltagssprache. Das Hebräische blieb auch hier die geschriebene Sprache des Glaubens und Aramäisch die Gelehrtensprache. Im slawischen Osten wirkte der politische Druck, besonders in Russland auf die Sprache konservierend.

Seit dem 13.Jahrhundert bringt das Jiddische "die Kraft und Farbe des mittelalterlichen Deutsch mit dem scholastischen Scharfsinn der talmudischen Fachsprache und der Gefühlsweichheit der slawischen Idiome faszinierend zur Synthese", behauptete einmal Salcia Landmann.

In Osteuropa verwandelte sich der mitleiderweckende Armeleutejargon aus dem Judenghetto sehr rasch in eine blühende Sprache von ungewöhnlicher Spannweite. Sie behielt die Farbigkeit des mittelalterlichen Deutsch, saugte die Weichheit des Gemütes auf, was besonders der jiddischen Liedfolklore zugute kam, erbte zugleich aus der Talmudschulung der männlichen Jugend eine unerhörte intellektuelle Prägnanz und Schärfe. Auch für komplexe geistige Probleme brauchten Ostjuden nicht auf neuhochdeutsche Begriffe zurückzugreifen. Als der spätere deutsche Politiker Carlo Schmidt als junger Soldat im Ersten Weltkrieg ein ostjüdisches Haus betrat, stellte er ganz begeistert fest:"Das ist ja unser altes Nibelungendeutsch." Das stimmte allerdings nur noch teilweise. Das neuzeitliche Jiddisch, das längst Geist und Seele des Ostjudentums ausstrahlte, wurde seit dem Ende des 17.Jahrhunderts in verschiedenen Dialekten in den polnischen, russischen und litauischen Gemeinden gesprochen.

Während die meisten nichtpolnischen Juden in den anderen Ländern deren Sprache annahmen, hielten die polnischen Juden am Gebrauch der deutschen Sprache fest , auch wenn es ihnen zunächst verhältnismäßig gut ging. So bildete sich die eigentliche jiddische Sprache heraus, ohne dass man sagen könnte, ob diese Einzigartigkeit ihrem massiven zahlenmäßigen Anteil, der kulturellen Überlegenheit ihrer Herkunftsländer oder dem gestiegenen Selbstbewusstsein zu verdanken ist. Ganz bestimmt handelte es sich dabei um eine Verknüpfung der drei Faktoren, doch richtete diese Besonderheit noch eine zusätzliche Schranke zwischen den Juden und ihren christlichen Nachbarn auf. Achtzig Prozent aller polnischen Juden gaben Jiddisch als ihre Muttersprache an.

Auch später im 19.Jahrhundert interessierten sie sich nicht für die Literatur der Slawen, sondern lasen neuhochdeutsche Klassiker.

Im Ersten Weltkrieg wollte das deutsche Militär die Versorgung der russischen Armen mit Hilfe jüdischer Lieferanten und Mittelsmänner sabotieren. Ludendorff veröffentlichte in ähnlicher Absicht seinen berühmten Aufruf auf jiddisch: "Zi meine libe Jidden in Poiln" (An meine lieben Juden in Polen). Festzuhalten aber ist, dass während das Westjiddische unterging, sich das in Russland, Polen, Rumänien und Litauen verbreitete Ostjiddische mit seinen jeweiligen Dialekten erhalten hat und seit dem 19.Jahrhundert der einzige Repräsentant der jiddischen Sprache ist. Es gewann sowohl als Verkehrssprache als auch als Literatursprache an Bedeutung. Wenn wir heute von Jiddisch reden, meinen wir in erster Linie die Sprache des untergegangenen osteuropäischen Judentums. Diese Sprache ist ebenfalls ein seltsames Gemisch aus Mittelhochdeutsch, Hebräisch, Provenzialisch und verschiedenen slawischen Einflüssen, eine Sprache voller Kraft und Vitalität, voller Witz, eine anarchische Sprache, die nicht nur ein Kommunikationsmittel war und ist, sondern auch Ausdruck einer Geisteshaltung und letztes Echo einer aufregenden Kultur, die sich vor allem über ihre Literatur erhalten hat. Die jiddische Sprache setzt sich jedoch nicht nur aus vielen Sprachelementen zusammen. Sie ist auch gestisch eine unerhört reiche und vor allem eigenständige Sprache, eine Nahsprache des Deutschen zwar, aber weder mittelalterliches noch verderbtes Deutsch. Wohl wurden altes Vokabular und alte Formen bewahrt, doch nicht alle mittelhochdeutschen Bestandteile blieben unverändert.

Nach dem allmählichen Untergang der jiddischen Sprache in Deutschland, war Jiddisch somit nur noch die Sprache der Ostjuden, wobei sie hier nicht nur der Verständigung diente, sondern auch Ausdruck der Identität jener Menschen war, die sie sprachen. Diese aus dem Mittelhochdeutschen und Hebräischen entstandene Sprache ist, laut Jacob Allerhand, auch heute noch lebendig und nimmt ständig neue Realitäten in ihren reichen Wortschatz auf so wie sie in der Vergangenheit Einflüsse aus vielen anderen Kulturen und Sprachen aufgenommen und in diesen gleichzeitig nachhaltige Spuren hinterlassen hat.

In Osteuropa war das Jüdisch-Deutsche, im Gegensatz zum deutschsprachigen Umfeld, von der allgemeinen Sprachentwicklung nie vollständig abgekoppelt gewesen. Während die Westjuden um 1890/1939 ihr Idiom als deutschen Dialekt empfanden, betrachteten die Ostjuden sie in ihrem slawischen Umfeld als eigene Sprache. Während in Westeuropa die Kenntnis des Hebräischen abnahm, entstand im Osten eine Anzahl hebräisch-wissenschaftlicher Publikationen. Der Lemberger Gelehrte und Begründer der Wissenschaft des Judentums in Osteuropa, Salomo Juda Rapoport (1790-1867) verfasste seine wissenschaftlichen Werke grundsätzlich auf hebräisch.

Dagegen stand die Wissenschaft des Judentums in Deutschland von Beginn an unter anderen Vorzeichen als im östlichen Teil Europas. Dort waren die Bemühungen viel stärker auf die innerjüdische Gemeinschaft gerichtet, sei es, um diese zu reformieren und aufzuklären, sei es, um das jüdische Selbstverständnis zu stärken.

Da die Wissenschaft des Judentums in Deutschland auf deutsch produzierte, um ihr Publikum zu erreichen, konnte sie natürlich auch keine Renaissance des Hebräischen bewirken. Diese Leistung ist in erster Linie den kontinuierlichen literarischen Aktivitäten des osteuropäischen Judentums und den Idealen und Vorstellungen von Vertretern der nationaljüdischen Bewegung zuzurechnen. So hat das Hebräische im Osten äußerlich und innerlich zugenommen und hat, was es als Gebetssprache eingebüßt hatte, vielfältig als lebendige Sprache wiedergewonnen. In Galizien machte die Bewegung "die erste Station, um dann nach Russland überzugreifen und eine neue Blüte hebräischer Literatur vorzubereiten."Später im 18. und 19. Jahrhundert als die sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligungen der Juden im alten Russland zunahmen, besonders im Ansiedlungsrayon, begann um 1880 eine Auswanderungsbewegung, die auch auf das österreichische Galizien und Rumänien übergriff und nach dem politischen Umschwung 1918 weiter anhielt. Dieses Ostjiddische wurde mit der am Ende des 19.Jahrhunderts einsetzenden Migrationsbewegung von Juden in ferne Länder - nach Amerika, Kanada, Südamerika (Buenos Aires), Südafrika, Palästina, Australien - sozusagen im Gepäck mitgenommen. Dort blieb es teilweise erhalten, teilweise passte es sich den Landessprachen an. Vor allem durch den Generationswechsel, reduzierte es sich zu einer an Tradition gebundenen Insidersprache. Der Schwerpunkt der jiddischen Literatur verlagerte sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts vor allem nach den USA, nach New York, wo ebenfalls eine Art Kolonialjiddisch entstand.


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