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Weininger über Schuld und Strafe

Krankheiten sah Weininger als Schuld und Strafe an, die jeder selbst durch seinen Willen heilen müsse und vertrat die von Freud beeinflusste Auffassung, dessen "Studien zur Hysterie" er kannte: "Alle Medizin muss Psychiatrie, muss Seelsorge werden."

Für Weininger war die Philosophie somit mehr als eine interessante Art von Geistesübung oder literarischem Zeitvertreib, vielmehr war sie ihm eine innere Notwendigkeit, ein unerbittliches Ringen um Sein oder Nichtsein, ähnlich wie bei Platon, Augustinus, Kant und Nietzsche, denen er sich am meisten verbunden fühlte. Auch an Kierkegaard könnte man in diesem Zusammenhang denken, obgleich der junge Österreicher den dänischen Existenzphilosophen nur dem Namen nach kannte, jedoch wie dieser von einem tiefen Gefühl der Sündhaftigkeit und Verworfenheit gequält wurde. Kierkegaards Prophezeiung, die Zeit sei nicht mehr fern, da man die Erfahrung machen werde, "dass der Weg zum Absoluten nicht durch den Zweifel, sondern durch die Verzweiflung geht", hat sich in Weiningers Schicksal auf erschütternde Weise erfüllt.

Weiningers zwanghafte grüblerische Suche nach Selbsterkenntnis verstrickte sich alsbald in einen tödlichen Glaubenskampf mit der eigenen Existenz. Mit steigendem Entsetzen meinte er, in sich selbst verbrecherische Züge zu entdecken.

Allem Anschein nach hat er in seiner Seele, wie wohl auch sein Zeitgenosse Georg Trakl, einen ungeheuren Drang zu Lüge, Grausamkeit und Mord gefühlt. Jedenfalls vermochte er sich, hierin Dostojewski ähnlich, auf beklemmende Weise in das Innere des Verbrechers hineinzuversetzen. Diese sympathetische Fähigkeit mochte er schließlich als Beweis für seine eigenen verbrecherischen Instinkte empfinden. So fühlte er sich von den Dämonen in seiner eigenen Brust mehr und mehr bedrängt und wähnte sich verfolgt von einem allwissenden Doppelgänger. "Er, der rigoros alle Dinge", schreibt Gerd-Klaus Kaltenbrunner, "sogar die grundlegenden ontologischen Konstituenten Raum und Zeit, aus dem Blickwinkel der Ethik betrachtet hatte, stand in steigendem Maße unter dem Bann des Bösen, des Rätsels menschlicher Schuld und Sühne." In seinem Nachlass fand sich auch folgender Aphorismus: "Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig böse wird", und wenige Tage, bevor er Hand an sich legte im Wiener Sterbehaus Beethovens, den er gleichfalls als eine geborene Verbrechernatur ansah, schrieb er: "Ich morde mich selbst, um nicht einen anderen morden zu müssen."

Weiningers geistiger Hochmut wuchs zweifellos aus einer Überspannung sittlicher Ideale, aus der Überzeugung ein gottgesandter Künder und Jünger zu sein.

Hervorgehoben werden muss aber auch, dass Weininger der erste war, der die androgyne Natur des Menschen erkannt, untersucht und eine Theorie der körperlichen und seelischen Bisexualität ausgearbeitet hat, die von der relativen Gemischtgeschlechtlichkeit eines jeden Individuums ausging.

Weininger kommt in diesem Zusammenhang auf eine Rede des Aristophanes zurück: "Die Ahnung dieser Bisexualität alles Lebenden .. ist uralt."

Durch seinen Freund Hermann Swoboda, der zu Weiningers Zeit Psychologie studierte, aber auch Patient Freuds war, lernte Weininger den Begriff der menschlichen Bisexualität kennen.

Die grundlegende Idee seines Buches ist, dass der Mensch bisexuell angelegt ist, dass jedes menschliche Individuum aus männlichen und weiblichen Teilen besteht.

Sein Buch "Geschlecht und Charakter" trug dem Autor sogar den Ruhm ein, die Bisexualität des Menschen entdeckt zu haben, obwohl diese Fragestellung schon mehr als zwanzig Jahre zuvor aktuell geworden war und als philosophische Idee schon in Platos Symposion eine erste Darstellung fand.

Der Autor von "Geschlecht und Charakter" gibt sich als großer Entdecker, erfüllt von der Gewissheit, dass er die Wissenschaft und ihre möglichen Anwendungen vorantreiben werde. Weininger glaubt beispielsweise, dass sein "Gesetz der menschlichen Bisexualität" in der Medizin für Bluttrransfusionen und Organtransplantation Verwendung finden werde; es sollte auch eine Reform des Erziehungswesens herbeiführen.

Sexualität, Charakter, Liebe: Weininger möchte die Elemente des menschlichen Schicksals auf einem Gebiet wissenschaftlich erforschen, das bisher den Künstlern und Schriftstellern überlassen war. Chinesische und griechische Mythen, Aristophanes in Platons Gastmahl und die Sekten der Ophiten hätten das Gesetz der Bisexualität vorausgeahnt; Schopenhauer in seiner "Metaphysik der Sexualität" und Goethe in den "Wahlverwandtschaften" das Gesetz der sexuellen Anziehung bereits vage erfasst. Für Weininger ist die Bisexualität ein im pflanzlichen, tierischen und menschlichen Bereich gültiges, universelles Prinzip.

Weiningers Buch gehört ebenso wie Freuds Traumdeutung zu jenen Werken, die nach dem Verbot in der nationalsozialistischen Zeit sehr rasch wieder aufgelegt wurden.

Weininger benutzte die Vorstellungen einer genuinen Bisexualität des Menschen, um eine Reihe persönlicher Problem lösen zu wollen. Dabei scheiterte er tragisch.

Freud hat unter dem Einfluss des Freundes Wilhelm Fließ den Begriff der Bisexualität in die psychoanalytische Theorie eingeführt. Für ihn hat jedes menschliche Wesen angeborene, zugleich männliche und weibliche sexuelle Anlagen, die sich in seinen Konflikten und Schwierigkeiten, das eigene Geschlecht zu akzeptieren, wiederholen.

Das ursprüngliche psychoanalytische Konzept der Bisexualität ist heute weit über die biologische Dimension hinaus entwickelt. In der modernen Psychoanalyse ist die Bisexualität ein Faktor von geringerer Wichtigkeit als die frühe Psychoanalyse und Freud angenommen haben. Niemand wird heute die Frage der Bisexualität als ein besonderes Problem sehen. Psychologische Bisexualität ist ein Faktum.

Hermann Swoboda berichtet, dass Weininger um 1900 auf das Faktum der Bisexualität aufmerksam geworden sei und alsbald mit Feuereifer Material darüber zu sammeln begonnen habe, zur Unterstützung der These, dass es eigentlich keine Männer und Frauen gibt, sondern nur männliche und weibliche Substanz, und dass jedes Individuum eine Mischung aus diesen beiden Substanzen ist.

Er bekam einen Plagiatsprozess über das Urheberrecht des Begriffs der Bisexualität an den Hals. Leider, bedauert Nike Wagner, habe der Philosoph (oder Psychopath) Weininger immer wieder dem Forscher Weininger ins Handwerk gepfuscht. "Statt die Möglichkeit der Freiheit von Geschlechterrollen und ihren Zwängen wahrzunehmen, flieht er rückwärts heim ins Reich des patriarchalischen Prinzips."

Wäre er dazu gekommen, wie beabsichtigt, vom Menschen als Mikrokosmos eine metaphysische Symbolik vorzulegen, vermutet Gerd-Klaus Kaltenbrunner, die den unsichtbaren Zusammenhang alles einzelnen im Universum entziffern sollte, wäre dies wohl ein gnostisches System geworden. Doch lägen uns nur Fragmente vor, deren Reichtum an Intuitionen, Vermutungen und Einsichten, oft in aphoristischer Kürze formuliert, "auch dann nicht geleugnet werden kann, wenn man die extrem antifeministische Sexualmetaphysik von "Geschlecht und Charakter" für unheilbar verfehlt, im besten Falle für ein bemerkenswertes pathologisches Dokument hält."

Vielleicht sollten wir, wenn auch nicht in dem übertriebenem Maße, wie Weininger es getan hat, menschliche Phänomene wieder mehr in Kategorien von Schuld und Strafe erfassen.

In den letzten zwei Jahren seines Lebens hat Weiningers Streben nach Wahrheit eine ethische Richtung angenommen, da die Wissenschaften 'immer nur Wahrheiten' suche, aber nicht 'die Wahrheit'.

Mit der inneren Umwandlung seiner geistigen Interessen setzten eine steigende Verachtung für seine früheren wissenschaftlichen Arbeiten und eine Neigung ein, jede Einzelheit seines eigenen Lebens in den Kategorien von Gut und Böse, Schuld und Erlösung zu interpretieren. Diese philosophische Wandlung führte zu seinem Übertritt zum Protestantismus am Tag seiner Promotion.


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