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So viel Goethe war nie oder wie viel Goethe braucht der Mensch?
Kritische Anmerkungen zum Goethejahr 1999
Selbst wer mit Büchern im allgemeinen und mit schöner Literatur im besonderen nicht viel im Sinn hat, hat es längst gemerkt: uns steht wieder einmal ein Goethejahr ins Haus. Der 250.Geburtstag des Weimarer Dichterfürsten verspricht, zum Ereignis des Jahres zu werden, mit einer Fülle von Publikationen, CD-Roms, Fernsehfilmen, Kolloquien, Lesungen und Vortragsreihen in aller Welt. Die Themen sind vielfältig. Über "Farbenlehre bei Goethe und Rembrandt", "George und Goethe", "Goethe versus Newton" debattiert man beispielsweise in Amsterdam, über "Goethe als Naturwissenschaftler" in Bordeaux, über "Goethe als Nationaldichter und Dichter von Welt" in Bratislava, über "Faust" in Krakau und in Kairo, über "Goethe aus der Sicht von Dichterkollegen" in Lille, über "Goethe und Puschkin" in Moskau, über "Goethe und die arabische Welt" in Beirut. Der Hörfunk liegt ebenfalls im Klassiker-Fieber und läßt den Dichter zwölf Monate lang hochleben mit Hörspielen, Lesungen, Features und Goethe-Parodien. Kurzum, es goethelt und faustelt überall, von Sydney bis nach Kopenhagen und Petersburg, von Rio de Janeiro bis in die Schweiz. Bewährte Klassiker-Ausgaben zu reduzierten Jubiläumspreisen - wer will, kann sich für'n Appel und 'n Ei eine ganze Goethe-Bibliothek zusammenstellen - sowie Bücher über den Dichter vom philosophisch-hermeneutischen Ansatz bis hin zu Pamphleten und Comics überschwemmen, neben eiliger Konfektionsware, den Markt. Kein Thema scheint zu ausgefallen zu sein, um es nicht mit Goethe in Verbindung zu bringen. Der Schatz seiner Gefühls- und Gedankenwelt dünkt schier unerschöpflich und wartet nur darauf, gehoben, oder, wie Spötter sagen, ausgeschlachtet zu werden.
Das Unbeschreibliche, durch fleißige Autoren zu Papier gebracht, wird dank hungriger Verlage auch gedruckt. Denn nicht nur die Kirche hat, wie Faust-Goethe beiläufig bemerkt, "einen guten Magen". Doch Vorsicht! Nicht alles, was als neu ausgegeben wird, ist es auch. Aber hat man erst einmal den Spreu aussortiert, so bleibt immer noch genügend Weizen übrig: Tagebücher, Lebenszeugnisse und Kulturgeschichtliches erschließen sein Werk und machen deutlich, dass es sich immer noch lohnt, sich mit Goethe zu befassen. Die Publikationen reichen von kritischen Überlegungen wie "Lesen die Deutschen überhaupt noch Goethe?" bis hin zu Goethe-Kalendern, Goethe-Brevieren und nicht zu vergessen, das gewaltige Goethe-Wörterbuch, das seit 1947 in Arbeit ist und von dem erst in diesem Jahr der dritte Band erscheint (von "einwenden" bis "Gesäusel"). Schließlich hat Goethe, wie ein kluger Kopf erkannte, mit einem Wortschatz von weit mehr als 80.000 verschiedenen Wörtern die "normale Sprachkompetenz eines Individuums weit überschritten". (Zum Vergleich: heutigen sogenannten Gebildeten, wenn sie hochtrainiert sind, hält man 15.000 bis 20.000 Wörter zugute. Adenauer soll dagegen nur mit 800 bis 1000 Wörtern ausgekommen sein.)
Welche Produkte mögen wohl das Goethe-Jahr überdauern? Noch ist es zu früh, um Bilanz zu ziehen. Doch eins steht jetzt schon fest: Soviel Goethe war nie, nicht zuletzt auch dank des Internets. Ermöglicht es doch virtuelle Reisen in die Welt des großen Dichters. Allerdings Possen, Ulk und Versuche, auf die Schnelle Geld zu verdienen, sind auch dabei. Aber die "Goethe-Bytes" können sich sehen und hören lassen. Von Ende Dezember 1998 bis zu Goethes 250.Geburtstag am 28.August werden täglich neue im Internet durch die Deutsche Welle präsentiert. Prominente tragen Passagen aus Goethes Werken vor. Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer liest einen Text zu Goethe und Währungsstabilität, Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf rezitiert über den Dichter und den Föderalismus, während Alfred Biolek das Lieblingsrezept des Weimarer Geheimrats verrät. Eine umfangreiche Sammlung mit Goethelinks findet man dagegen auf der Webseite jener Institute, die den Namen des Gefeierten tragen und in denen man im Ausland Deutsch lernen kann.
Aber zurück zu dem, was man, wenn man es "schwarz auf weiß besitzt, getrost nach Hause tragen kann", zurück zu den Büchern. Einige erinnern an seine Freunde und Zeitgenossen - wie etwa an Maximilian Speck von Sternburg und Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, andere wiederum an all die Frauen, die Goethes Lebensweg gekreuzt oder begleitet haben, an die Rätin Goethe, an seine Schwiegertochter Ottilie, an seine "Liebe für einen Sommer", an Werthers Lotte, an Bettina von Arnim, an Charlotte von Stein, an Marianne von Willemer und insbesondere an die vielgeschmähte und oft verkannte Ehefrau Christiane Vulpius, die ungemein tüchtig war und für ihren Mann stets treu gesorgt hat, der sie dann in ihrer Todesstunde schmählich im Stich ließ.
Kurz sei die Frage dazwischengeschoben: Wie hat Goethe das Alter ertragen, wie ist er mit dem Tod seiner Freunde fertig geworden? Er hat dabei jedesmal um Fassung ringen müssen. "Es gehört viel Mut dazu, in der Welt nicht missmutig zu werden" soll er einmal gesagt haben. Zu den Tragödien der Welt zwang er sich Gelassenheit auf, die wohl aus Selbsterhaltungstrieb kam,. Selbst zum eigenen Werk hielt er ironisch Distanz. Im Geschlechterstreit indessen hat sich Goethe, zumindest theoretisch auf die ewig-weibliche Seite geschlagen, die mit Iphigenie hinan zieht. Aber ob er den Feministinnen von heute wohl gesonnen gewesen wäre? Dabei wäre es wohl ganz auf diese angekommen. Aber was hielt Goethe vom männlichen Geschlecht. Ruth Klüger hat einmal auf "Goethes fehlende Väter" in seinem Oeuvre hingewiesen. War es daher folgerichtig, dass Henriette Herwig 1997 ihre Untersuchung über Geschlechterdifferenz, sozialen Wandel und historische Anthropologie in "Wilhelm Meisters Wanderjahre" den Titel gab: "Das ewig Männliche zieht uns hinab"?
Das Leben weniger Menschen ist so gut und von so vielen Autoren dokumentiert worden wie gerade das von Goethe, auch noch in unserem Jahrhundert von unterschiedlichen zeitgenössischen Schriftstellern wie Richard Friedenthal, Karl Otto Conrady, Ulrich Plenzdorf, Christoph Perels, Klaus Seehafer, Peter Matussek und Nicholas Boyle, dem wichtigsten Goethe- Biographien unserer Zeit. Während Karl Hugo Pruys eine erotische Goethe-Biographie schrieb, verfasste Kurt R.Eissler eine langwierige psychoanalytische Studie über den Dichterfürsten. Nah an ihn heran führt auch die "Charakterstudie" mit dem hübschen Titel: "Er sprach viel und trank nicht wenig". Haben wir damit den Menschen Johann Wolfgang Goethe gar und gar erfasst? Mitnichten, es bleiben noch viele Rätsel, und das ist gut so, und sicher ganz in seinem Sinne. Denn die eigene Seele suchte Goethe, trotz manchen Gefühlsüberschwangs, zu verbergen. Einiges in seiner Biographie sperrt sich dagegen, vereinnahmt zu werden. So wenig wie sein Leben für Heldenlegenden taugt, so wenig hat er, entgegen landläufiger Meinung für jede Lebenslage das passende Wort zu bieten. Er ist halt "kein Dichter fürs Poesiealbum" mahnte Michael Stürmer vor einiger Zeit.
Goethe hat sich immer wieder gewandelt im Laufe seines langen Lebens und sich immer wieder an neue Themen und Formen gewagt. Man sieht es an der Kluft, die die "Wahlverwandtschaften" vom "Werther" trennt. Ein solches Buch wie die "Wahlverwandtschaften" schreibt kein Fünfundzwanziger. Dazu braucht es Zeit. Ein Alterswerk ist auch der diesseitsverliebte, lebensbejahende "West-östliche Divan". "Inkommensurabel" war eines von Goethes Lieblingsworten. Das gilt auch für ihn und sein Werk, beide sind nicht auf einen Nenner zu bringen, nicht zu fassen und nicht auszuloten. Sie sind widersprüchlich wie das Leben selbst.
Neben zahlreichen Veröffentlichungen stehen uns heuer auch wieder unterschiedliche Faust-Aufführungen ins Haus, im Radio sogar eine Wiederholung von Gründgens legendärer Faust-Inszenierung. Für einige Vorstellungen wird mit dem Slogan "Mensch in der Sinnkrise" geworben. Hatten darum manche Soldaten den "Faust" im Tornister, als es in die mörderische Schlacht gegen Verdun ging? Doch Christen war der Faust, der die Gretchen-Frage nicht kirchenstreng beantworten wollte, oft zu sehr Heide. Gleichwohl wurde er immer ideologisch vereinnahmt und verfälscht und zur Projektion aller möglichen Ideen und Sehnsüchte benutzt, die je nach Jahreszeit und Zeitgeist der Deutschen Herz bewegten. Ruth Klüger wiederum gesteht in Ihrem Buch "Frauen lesen anders" - und spricht damit gewiss vielen Frauen aus dem Herzen -, dass sie sich wohl für "Fausts Zweifel und Versuchungen, aber nur mit leisem (oder auch mit tiefem) Unbehagen für Gretchens Hingabe" interessiert habe. Bekanntlich leitete man aus Faust häufig das "Faustische" als unseren Nationalcharakter ab. Daran knüpft auch Willi Jasper in seinem Buch "Faust und die Deutschen" an. Es sei eine flotte Neuerscheinungen und "ein Stück engagierter Unmutsliteratur" las ich unlängst in einer Besprechung. Denn Jasper nahm das Thema zum Anlass, um sich über Gott, Faust, Heidegger, Hitlers Architekten Speer, die Psychoanalyse, Goethes Ämterhäufung, Hans Schwerte alias Schneider, Daniel Goldhagen und Ernst Jünger, lang und breit zu äußern. Erinnert sei ferner an den zu einer Rockoper umgestalteten Faust, der schrill und laut seit einiger Zeit über die Bühnen geht.
Aber der rastlose Dr.Faust ist auch für allerlei Schabernack und Allotria gut und wurde in verschiedene Dialekte übersetzt, so dass wir heute den Faust sowohl auf sächsisch als auch auf hessisch und sogar den "Fauschd auf schwäbisch" lesen können. (Nun fehlt uns nur noch einer auf sauerländisch, Dantes Göttliche gibt es ja schon in dieser unvergleichlichen Sprache.)
Noch heute hat Goethe seine Widersacher, die nicht gewillt sind, in den allgemeinen Geburtsjubel mit einzustimmen oder ihn und seine Werk parodistisch anzugehen wie etwa Jens Sparschuh mit seinem Hörspiel "Der große Coup". Zu diesen gehört der amerikanische Germanist W.Daniel Wilson, der die politische Rolle, die der Geheime Rat Goethe im Herzogtum Sachsen-Weimar gespielt hat, aus heutiger Sicht streng unter die Lupe genommen hat und uns in seinem Buch "Das Goethe-Tabu" einen Mann präsentiert, der sich für dubiose Spitzeleien nicht zu schade gewesen sein soll und auch maßgeblich beteiligt war an der Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und an der Verletzung anerkannter Rechte seiner Mitmenschen. Also war der Dichter gar nicht so edel, hilfreich und gut, wie er seine "Iphigenie" und andere Gestalten uns vorleben ließ?
Goethe hat unverkennbar Fehler gehabt, und dass er kein Demokrat im heutigen Sinne und Juden nicht immer grün war, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Zugegeben, er hatte ein gestörtes Verhältnis zur Politik und war staatstragend obendrein. Weder mit der Französischen Revolution 1789 noch mit dem Ancien Regime hatte er viel im Sinn. Bei der Besetzung der Stadt Mainz bekannte er, er könne eher eine Ungerechtigkeit ertragen als eine Unordnung. "Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt", sagte Goethe einmal einer nationalpatriotisch ereiferten Gesellschaft und schrieb 1831 in einem Brief: "Die Leute wollen immer, ich soll Partei nehmen - nun gut, ich steh auf meiner Seite."
Über viele Dinge um sich herum, so sagte Nietzsche später, habe Goethe nie deutlich geredet. Zeitlebens habe er sich auf das feine Schweigen verstanden. Ein Schweigen, das später unter veränderten politischen Vorzeichen zum feigen Schweigen wurde und das Aufkommen der Nazis mitbegünstigte, wie der Historiker Fritz Stern unlängst festgestellt hat.
Allerdings waren Max Weber, Friedrich Meinecke, Gustav Radbruch und Ernst Troeltsch, die den Mut hatten, politische Wahrheiten offen auszusprechen, ausgewiesene Goethe-Kenner und Goethe-Verehrer. Die Studenten der "Weißen Rose" wiederum, von Stern wegen ihrer Zivilcourage gelobt, beriefen sich in ihren Flugblättern just auf diesen Goethe, um von ihren Landsleuten die Rückkehr zur Humanität und die Wahrnehmung der barbarischen Verbrechen zu fordern.
Auch andere negative Seiten, deren Schatten bis heute reichen, werden Goethe angekreidet: die Entpolitisierung der Kunst, das Verständnis der Kultur als harmonischer Zusammenhang und die Verdrängung der Notwendigkeit von Streitkultur. Er habe das Bild der Antike benutzt, betonte Bernd Witte auf einer Konferenz in Rom, um die damaligen Auseinandersetzungen und Gegensätze zu neutralisieren.
Immerhin war Goethe ein polyglotter, europäisch-abendländisch-humanistisch geprägter Kosmopolit, der in Deutschland leider recht selten vorkommt und mitunter sogar als verachtenswert galt. Der Dichter war, bei aller vermeintlich "konservativen" Weltanschauung, von erstaunlicher Vorurteilsfreiheit. Man denke nur an seine "unstandesgemässe" Heirat mit Christiane und an sein offenes Bekenntnis zu seiner Sinnlichkeit. Zudem war er ein hart arbeitender Autor und Minister, der sich in Ilmenau redlich darum mühte, Armut und Korruption zu besiegen und der schon damals, wenn auch vergeblich, versuchte, aus der darniederliegenden Landschaft eine blühende zu zaubern. "Voilà un homme!" signalisierte mir eine seine Bewunderin im Internet. Angesichts solcher Vorzüge ist es kein Wunder, dass ein Verlag "Goethe für das dritte Jahrtausend" verspricht, dass ein Buch "Goethe und Europa" heißt und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" in ihrer Silvesterausgabe vom 31.12.1998 unter "Fremde Federn" eine Zwischenbetrachtung abdruckt, die mit folgendem Wortlaut beginnt: "Wir befinden uns nunmehr auf dem Punkte, wo die Scheidung der älteren und neueren Zeit immer bedeutender wird. Ein gewisser Bezug aufs Altertum geht noch immer ununterbrochen und mächtig fort; doch finden wir von nun an mehrere Menschen, die sich auf ihre eigenen Kräfte verlassen..." Am Ende erfährt der Leser dann: "Der Verfasser war Politiker und Schriftsteller in Weimar."
Nicht selten sind dem Dichter Goethe Widersacher aber auch durch den Schulunterricht erwachsen, durch Lehrer, die aus ihm einen Götzen machten. Heute sei der "Faust" den Schülern nicht mehr zuzumuten, bedauerte kürzlich ein Oberstudiendirektor aus Bayern in der Tageszeitung "Die Welt". Über Werthers Ekstasen lachten sie bloß, "und was vermöchten die MTV-verwöhnten Kinder mit diesem Gedicht anfangen: "Warum gabst du uns die tiefen Blicke,/Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,/ Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke/ Wähnend selig nimmer hinzutraun?"
Wahrscheinlich wüssten die Besucher der rund 150 Goethe-Institute in fast 90 Ländern der Welt mehr über Goethe als die Mehrzahl der deutschen Schulabgänger. Ähnlich äußerte sich vor etlichen Jahren auch der russische Dichter Lew Kopelew. Aber findet wirklich, wie unser bayerische Oberstudiendirektor beklagt, in Sachen Goethe noch immer "eine Art von Leseverhinderungserziehung" statt? Briefe oder besser gesagt Mails, die ich aus dem Internet erhielt, sprechen eine deutlich andere Sprache.
Goethe feiern und verdrängen, das ging für die Mehrheit lange Zeit Hand in Hand. Die Goethe-Rezeption in Deutschland war immer auch ein Spiegel der politischen und kulturellen Verfasstheit des Landes gewesen. Leppmann hat das in seiner Rezeptionsgeschichte "Goethe und die Deutschen" eindrücklich dokumentiert.
Als der Dichter im März 1832 starb, traten die Schriftgelehrten auf den Plan und stellten ihn auf einen Sockel. Im Wilhelminischen Zeitalter ließ das Bildungsbürgertum keine Festrede beginnen oder enden ohne eine Hymne auf "Unseren Goethe". Jede Epoche hat sich einen Goethe nach Maß aus dem Gebirge seiner Worte und Werke geholt. Selbst die Nazis taten es und stilisierten ihn wie Generationen vor ihnen zum Fixstern geistiger Orientierung, und bedienten sich seiner zur Festigung deutscher, völkischer Selbstüberhebung, obwohl sie letzten Endes es mehr mit Schiller und Nietzsche hielten. In Hitlers Bibliothek, zu der die Liste bei Aufräumarbeiten im Reichstag gefunden worden war, sollen die Werke Goethes sogar ganz gefehlt haben.
Für die Generation der sechziger Jahre war der Dichter passé. Allenfalls ließ man Despektierliches über ihn verlauten, wie in den ersten Januartagen 1999 Willi Winkler in der "Weltwoche". Goethes "Italienische Reise", befand er, sei wohl der langweiligste Bericht, den je ein Tourist geschrieben habe. Was man heute feiere, sei nur noch ein "Phantom", "ein Zöpfchenträger und Rotweintrinker, ein neosachlicher Scherenschnitt und der Großvesir des wiedervereinigten Deutschland." Der zweite Faust sei eine abstoßende Rumpelkammer aus Ideen, die der Minister in fünfzig oder sechzig Jahren an sich vorbeidefilieren ließ. Kläglich seien auch seine Romane, vor allem die von Wilhelm Meister, "lauter zusammengestoppeltes Zeug" und seine naturwissenschaftliche Ideen reine "Wahnvorstellungen". Die Zeitläufte überdauern, würden nur seine Gedichte. und der junge Goethe, der Goethe vor Weimar, das allein sei der wahre.
Goethe-Spezialisten, wirkliche und vermeintliche, gibt es, so will es scheinen, wie Sand am Meer.
Jörg Drews hält Goethe für einen experimentellen Autor, der Genres erfand und mit Genres spielte und viel Fragmentarisches hinterlassen habe.
Goethe war nicht nur Dichter, er war auch ein Naturforscher. Trotz seines Welterfolgs, den er sich mit "Werther" im Alter von 25 Jahren erschrieben hat, ließ er dann später für Jahre das Dichten ganz sein, weil er sich für Naturkunde mehr interessierte, anstatt sein Leben lang einen "Werther" nach dem anderen zu produzieren. Auch wenn ihn die empirisch, exakt wissenschaftlich forschenden Naturwissenschaftler nicht recht wahrnehmen oder nicht recht ernst nehmen, so erweisen Goethe als Naturforscher doch manche Autoren noch tiefe Reverenz, wie etwa Siegfried Unseld mit "Goethe und der Ginkgo" oder Wilfried Liebchen mit seinem im Eigenverlag herausgebenen sorgfältig gestalteten Bändchen "Goethes Farbenlehre 1999", in dem man nicht etwas über Farben lernen kann, sondern über eine grundsätzliche Naturerkenntnis, die für zahlreiche Lebensbereiche nützliche Lehren enthält. Reinhold Sölchs "Die Evolution der Farben, Goethes Farbenlehre in neuem Licht" muss in diesem Zusammenhang ebenso erwähnt werden wie "Goethe und die Verzeitlichung der Natur". Diese bringe uns zwar, schrieb ein sachkundiger Rezensent, nicht gerade Goethe näher, schlage aber einen spannenden wissenschaftlichen Bogen zur heutigen Zeit und mache auf ein Phänomen aufmerksam, das in Goethes Zeit und mit Goethe seinen Anfang nahm: Die Ablösung räumlicher, statischer Betrachtung der Natur durch eine evolutionäre, zeitliche, dynamische. Dass des Geheimrats Forschungen, ein wahrhaft weites Feld war, das erfährt man auch durch "Goethe und die Naturwissenschaften" von Otto Krätz. Dagegen läßt "Goethes Garten" ein aufwendig aufgemachtes Taschenbuch mit einer CD, angepriesen als "sinnlicher Hörweg durch die inneren und äußeren Pflanzungen des berühmten Botanikers und Geheimen Rates", Schlimmes befürchten.
"Goethe war nie weg", so beginnt das so bezaubernde wie tiefsinnige Buch "Goethe-Reisen". Es befasst sich damit, was Goethe über das Reisen dachte, wie er seine Reisen inszenierte, so dass die Zurückgebliebenen ständig genötigt waren, über den "abwesenden Goethe" zu sprechen. Auf diese Weise hat er die Lücke, die er hinterließ, vollständig ausfüllt.
Ein Gourmet und Genießer war er auch, der in späteren Jahren nicht gerade gertenschlanke Geheimrat. Davon zeugen die beiden Bände "Essen und Trinken mit Goethe" und "Zu Gast bei Goethe, garniert mit Bildern, Geschichten und Anekdötchen. Ob die beiden Bände "Er sprach viel und trank nicht wenig" und "Liebte Goethe junges Gemüse?" auch in diese Rubrik fallen, das möge der Leser bitte selbst entscheiden.
Natürlich fehlt es nicht an Gewinnspielen und Wettbewerben zu Goethes 250. Geburtstag. Aus diesem Grund wandeln die Schülerinnen und Schüler Nordrhein-Westfalens auf Goethes Spuren. Ausgeschrieben wurde der landesweite Wettbewerb vom Düsseldorfer Goethe-Museum, damit im Jubeljahr, betonte der Museumschef Volkmar Hansen, "nicht nur universitär" mit Goethe umgegangen werde. Schließlich fänden sich in seinem Werk für Kinder und Jugendliche geeignete Texte, die auch fächerübergreifend behandelt werden können. Der Mann hat recht. Sogar bei Kindern kommt Goethe schon an, vorausgesetzt es finden sich begabte Maler, die seine Geschichten und Gedichte humorvoll ins Bild setzen wie Wolf Erlbruch oder Hans Traxler, der das von Peter Härtling zusammengestellte Bändchen mit Balladen und kurzen Gedichten "Ich bin so guter Dinge. Goethe für Kinder", illustriert hat.
Die Frankfurter Rundschau druckte Erich Kästners Beitrag zum Goethe-Jahr 1949 im Wortlaut wieder ab. "Goethe-Derby vor dem Startschuss" hatte Kästner den Artikel genannt. Hier einige Auszüge: "Das Rennen des Jahres hat begonnen: das Goethe-Derby über die klassische 200-Jahr-Strecke! Ein Riesenfeld! Was da nicht alles mitläuft!..Es dürfte ziemlich schrecklich werden. Von der falschen Feierlichkeit bis zur echten Geschmacklosigkeit wird alles am Lager sein... Die Schuld trifft das Vorhaben. Goethe, wie er's verdiente, zu feiern, mögen ein einziger Tag oder auch ein ganzes Leben zu kurz sein. Ein Jahr aber ist zu viel. "
Unter dem Motto "Goethe für alle" wird Goethes Geburtsstadt Frankfurt das Jubiläum mit einer Fülle von Veranstaltungen groß feiern. Schwerer hat es dagegen Weimar, eingeklemmt zwischen deutscher Kulturgeschichte und der Bürde zweier Diktaturen. auch wenn man sie in diesem Jahr zur Kulturhauptstadt Europas ausgerufen hat. Immerhin liegt in seiner Nähe das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald, eines der "erschreckendsten und realsten Symptome eines kulturellen Zusammenbruchs, der in der Geschichte seinesgleichen sucht", schreibt Joachim Burkhardt in seinem 1993 erschienen Buch "Ein Film für Goethe".
Viel ist daher von der Janusköpfigkeit Weimars die Rede. "Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald", mahnte 1949 der Germanist Richard Alewyn, bestürzt über den damaligen unbekümmerten Goethe-Kult, nach seiner Rückkehr aus dem Exil. Weimar sei ein besonders problematischer Fall, meint ein Literaturwissenschaftler unserer Zeit, Georg Bollenbeck. Die Stadt lasse sich schwerlich zum makellosen Musenhof stilisieren, ist sie doch der Ort der Schuld (und mit Blick auf Martin Walser nicht nur der Schande) des deutschen Bildungsbürgertums.
Heute nimmt offensichtlich kaum noch jemand Goethe in Dienst oder entwirft skrupellos ein Bild von ihm nach Gruppeninteresse und kulturpolitischem Gusto. Er ist nicht mehr die Projektionsfläche von Ideologen - und das ist gut so. Was aber hat Goethe mit uns noch zu schaffen? Ich meine, eine ganze Menge. Denkt man ihn sich aus unserer Kultur heraus, bleibt zwar noch ziemlich viel übrig, aber die Lücke wäre riesengroß, zumindest für alle, denen irgendwann einmal eine Ahnung aufgegangen ist von seiner Größe und seinem Genius, so fehlerhaft und anfechtbar dieser nicht immer große Geist in manchem auch gewesen sein mag. Um jetzt die im Titel gestellte Frage beantworten zu können: "Wie viel Goethe braucht der Mensch?", so muss man wohl oder übel zugeben: von ihm brauchen wir alle eine große Portion, insbesondere an Bescheidenheit und Weltläufigkeit.
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