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Philosophisch gehaltvoller als bei Jung wird es dann in dem Sammelband: HERBERT KESSLER (Hrsg.): Das Lächeln des Sokrates. Sokrates-Studien IV. 358 S., Die Graue Edition. Servicecenter-Fachverlage, Kusterdingen 1999; ISBN 3-906336-25-5. EUR 19,-

Das Thema Sokrates scheint in der Tat unerschöpflich zu sein, wie die vierte Fachtagung im Jahr 1998 ergeben hat, deren Ergebnisse, angereichert durch zusätzliche Texte, hier gedruckt vorliegen

Den Anfang macht Gerhart Schmidt mit "Sokrates in Platons Höhle." Bekanntlich hat Platon, der sich als Sokrates' legaler Erbe verstand, mit dem Höhlengleichnis zum Ausdruck gebracht, dass die Seelen an den Körper gefesselt seien, durch falsche Meinungen und Begierden, die dem Körper schmeicheln und die zugleich Stricke für die Seele sind. Zu diesen Schatten gehören beispielsweise auch "politisch-moralische Fehlmeinungen etwa über Gerechtigkeit" (21). Anders steht es dagegen mit dem befreiten Sokrates. Er wird sich der Gefangenschaft seines Nichtwissens bewusst.

Klaus Döring befasst sich mit "Sokrates im Urteil der frühen Christen". Der christliche Philosoph Flavius Justinus, der 165 den Märtyrertod starb, nahm, so Döring, wiederholt auf den griechischen Philosophen Bezug, etwa mit dessen Ausspruch zu den Richtern "Wisset wohl, wenn ihr mich tötet, ..dann werdet ihr nicht mir, sondern allein euch selbst Schaden zufügen." Die Gemeinsamkeit zwischen Sokrates und den Christen, die aus religiösen Gründen verfolgt wurden, liegt darin, dass diese wie Sokrates vom absoluten Vorrang der Seele überzeugt waren. Justin sah im Sokratesprozess und im Christenprozess offensichtlich zwei nur wenig voneinander verschiedene Erkenntnisformen eines und desselben Vorgangs. Auch der Platoniker Marsilio Ficino (1433-1499) bemühte sich in der Renaissance, Christentum und Platonismus in Einklang zu bringen und betrachtete Sokrates ebenso wie Platon gleichfalls als einen Vorläufer Christi. Die Situation freilich hatte sich inzwischen geändert. Zur Zeit Justins musste sich die neue christliche Lehre gegen die Tradition der heidnischen Philosophie ihr Recht erkämpfen. Jetzt in der Renaissance bemüht sich die antike Philosophie, sich ihre alten Rechte in der Auseinandersetzung mit dem Christentum zurückzuerobern.

Karin Alt weist in ihrem Beitrag "Sokrates und Sokratisches bei christlichen Autoren des 3. und 4.Jahrhunderts" darauf hin, dass einige Philosophen wie Tatian und Tertullian die griechische Philosophie schroff ablehnten, andere wiederum eine Nähe des christlichen Gottesglaubens zu Sokrates konstatierten, auch wenn sie griechischen Philosophen das Erlangen der vollkommenen Wahrheit nicht zugestehen wollten, weil nach ihrem Verständnis diese nur durch Gott offenbar werden könne.

Renate Vonessen äußert sich über den "sokratischen Geist bei Montaigne" und legt dar, dass sich Montaigne im Februar 1571 in seinen Turm zurückgezogen habe, um sich nur noch seinen Studien zu widmen. Zum Gegenstand seiner Studien machte er sich selbst, um zu verstehen, wie die ursprüngliche Natur des Menschen beschaffen sei. Seine wichtigsten Helfer bei dieser Selbst-Prüfung waren Autoren und 'Helden', die zu diesem Thema etwas beigetragen haben, neben Homer, Alexander und Epaminondas vor allem Sokrates, weil an diesem am vollkommensten sichtbar wird, "wie der Mensch ursprünglich gedacht war und wie er aus diesen ersten Voraussetzungen sein Leben in Verantwortung führen kann" (141).

Daniel Krochmalnik setzt sich mit Moses Mendelssohn und den Sokrates-Bildern des 18.Jahrhunderts auseinander. Unterschiedliche Gruppen und Richtungen, führt der Autor aus, haben Sokrates mit den ihnen genehmen Zügen aus der reichen doxographischen Tradition ausgestattet. Aufklärer bekennen sich zuweilen zu einem "gegenaufklärerischen" Sokrates und vice versa. Rousseau beispielsweise stilisierte sich zu einem kynischen Sokrates. Lessing hat ihn sogar, nachdem er den ersten "Discours" Rousseaus rezensiert hatte, als neuen Sokrates begrüßt, "welcher der Tugend gegen alle gebilligten Vorurteile das Wort redet"(157). Moses Mendelssohn hätte dagegen gern "Socrates zum Muster und Leßing zum Freund" gehabt.

Der Autor erinnert ferner an Diderots Skizzen zu einem philosophischen Drama "Der Tod des Sokrates" und macht deutlich, dass uns bei Diderot und Voltaire ein deistischer oder materialistischer Sokrates begegnet. Bei Hamann haben wir es dagegen mit einem christlichen Sokrates zu tun. Mendelssohns' Sokrates wiederum lässt sich im breiten Spektrum der zeitgenössischen Sokrates-Deutungen verorten.

Jürgen Werner behauptet ebenfalls, dass kaum eine andere Gestalt für die Epoche der Aufklärung so bedeutsam gewesen sei wie die des Sokrates. Man habe das 18.Jahrhundert geradezu das "Sokratische Zeitalter" genannt, in dem man "Sokratische Freundschaften" gepflegt und "Sokratische Gespräche" geführt habe. Vor allem die philosophischen Romane von Christoph Martin Wieland hatten, wie schon Friedrich Schlegel festgestellt hatte, ein "Sokratisches Gewand". Werner schließt mit der schönen Formulierung: "Wieland schuf den Sokrates sich zum Bilde, zum Bilde Wielands schuf er ihn"(239).

Gunter Scholtz beruft sich in seinem Essay "Sokrates und die Idee des Wissens" auf Schleiermacher, für den mit Sokrates in Griechenland die systematische Philosophie beginnt. Schleiermachers Auffassung von Sokrates als Wendepunkt der Geschichte wurde auch von weiteren Philosophen, wie etwa von Hegel, wenngleich mit etwas anderen Argumenten, unterstrichen. Mit Sokrates, so Hegel, breche das moderne Prinzip, nur dem eigenen Gewissen und der eigenen Einsicht gehorchen zu wollen, in die alte Welt ein, und darum sei diese Welt zugrunde gegangen. Nietzsche hat diese Sichtweise wirkungsreich bestätigt. Er entdeckte in Sokrates den Beginn des modernen Unheils, des intellektualistischen Irrwegs, so dass Sokrates für Nietzsche die "fragwürdigste Erscheinung des Altertums" war. Denn die Suche nach Wissen und Wahrheit täuscht, laut Nietzsche, über die wahre Wirklichkeit, den dionysischen Weltgrund, hinweg. Deshalb setzte Nietzsche seine Hoffnung auf die Kunst.

Schon Friedrich Schlegel hat 1795/96 mit Sokrates die moderne Geschichte beginnen lassen. Heute indessen weckt Nietzsches Kritik eine größere Faszination als etwa das Sokrates-Bild von Schleiermacher. Wer hat Recht? Der Verfasser kommt zu dem Schluss, "dass gerade im Zeitalter der Wissenschaft das sokratische Fragen seine hohe Aktualität behalten hat.." (267).

Verena Peters skizziert Sören Kierkegaards sokratisches Christentum und macht darauf aufmerksam, dass Kierkegaard Sokrates als einen negativen Philosophen gezeichnet hat, der nicht zur Wahrheit, sondern zum Nichts und zur Verzweiflung führt. Robert Heiß hält Kierkegaard für einen "unsokratischen Sokratiker", der aus der Schwermut gelebt hat. Für den dänischen Philosophen existierte das Christentum nicht mehr, da dieses, nach Kierkegaards Überzeugung, der Sünde verfallen sei und daher keine Gegenwart, sondern nur eine Vergangenheit habe. Kierkegaards Christentum entsprang dem Überdruss am Bestehenden, der zugleich Überdruss an der Kultur und am modernen Menschen war. Hat Kierkegaard mehr die Rolle eines Sokrates seiner unsokratischen Zeit gespielt oder eine ganz andere, etwa die eines Savonarola? (322) fragt sich Robert Heiß am Ende seines Beitrags.

Vincent Berning wagt in "Neosokratik bei Gabriel Marcel" einen Vergleich zwischen Gabriel Marcel und Sokrates. Auch Marcel war davon überzeugt, dass der Philosoph immer wieder wie Sokrates unter die Menschen gehen müsse, um sie im Gespräch oder in Diskussionen nach Vorträgen oder durch Schriften zum Guten zu bewegen. Dieses Wächteramt hat Marcel für die Philosophen nachdrücklich eingefordert.

Insgesamt ist es den Autoren dieses Bandes recht gut gelungen, die Wirkungen, die Sokrates in den verschiedenen Epochen gehabt hat, ins rechte Licht zu rücken.


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