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ERNST R:SANDVOSS: Die Wahrheit wird euch frei machen. Sokrates und Jesus. 166 S., Deutscher Taschenbuchverlag, München 2001; ISBN 3-423-30806-0, EUR 9,50
Der Saarbrücker Philosophiehistoriker vergleicht in seiner eher historisch als philosophisch ausgerichteten Studie Wirkungsweise und Funktion der beiden "Wegweiser der Menschheit", die an der Schwelle der gesellschaftlichen Entwicklung (Sokrates) und der religiösen Entwicklung (Jesus) eine Wende zum Besseren herbeiführen wollten. Für beide galt "Die Wahrheit wird euch frei machen". In der unbedingten Liebe des Sokrates zur Wahrheit und in der unbedingten Liebe Jesu zu Gott liegt für den Autor der Grund für deren zeitlose Wirkung und anhaltende Bedeutung. Sokrates wandte sich gegen die Unwissenheit seiner Zeitgenossen, Jesus gegen Gewinnsucht, Korruption und Scheinheiligkeit. Beiden kommt eine einzigartige Bedeutung für das fragile Bauwerk unserer Zivilisation zu. Doch gibt es gravierende Unterschiede zwischen beiden. Beide kommen aus verschiedenartigen Kulturen. Auch ist ihr Altersunterschied beträchtlich. Sokrates stand am Ende seines Lebens, als er sterben musste, Jesus in der Blüte seiner Jahre. Ihre Sicht war daher unterschiedlich. Auf der einen Seite haben wir sokratische Ironie, Gelassenheit und Abgeklärtheit, auf der anderen Seite jesuanische Leidenschaft, Radikalität und Abwesenheit von Selbstzweifeln. Auch darf man den Gegensatz von Religion und Philosophie nicht unterschlagen. Appellierte doch der eine an die Vernunft und wollte zur Weisheit erziehen. Der andere forderte Glauben und versprach das Heil. Die alten Griechen erkämpften ihre Freiheit in den Perserkriegen, den Juden wurde sie (zeitweise) geschenkt. Der Geist der griechischen Kultur war prometheisch, am Handeln, an Siegen und Heroen orientiert, in der jüdisch-christlichen Weltsicht dominiert das Leiden mit Klagemauer, Jammertal, Kreuz, Märtyrer und Fremdbestimmung. Die kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Abendland waren gewaltig. Zwischen hellenisch-sokratischer Selbstbefreiung und jüdisch-jesuanischer Selbstaufgabe besteht offensichtlich keine Verbindung und damit keine Vergleichsmöglichkeit, ähnlich wie zwischen Philosophie und Offenbarungsreligion. Sokrates hatte Schüler, Jesus Jünger. Von einem guten Schüler erwartet man, dass er den Lehrer übertrifft, von einem Jünger, dass er seinem Meister nachfolgt, nicht dass er diesen überholt.
Doch über alle Unterschiede hinweg verband beide ein ähnliches Schicksal und ein gleiches Ziel, nämlich das Wohl der gesamten Menschheit. Der eine berief sich auf sokratische Wahrheitssuche, der andere auf jesuanische Gottsuche. Beide wollten die Menschen zum Umdenken, zur Umkehr und Selbsterneuerung bewegen.
Sokrates kämpfte gegen Relativierung, Subjektivierung und gegen die Abschaffung von Gesetzen, von Recht und Moral durch die Sophisten, gegen die Lehre vom Recht des Stärkeren und deren Anwendung in der politischen Praxis, Jesus gegen Formalisierung, Instrumentalisierung und Kommerzialisierung der Religion durch eine Priesterkaste. Beiden ging es um Befreiungsversuche der Menschheit von den Fesseln pseudointellektueller oder pseudomoralischer Machteliten. Sokrates Devise "Tugend ist Wissen" bildet die Grundlage für jeden echten Fortschritt in der Wissenschaft. Jesus führte den Kampf um das Seelenheil seiner Mitmenschen. Eine echte Chance hatten sie freilich nicht, behauptet Sandvoss kühn und sieht dennoch in Sokrates und Jesus wichtige Katalysatoren der Evolution und des geistigen Fortschritts. Denn die Menschlichkeit, wie sie Sokrates und Jesus gelehrt und vorgelebt haben, gehört zweifellos zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit.
Aber es gab auch antisokratische Wege, zum Beispiel bei Hegel und erst recht bei Nietzsche. In diesem Zusammenhang kommt der Autor auf unlängst untergegangene Ideologien zu sprechen wie den Nationalsozialismus und den Marxismus. Aber wenn er dann zum Rundumschlag gegen Turbo-Kapitalismus, darwinistische Ideologie, Entmythologisierung, Dogmatisierung des Christentums, Instrumentalisierung der Wissenschaft, "Sokratesferne" der modernen Gesellschaft ausholt, hat er damit nicht nur den wissenschaftlichen Boden verlassen, sondern dann werden seine Ausführungen auch ausgesprochen flach und pauschal.
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