Inhaltsverzeichnis |
HERBERT KESSLER (Hrsg.):Sokrates. Nachfolge und Eigenwege. Sokrates-Studien V. 305 S., Die Graue Edition. Servicecenter-Fachverlage, Kusterdingen 2001; ISBN 3-906336-31-X. EUR 19,-
Der Band enthält überarbeitete Vorträge, die bei der 5.Wissenschaftlichen Arbeitstagung der Sokratischen Gesellschaft in Mannheim vom 23. bis 25.November 2000 gehalten worden sind. In erster Linie waren hier, wie Reinhard Häußler im Vorwort betont, "Emeriti und Entpflichtete" zusammen gekommen, "um aus jahrzehntelangem, erfahrungsgesättigtem Umgang mit den Dingen heraus auf ihre je eigene Weise Sokrates zu huldigen"(8). Ein gewisses Optimum an fachlicher Kompetenz sei also vorhanden gewesen, durch die ein relativ geschlossenes Bild sokratischer Ausstrahlung auf die antike Philosophie vermitteln worden sei - mit Nietzsche als modernem Antipoden, wobei ein philologisches Übergewicht geherrscht habe.
Reinhard Häußler leitet seinen Beitrag "Das sokratische Tugendwissen. Über Grundlagen und Grenzen einer Denkform" mit einem Zitat von Karl Jaspers ein, das besagt, dass "Sokrates dachte, der Mensch kann nicht wissentlich Unrecht tun." Es folgt ein Hinweis auf Klopstock und Ewald von Kleist, die in ihren Oden die göttliche Tugend als "Lenkerin im Meer des Lebens" priesen sowie auf Spinozas Ausspruch: "Die wahre Tugend ist das Leben unter Leitung der Vernunft." Auch Schiller dichtete: "Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall, der Mensch kann sie üben im Leben." Heute sei allenfalls, gibt Häußler zu bedenken, nur noch von Tugenden die Rede. Man spricht zwar von preußischen Tugenden, gleichwohl tragen diese noch immer den Ruch des Ambivalenten an sich. Der Autor stellt Wissen und Tun im griechischen Denken vor und um Sokrates heraus und hebt ebenfalls hervor, dass Gutsein für Sokrates Gutwissen und Guthandeln eins gewesen sei, weil er davon überzeugt war, dass der Mensch im Zustand der Freiwilligkeit keinem Menschen Unrecht zufügen könne. Aber klar war ihm auch, dass das Unrecht, das man selbst erfährt, die eigene Seele nicht berührt, um so mehr jedoch die des Übeltäters. Sokrates ging es um tugendhaftes Leben und Seelenheil und barg einen Wissensbegriff in sich, der jenseits des Empirischen angesiedelt ist.
Für Albrecht Dihle steht ebenfalls fest, dass die von Sokrates geführte und demonstrierte Lebensweise ihn zur Schlüsselfigur in der Philosophiegeschichte gemacht hat. Dem Nachdenken über Lebensformen gab Sokrates eine neue Richtung und identifizierte mit seiner, der sogenannten sokratischen Maxime die Philosophie als Vorgang steter Reflexion. Rechtes Handeln folgt nur aus rechtem Wissen. Darum denkt und handelt jener am klügsten, wer sich seines Nichtwissens bewusst ist und sich deshalb in jeder Situation und angesichts jeder Einzelfrage einer Prüfung unterzieht.
Selbst Christen beriefen sich gern auf das sokratische Erbe, denn sie selbst und ihre Gegner verstanden den neuen Glauben wie den der Juden als Philosophie. Beruhte er doch wie diese auf der Auslegung autoritativer Texte, die gleichfalls zum rechten Leben führen sollten.
Renate Zoepffel äußert sich über Sokrates und die Pythagoreer, Michael Erler über Sokrates' Rolle im Hellenismus, Woldemar Görler über Ciceros' Sokratesbild und Michael von Albrecht über Senecas Sokrates' Rezeption.
Vorwiegend hat sich die Nachwelt auf die Seite des Sokrates gestellt. Diesen Satz von Eduard Spranger greift Ernst Sandvoss in seinem Aufsatz "Sokrates und Nietzsche" auf. Hegel und Nietzsche indessen stimmten beide darin überein, merkt Sandvoss an, dass Sokrates den Kern des griechischen Wesens verneint und die Auflösung des griechischen Volks herbeigeführt habe.
Scharf verurteilt Sandvoss Nietzsches Attacken gegen den griechischen Philosophen. Nietzsches Sokrates' Bilder seien eher Karikaturen und Projektionen eigener Zustände gewesen als glaubwürdige Sokratesinterpretationen, meint Sandvoss und schreibt weiter: "Das Einzige, was man zur Entlastung dieses Denkers anführen könne, der Sokrates als Kranken, Verbrecher und Verrückten, Jesus als Idioten, das Christentum als Schandfleck der Menschheit und Kant als cant bezeichnet hat, der Menschenrechte ablehnt und Menschenwürde pervertiert, sowie der Grausamkeit und Bestialisierung das Wort redet, ist sein krankhafter Geisteszustand" (300).
Eine Ansicht, über die man gewiss trefflich streiten kann.
uhomann@UrsulaHomann.de | Impressum Inhaltsverzeichnis |