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PETER UNRUH: Sokrates und die Pflicht zum Rechtsgehorsam. Eine Analyse von Platons "Kriton". Nomos Verlag, Baden-Baden 2000; ISBN 3-7890-6854-3, EUR 34,--

Unruh analysiert gründlich und gewissenhaft den Dialog "Kriton", der im Vergleich zu anderen Dialogen Platons bislang von der (rechts-)philosophischen Literatur in der kontinentaleuropäischen Sphäre geradezu stiefmütterlich behandelt wurde, im Gegensatz zur anglo-amerikanischen Diskussion, wo er seit einigen Jahrzehnten eine gesteigerte und anhaltende Aufmerksamkeit genießt. Dabei sind die im Kriton aufgeworfenen Fragen über die Pflicht zum Rechtsgehorsam und die entsprechenden Antworten, hebt der Verfasser hervor, nicht nur für einen bestimmten Kulturkreis relevant. Vielmehr seien sie von allgemeiner Bedeutung. Merkwürdigerweise seien bisher nur wenige Autoren zu einer positiven Einschätzung gelangt.

Der Dialog beginnt mit der Ankunft Kritons in der Gefängniszelle. An ihn hat Sokrates, nach dem Bericht Platons, seine berühmten letzten Worte auf dem Sterbebett gerichtet: "O Kriton, wir sind dem Asklepsios einen Hahn schuldig...". Kriton war es auch, der dem Philosophen nach Eintritt des Todes die Augen schloss.

Ins Gefängnis gekommen war Kriton zunächst, um Sokrates zur Flucht aus dem Gefängnis zu überreden, damit er der Todesstrafe entgehe. Das Volk von Athen hätte diese Handlungsweise durchaus verstanden und gebilligt. Nicht gebilligt aber hätte das Volk, dass Kriton, obwohl dazu imstande, Sokrates nicht hätte retten wollen. "Denn die Menge wird nicht glauben", hält Kriton Sokrates vor, "dass du nicht von hier habest weggehen wollen, obwohl wir dich drängten"(47).

Doch der ruhige und besonnene Sokrates, der dem stürmischen und zur Skrupellosigkeit neigenden Kriton weit überlegen war, lehnte den Vorschlag ab, so sehr Kriton ihn auch bedrängte und im Sinne seines Vorschlages argumentierte.

Unruh sieht in Kriton einen "Repräsentanten der Standardmoral", der der Überzeugung anhing, dass man die öffentliche Meinung achten müsse. Um Kriton die Ungerechtigkeit der Flucht einsichtig zu machen, greift Sokrates dessen Moralvorstellung an der Wurzel an und bezweifelt sehr, ob es auf die Meinung der Menge überhaupt ankomme. Ausschlaggebend für Sokrates ist allein die Erwägung der wirklich vernünftigen Leute, mithin die Vernunft. Denn weder die Verbannung noch der Verlust der bürgerlichen Ehren, allein die Ungerechtigkeit, der negative Effekt auf die Seele ist in den Augen von Sokrates tatsächlich ein Übel.

So hat sich Kriton mit seinem Plädoyer für eine Flucht des Sokrates aus dem Gefängnis als ein Vertreter der konventionellen Moralvorstellungen im zeitgenössischen Athen erwiesen. Ihm erscheint der originär vernunftorientierte philosophische Standpunkt nicht sehr überzeugend. Daher nimmt er den Hinweis auf die Seele als größtem Gut nicht auf. Gegenüber seiner unreflektierten Wiedergabe und Anwendung der konventionellen Moralvorstellungen besteht Sokrates auf einer philosophischen Untersuchung der Streitfrage und bleibt damit auch angesichts des Todes seiner Überzeugung treu, dass nur ein geprüftes Leben lebenswert sei und die Vernunft nicht der Macht geopfert werden dürfe.

Die Disposition des Menschen zum Gerechten, Schönen und Guten ist für Sokrates von größerer Wichtigkeit als die körperliche Integrität, erklärt Unruh. Die Gerechtigkeit verhält sich zur Seele wie die Gesundheit zum Körper. Ebenso wie in Fragen der körperlichen Integrität ist in Gerechtigkeitsfragen nicht die öffentliche Meinung, sondern der Ratschlag der Experten (in diesem Falle des Moralexperten) einzuholen und zu befolgen. Bei Missachtung droht die Seele Schaden zu nehmen. Überordnung der Gerechtigkeit über das bloße Leben ist mithin geboten. Eine solche Beeinträchtigung liegt, nach den Aussagen aus dem "Gorgias" und dem "Thrasmachos", in der Ungerechtigkeit. Sie ist unter allen Umständen zu meiden, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Denn der Verlust des Lebens kann nur die körperliche Integrität beeinflussen; die Ungerechtigkeit aber verschlechtert die Seele. Die Seele ist ihrerseits "wertvoller" als der Körper, und somit ist primär auf die Gerechtigkeit des eigenen Handelns und nicht auf den Schutz des bloßen Lebens zu achten.

Die Schlechtigkeit und Hässlichkeit des Unrechttuns ergibt sich aus seinen negativen Auswirkungen auf den Zustand der Seele, die das höchste Gut des Menschen sei. Ihre Wertigkeit ist demnach über dem bloßen Leben und der körperlichen Integrität angesiedelt. Deutlich unterscheidet Sokrates zwischen Unrechttun und Unrechtleiden und legt im "Kriton" dar, dass er lieber Unrecht erleiden möchte, als ein Unrecht zu begehen.

Im "Kriton" geht es mithin um den Rechtsgehorsam gegenüber ungerechten Gerichtsurteilen und um die Pflicht zum Rechtsgehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen. Dass eine Flucht den Tatbestand des Unrechttuns erfüllt hätte, erläutert Sokrates im "Kriton" zunächst auf abstrakt-philosophischer Ebene und dann mit Hilfe der Rede der Gesetze. Diese explizieren in aller Ausführlichkeit das "Bösestun-" und das "Übereinkunftsargument", die jeweils für sich genommen die Schlussfolgerung tragen, dass die Flucht ein Unrechttun sei.

Dementsprechend untersucht der Autor in aller Ausführlichkeit die Struktur der Rede der Gesetze, das "Bösestun-Argument", das "Übereinkunfts-Argument", fügt einen Exkurs über Sokrates und Locke ein und befasst sich mit "Überzeugen und Gehorsam" sowie mit dem Phänomen "Ziviler Ungehorsam".

Die im Kriton aufgeworfenen Fragen sind fraglos immer noch aktuell und die dort erteilten Antworten, auch wenn sie vielleicht in unserem Jahrhundert nicht mehr direkt überzeugen, auf jeden Fall bedenkenswert.


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