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Die Stricke der Religion
Aber Religion kann nicht nur Stütze sein und Halt verleihen, sie kann auch einengen und versklaven, insbesondere Frauen. Das war und ist vor allem in den monotheistischen Religionen der Fall. Im Christentum werden seit einigen Jahrzehnten die Frauen immer emanzipierter, im Islam und im orthodoxen Judentum dagegen sind Frauen nach unserem Verständnis noch immer arm dran. Das wird drastisch sichtbar in dem autobiografisch gefärbten Roman "Stricke" des israelischen Schriftstellers Chaim Be'er (Jahrgang 1945). Er spielt in der Welt der jüdischen Orthodoxie, in Mea She'arim, im Viertel der ultraorthodoxen Juden in Jerusalem. Die in diesem Viertel wohnenden Menschen widmeten, und tun es oft heute noch, ihr Leben dem Tora-Studium. Außenstehende sehen darin nicht selten nur ein Synonym für religiösen Fanatismus. Wer sich also auf die Lektüre dieses Buches einlässt, betritt eine bizarre, fast verwunschene, aber keineswegs heile Welt, die unserem Kulturkreis weitgehend unbekannt ist.
Da ist zunächst die achtzigjährige Großmutter. Sie erzählt gern abenteuerliche, mythische Geschichten - der eifrigste Zuhörer ist ihr kleiner Enkel Chaim - und verschlingt alles Gedruckte, das ihr in die Hände fällt, "mit unersättlicher Begierde". Dabei konnte sie bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr weder lesen noch schreiben. Die fanatisch gottesfürchtigen Männer, die ihr Leben beherrschten, zuerst der Vater, später ihr Mann, haben ihr aufgrund religiöser Anschauungen verwehrt, Wissen zu erwerben - da dieses Recht ausschließlich Männern vorbehalten sei. Mit den Worten des Psalmisten, "die Würde der Königstochter zeigt sich im Hause", habe man ihr beigebracht, dass sich ihre Welt auf Kinder, Küche und die Frauenabteilung der Synagoge zu beschränken habe. Erst als Witwe blühte sie richtig auf. Heimlich und ohne fremde Hilfe brachte sie sich Lesen und Schreiben bei. Von ihr erfuhr nun der Enkel nach und nach die mit vielen überraschenden Wendungen, Wundern und Versuchungen überfrachtete Geschichte ihrer alten, aber jetzt auseinander brechenden Familie.
Die Mutter wiederum hatte als junges Mädchen der Engstirnigkeit ihres Vaters und der Unbildung ihrer Mutter zu entkommen versucht. Aber der Mann, auf den sie alle Hoffnung gesetzt hatte, hatte sie enttäuscht und betrogen, und als dann noch ihre beiden kleinen Töchter früh verstarben, verlor sie den Glauben an Gott. Nach ihrer zweiten Heirat schenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Sohn Chaim aus dieser Ehe.
Der Vater Chaims wiederum war ein Jude des Rituals, den es vor allem wegen der Form, nicht wegen der Inhalte in die Synagoge zog. Denn seitdem er in Russland Pogrome miterlebt hatte, glaubte auch er nicht mehr an Gott. Für ihn hatte das "Hurenhaus, das man gemeinhin die Welt nennt .. keinen Hausherrn." Trotzdem begab er sich regelmäßig in die Synagoge. Außerdem übte er wirkliche Barmherzigkeit aus, die darin besteht, dass man die Armen dabei nicht beschämt.
Daneben tauchen noch einige Verwandte auf, wie etwa der Onkel Jakob, der mit seiner Frau Sulka eine biblisch-idyllische Ehe führt.
Bei Licht betrachtet, bemühen sich hier drei Menschen auf unterschiedliche Weise, ihrer Tradition den Rücken zu kehren, ohne wirklich imstande zu sein, den engen Raum der Orthodoxie ganz zu verlassen. Erst dem Schriftsteller Chaim Be'er gelingt es, schreibend sich der Stricke, die alle gefesselt haben, bewusst zu werden und sich von ihnen zu befreien. Wichtig wird für Be'ers Lebenslauf die Bibliothek in Jerusalem, die er Mitte der fünfziger Jahre zum ersten Mal betritt. Für ihn wird sie das Tor zur Welt. Ähnlich erging es Ulla Hahn, als sie zum ersten Mal mit der Welt der Bücher in Berührung kam.
Im selben Milieu, nämlich in Mea Schearim in Jerusalem spielt auch der Roman "Die Verstoßene" von Eliette Abécassis. Die 26-jährige Rachel erzählt von ihrer Ehe mit Nathan, mit dem sie verheiratet wurde. Als die Ehe kinderlos bleibt und Rachel deswegen von ihrem Ehemann verstoßen wird, obwohl nicht sie an der Kinderlosigkeit schuld ist, sucht sie Befreiung im Tod. Die Restriktionen durch die jüdischen Religionsgesetze zeigen auch hier deutlich, dass für rigide Gläubige der einzelne Mensch und sein Glück nicht zählen.
In vielen anderen israelischen Roman, wie etwa in Leon de Winters "Leo Kaplan", treten dagegen glaubenslose Juden auf, die mit ihrer Religion jeden Halt in der Welt verloren haben.
Gottesverlust und Gottesferne spürt man auch in Gedichten von Paul Celan und in Elie Wiesels Roman "Abenddämmerung in der Ferne".
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