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Autoren erzählen von ihrer christlichen Kindheit
Martin Walser berichtet in seinem 1998 erschienenen Roman "Ein springender Brunnen" von seiner Kindheit in einer kleinen Stadt am Bodensee. Religiöse Strukturen werden auch hier sichtbar, obwohl die Geschichte überwiegend während des Dritten Reiches spielt, in dem die Kirche nicht viel zu sagen hatte. Aber an der katholischen Lebenspraxis hält die Familie auch weiterhin fest und erkennt die Autorität der Geistlichkeit uneingeschränkt an.
Später wird für Martin Walser Gott "eine Lesefrucht":"Manchmal scheint auch Winnetou, unsere letzte und reinste Rettungsfigur nicht mehr helfen zu können. Dann bleibt uns noch Gott. Die Superfigur. Auch eine reine Literatur- und Lesefrucht. Religion ist ja die erste Literatur überhaupt. Sie ist die Gründung der Fiktion. Was wir an Literatur haben, ist bastardisierte Religion. Gott mit allem Drum und Dran ist ja nichts anderes als unsere erste Antwort auf unsere Hilflosigkeit, Hilfsbedürftigkeit. Deshalb haben wir ihn ausgestattet mit Allmacht, Allgegenwart, Unsterblichkeit. Eben mit allem, was uns permanent fehlt. Aber es spricht für uns, finde ich, dass wir Gott so gut geschaffen haben."
In seiner Dankrede zur Verleihung des Büchners-Preises im Jahr 1981 analysiert er die Schrecken, die aus der Büchnerschen Erfahrung vom Fehlen Gottes resultieren und sagte u.a.: "Ob ein Kind, das in einer schon komplett atheistischen Familie heranwächst, noch erschrickt, wenn es fünfzehn oder sechzehn wird und selbst erlebt, dass Gott fehlt? Oder vermisst so jemand überhaupt nichts? Ich möchte annehmen, auch ein richtiges Atheistenkind muss, bevor es in das Gottlosigkeits-Stadium seiner Eltern eingehen will, durch ein Dickicht durch, in dem Gott mit jedem Ast den Weg verbaut und unerreichbar ist, sobald man glaubt, man brauche ihn. Womit ich nur sagen will, auch wir, die wir seit Jahrzehnten zuschauen, wie Gott in den Laboratorien der Theologie zerbröselt wird, wir, die den Glaubenskampf jeweils an die Modedisziplin, momentan also an die Linguistik, delegieren, auch wir können noch in den Schrecken des jungen Büchner fallen, wenn wir wieder einmal zahnwehhaft scharf spüren, dass Gott fehlt. Und diese typische Büchnerstimmung, dieses, wenn Sie gestatten, merrettichhafte Leererlebnis kommt also von nichts als von der jeweils jäh einschießenden Erfahrung, dass Gott fehlt." Walser zitiert Lenz, der sagt:" ..wär ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten..." Walser fährt fort:"Daran stirbt ihm sein Gott, dass er den Menschen nicht helfen kann. Büchner kann Menschen nicht leiden sehen, das ist alles. Ein Gott, der nicht hilft, ist keiner. Aber wenn dann keiner ist, schießt eben aus allem, was Zeit und Raum servieren, dieser Leere-Schrecken heraus. Und in einer Welt, aus der die Dimension Gott verschwunden ist, schnurrt dieses Ich, das gerade noch fantastisch aufgelegt schien, zu einem trockenen, einsamen schmerzhaften Punkt zusammen. Darum ist jeder bei Büchner ein armer Hund. Danton und Robespierre, Woyzeck und der Hauptmann. Bei einem, bei dem das Leiden alles und dem alles zum Leiden wurde, kann es keine privilegierten Existenzen geben. 'Der Aristokratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen', schreibt er im Brief an seine Eltern."
Walser kommentiert: "Und ein Gott, der nicht helfen kann, muss weg. Egal wie schlimm der Leere-Horror sei, der dann folge. So wenigstens Büchner." Auf einer seiner Lesereisen im Jahr 2000 bekannte Walser ganz offen, dass seine Beschädigung durch die katholische Erziehung auf der Hand liege. "Ich kann nichts in meinem Leben genießen, ohne daran zu denken, dass ich das nicht darf. Ein katholisches Kind bleibt in gewisser Weise verkrüppelt."
Warum das so ist, zeigt nicht nur Walsers Kindheitsroman sehr deutlich. Verklemmte angstbesetzte katholische Erziehung, die angehenden Kommunikationskindern absurde Sünden einredet, von denen sie nur durch die Beichte befreit werden könnten, statt ihnen wirklich Gottes Wort der Liebe nahe zu bringen, hat nicht nur Walser und seine Zeitgenossen beschädigt, sondern viele Generationen vor und nach ihm, denen ebenfalls eine rigide religiöse Erziehung zuteil wurde.
In Ulla Hahns Kindheitsroman "Das verborgene Wort" übt der rheinische Nachkriegskatholizismus eine fast alles beherrschende Macht aus, insbesondere auf die Arbeiterkultur. Der Klerus behandelt seine Gläubigen zur Adenauerzeit wie unmündige Kinder, denen man sagen muss, was sie zu wählen haben, damit nicht die SPD oder schlimmer noch die KPD in die Rathäuser einzieht. Das Kind, das auf seine erste Kommunion vorbereitet wird, fragt, warum der im Sterben liegende Großvater so sehr leiden müsse und wird mit der nicht nur für ein Kind unverständlichen Antwort abgespeist, dass Jesus die Leidenden brauche, sonst könne er nicht barmherzig sein.
Die Protagonistin Hildegard Palm wächst in einem bedrückenden, geistfeindlichen Milieu auf, in dem die Menschen nur auf die Sicherung der nackten Existenz bedacht sind und durch einen gefühlskalten und Herzen verhärtenden Katholizismus um die wenigen Glücksmöglichkeiten ihres materiell und seelisch verarmten Lebens gebracht werden.
Jedoch bedeutete der katholische Glaube in Ulla Hahns Kindheit nicht nur Beengung. Er gab auch Halt und Kraft und ermöglichte dem heranwachsenden Kind die Begegnung mit etwas Schönem und Utopischem sowohl durch den Kirchenraum mit seiner alles überragenden beeindruckenden Größe als auch durch die feierliche Musik und die getragene lateinische Sprache, die dort gepflegt wurden und die die Seele des Kindes weit und hell machten. Dem Kind begegneten ferner Schutzengel in Gestalt von Menschen - Lehrern, Pastören, Kinder- und Schulschwestern -, die ihr geholfen haben und von denen einige für Hildegard Poesie und Menschlichkeit der Kirche verkörperten.
Hildegard Palm alias Ulla Hahn flüchtet, sobald sie lesen und schreiben kann, immer mehr in die Wörterwelt und versucht, den Dingen das verborgene, in ihnen schlafende Wort zu wecken, denn: "Mit Schreiben und Lesen fängt das Leben an". Dieser Satz auf einer mesopotamischen Wachstafel bildet das Motto des Romans. Heißt es doch schon bei Eichendorff "und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort." Die Poesie, nicht die Religion wird Ulla Hahns Rettung.
Welche Rolle heute die Religion im Leben der Lyrikerin einnimmt, vermag ich nicht zu sagen. Dies geht weder aus ihrer Biographie noch aus ihren Gedichten klar hervor.
Natürlich greift auch Ulla Hahn wie viele andere Lyrikerinnen und Lyriker auf biblische Bilder und Metaphern in ihren Gedichten zurück, wie etwa auf Kreuz, Vaterunser und Engelszungen. Allenfalls drückt ihr "Danklied" ihr gegenwärtiges Verhältnis zu Religion und Gott aus:
"Ich danke dir, dass du mich nicht beschützt, /dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche, /
kein Firmament bist für den kleinen Bärn, /
und nicht mein Stab und Stecken, der mich stützt. /
Ich danke ich für jeden Fusstritt, der /
mich vorwärts bringt zu mir /
auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn. /
Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer. /
Ich dank dir für dein schönes Angesicht, /
das für mich alles ist und weiter nichts. /
Und auch dass ich dir nichts zu danken hab /
als dies und manches andere Gedicht."
Ulla Hahn hat also durchaus christliche Tradition und biblische Bilder in ihrer Lyrik verarbeitet. "Das Denken in Bildern macht uns die Bibel vor", sagte sie einmal im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel. Auch stecke hinter dem Aufgreifen biblischer Bilder "die Sehnsucht nach etwas, was es in der Wirklichkeit nicht gibt, aber doch in der Bibel verheißen ist." Gefragt, ob sie an die Wirklichkeit Gottes glaube, antwortete sie:"Ich möchte gerne glauben, dass es so etwas gibt."
Vielleicht trifft ja auf Ulla Hahn in erster Linie das Goethe-Wort zu, das da lautet:
"Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, /hat auch Religion, /
wer jene beide nicht besitzt, /
der habe Religion."
Um den Verlust des Kinderglaubens geht es auch in Franz Fühmanns "Meine Bibel" und in Christoph Heins "Von allem Anfang an". Schon 1965 sprach Friedrich Dürrenmatt als geschädigter Pastorensohn rückblickend vom "schemenhaften lieben Gott" seiner Kindheit, "den man anbeten, um Verzeihung bitten musste, von dem man aber auch das Gute, das Erhoffte und Gewünschte erwarten durfte, als von einem rätselhaften Überonkel über den Wolken."
"Überblickt man die Äußerungen verschiedener Autoren zu Bibel, Religion und Kirche insgesamt, so ist bemerkenswert", schreibt Magda Motté, "dass die Entwicklung des Glaubens von der naiv kindlichen Zuversicht zum angefochtenen Vertrauen des Erwachsenen fast nie gelungen ist. Die meisten reiben sich an amtskirchlichen Verlautbarungen und Praktiken."Mit zunehmender Gleichgültigkeit dem christlichen Glauben gegenüber verschwinden selbst die Relikte einer christlichen Kindheit, wie sie in den Werken älterer Autoren noch vielfach zu finden sind. Nur noch wenige Kinder und Jugendliche wachsen als Getaufte in einem homogen christlichen Raum auf, werden von jung an auf christliche Werte verpflichtet und erleben das liturgische Kirchenjahr wie ihre Großeltern. Die nachwachsenden Generationen werden von ganz anderen Problemen und Krisen bewegt als ihre Eltern und Großeltern.
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