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Hat die Kunst noch Transzendenzcharakter?

Allen Anfechtungen und äußeren Anzeichen zum Trotz glaubt George Steiner, dass "Gottes Gegenwart" sogar in jedem großen ernsthaften Kunstwerk präsent sei. Diese Gegenwart hängt nicht von der Tendenz oder inhaltlichen Konzeption des Kunstwerks ab, sondern von dessen ästhetischer Qualität. Der Mensch könne in der Begegnung mit einem großen Kunstwerk Transzendenz erfahren. Die Literatur von Homer und der "Orestie" bis hin zu den Romanen Dostojewskis und Kafkas sei ohne "eine transzendentale Dimension" nicht zu denken. Solange der Mensch, vermutet Steiner, in einem paradiesischen Zustand leidlos und versöhnt mit sich und mit Gott gelebt habe, habe es "vermutlich keinen Bedarf für Bücher oder Kunst" gegeben. Erst mit dem Bewusstsein des Todes sei dies anders geworden. Alle große Kunst hätte Transzendenzcharakter. Dichtung, Musik und Kunst bringe den Menschen deshalb "in direkteste Beziehung zu dem im Dasein, das ihm nicht gehört."

Wirkliche Kunst fordert uns existentiell heraus und provoziert auch die Theologie zu einem Verhalten zu ihr, schreibt Steiner und beruft sich auf Hölderlin, für den Dichter und Denker diejenigen waren, die den Sterblichen den Weg zu den entflohenen Göttern ebnen. Künstler, Dichter und Denker sind Seismographen, so Steiner, für die Wahrnehmung von Brüchen und Widersprüchen in der Welt und an der Welt. Vor allem die Werke Dantes könne man als ununterbrochene Meditation über Schöpfung in poetischer, metaphysischer und theologischer Sicht erfahren.

Eine explizite Auseinandersetzung mit Transzendenz gibt es bei einem Aischylos, einem Dante, einem Bach oder einem Dostojewski, sie ist in einem Porträt Rembrandts oder in Prousts Recherche zu spüren. Kann es und wird es große Philosophie, Literatur, Musik und Kunst atheistischer Herkunft geben? fragt Steiner und fährt rhetorisch fort: Was wäre die atheistische Entsprechung zu einem Fresko von Michelangelo oder König Lear?


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