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Gertrud Kolmars Briefe - ein Kleinod

In den Jahren 1938 und 1939 begann zwischen Gertrud Kolmar und ihrer in die Schweiz emigrierte Schwester Hilde Wenzel ein reger und mehrere Jahre anhaltender Briefwechsel, von dem allerdings nur Gertrud Kolmars Briefe erhalten geblieben sind. Sie sind eines der wenigen autobiografischen Zeugnisse der Dichterin und daher von unschätzbarem Wert. Geben diese doch Auskunft über ihr Leben in den Jahren der Entrechtung und über ihre Haltung des aktiven Duldens, mit der sie der Diskriminierung und Todesdrohung in Würde und ohne Selbstzerstörung begegnete. Außerdem gewähren die Briefe Einblick in ihre Lektüre und in ihr dichterisches Selbstverständnis. Sie zeigen Gertrud Kolmar als eine Frau, die Urteilskraft mit Mitgefühl in hohem Maße verbindet. Daneben geht Gertrud Kolmar auch auf die Probleme und Sorgen ihrer Schwester ein, die anfangs in der Schweiz keine Arbeitserlaubnis bekam und offensichtlich mit ihrer beruflichen Selbstfindung gewisse Schwierigkeiten hatte. So zeigt sie sich tief berührt, ja erschüttert, als sie in einem der Briefe ihrer Schwester liest, "es gibt nichts, was ich mehr liebe als meinen Laden und die Arbeit." Sie selbst, gesteht Gertrud Kolmar, könne sich "eine gleichsam 'absolute' Liebe zu einem Berufe, der mit Mann und Kind nichts zu tun hat, ...zwar denken; aber ich kann sie nicht mitempfinden."

Wichtig werden für Gertrud Kolmar die Briefe an die jüngste Schwester, weil sie hier ein Echo empfängt. Mitunter blickt sie in ihren Briefen auf die Kindheit zurück. Sie gerät dann ins Erzählen und erinnert sich genau, zum Beispiel an frühere Weihnachtsabende. "Habt Ihr ein Bäumchen? Sicherlich doch. Ich sprach neulich mit Hilde(Benjamin)darüber, welchen essbaren Baumschmuck wir am liebsten gemocht hätten; sie meinte, die Schokoladenkränze mit weißem oder buntem Mohn, und ich meinte, das Russische Konfekt und die Quittenwürstchen. Ein nicht essbarer Schmuck übrigens ...waren die ..beiden Krokodile aus Watte, die Großmama Schoenflies uns geschenkt hatte und die jede Weihnachten über die Tannenzweige krochen, eine zoologische Merkwürdigkeit...". Selbst in den Jahren der Verfolgung beging die Briefeschreiberin noch immer das Weihnachtsfest.

Köstlich sind vor allem die Briefe, die Gertrud Kolmar an ihre Nichte Sabine, der 1933 geborenen Tochter von Hilde und Peter Wenzel, schreibt. Sie nennt sie liebevoll "das kleine Ungeheuer", mitunter auch "Bienelein" oder spricht von ihr als einem kleinen bestrickenden Wesen. Aus vielen dieser Briefe schimmern das weitherzige Verständnis und der Humor durch, die Gertrud Kolmar als Erzieherin zu eigen gewesen sein müssen. Hier einige Kostproben von Briefen an Sabine oder solchen, in denen von ihr die Rede ist:

"Liebe Hilde", schreibt sie am 12.Juni 1936: "Püppi ist mir eine wundervolle Hilfe. Sie deckt den Tisch, räumt ab, füttert die Hühner mit Löwenzahnblättern und gießt die Erdbeeren mit einer kleinen 'Dießkanne.' - Mit vielen schönen Grüßen Trude." Der nächste Brief stammt von Sabine gen. Püppi, den die Tante in deren Namen an die "Liebe Mutti" geschrieben hat und in dem sie Sabine über sich, die Tante, ein wenig spötteln lässt.

Im März 1941 lässt sie Hilde wissen:

"Ich finde das auch sehr unrecht von dem Papa, dass er die Rechtschreibung seiner Tochter bemängelt. 'Spiele' kann jeder schreiben, aber 'SBILE' nur das kleine Ungeheuer! Das ist doch mal was anderes! Und wenn man bedenkt, dass sie vielleicht noch siebzig, achtzig, neunzig Jahre lang 'Brief' mit dem 'e' schreiben wird, warum soll sie das Wort dann nicht während eines kurzen Jahres ohne 'e' malen? Hauptsache ist, dass dem Kind die Freude am Schreiben und Lesen erhalten und gekräftigt wird. Schularbeiten sollen überwacht und verbessert werden, ja; aber wenn das Kind einmal zu seinem Vergnügen den Bleistift in die Hand nimmt, dann soll man an seiner Schreiberei nicht herumnörgeln, sonst wird das Vergnügen auch nur zur Schularbeit, und das ist schade..."

Anderthalb Jahre später fragt Gertrud Kolmar in einem Brief ihre Schwester: "Meinst Du, dass Deine Tochter minder fantasiebegabt ist als Du? Ihre Rechtschreibung spricht gegen diese Annahme. 'Geburztag'-das finde ich herrlich, das schönste Wort vielleicht aus Eurem ganzen Briefe: wie sieht das neu und blank aus, und wie alt und abgegriffen erscheint dagegen 'Geburtstag'. Ich danke dem 'Ungeheuer' recht herzlich für seine Zeilen."

Ihrer Nicht aber schreibt sie am 14.7.1940: "Nun bleibe weiter gesund und brav und wenn Du mal ungezogen bist - ein Kind muss auch mal unartig sein, nicht wahr, damit der Mutti das ewige Artigsein nicht zu langweilig wird - also wenn Du schon mal ungezogen bist, dann bleibe es nicht zu lange."

Dann wieder schildert Tante Trude ihrer Nichte von ihrer eigenen Geburtstagsfeier, als sie selbst noch Kind war oder wie sie als Kind in einem See gebadet habe und ein anderes großes Mädchen "beim Springen von dem hölzernen Turm das Sprungbrett abbrach und mitsamt dem Brett ins Wasser sauste - aber ich will aufhören, sonst gibt's von dem vielen Wasser am Ende noch eine Überschwemmung."

In einem anderen Brief erzählt die Tante ihrer Nichte:"..als Opa uns sagte:'Ihr habt ein Brüderchen bekommen, meinte ich:' Ein Eulchen wär' mir lieber...

Du hast mir eine Eule geschickt; hat die Mutti Dir gesagt, dass ich die Eulen so gern mag? Ich bin selbst so eine halbe Eule, weil ich nämlich im Dunkel auch so gut sehe; bloß Mäuse esse ich nicht. Mich wundert nur, dass die Mäusekarte an Opa angekommen ist, dass die Eule nicht unterwegs die Mäuse gefressen und bloß den Pilz und den Frosch übrig gelassen hat.."

In einigen Briefen an ihre Schwester äußert sie sich über andere Dichter und ihr eigenes Selbstverständnis. So erfährt man, dass sie Rilke sehr geschätzt, aber erst so spät kennen gelernt hat, dass er sie nicht mehr beeinflussen konnte. Allerdings hatten beide ein gemeinsames Vorbild: "die große französische Lyrik."

Von sich selbst sagt sie: "Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein" "..ich versuche, wahrscheinlich mit unzulänglicher Kraft, für die Ewigkeit zu schaffen." Der Erfolg sei ihr nicht wichtig genug, "wesentlich ist anderes." Doch lag ihr nichts daran, "an einem Himmel mittlerer Gestirne als Stern erster Größe hervorzuleuchten."

"Auch mein Flussbett trocknet nicht selten aus, aber dann quäl' ich mich nicht damit ab, ihm künstlich Kanalwasser zuzuleiten, sondern warte still, bis der Regen des Himmels die versiegte Flut erneuert."

Als sie trotz widriger Umstände eine Erzählung verfasst, schreibt Gertrud Kolmar: "Freilich ist es nur Prosa, nicht Vers, was ich schreibe, eine Erzählung: jedenfalls kam dies Wieder-Gestaltenkönnen nach längerer Schaffenspause als ein ungeahntes Geschenk." .."etwa 26 Heftseiten allerdings eng beschrieben, in 3 Monaten, das ist ein Schneckengang, dennoch bin ich so froh, dass es überhaupt ging! Mir scheint, dass diese Leistung mich nicht bloß seelisch, sondern auch körperlich gekräftigt hast;.."

In einigen Briefen macht sie sich Gedanken über die Bibel, über Altersfrömmigkeit. über Spinoza und die Freiheit des Willens.

Ihre letzten Briefe an die Schwester und an andere Empfänger legen Zeugnis davon ab, wie ihr Selbstbewusstsein und Widerstandskraft gegenüber dem unmenschlichen Schicksal ständig zuwuchsen. "Meine Aufgabe hat gleichsam in mir gelegen: da liegt sie noch, und was ich suche, ist nur der der geeignete Ort, an dem ich mich ihr widmen kann", heißt es noch am 13.Mai 1939. Am 1.Oktober 1939 aber bekennt sie: "Ich habe mich inzwischen immer tiefer in das Bleibende, das Seiende, das Ewigkeitsgeschehen zurückgezogen (dies Ewigkeitsgeschehen braucht nicht nur 'Religion', es kann auch 'Natur, kann auch 'Liebe' heißen).."

Im "Wort der Stummen" steht am Ende das Gedicht "Der Engel im Walde"(in Motiv und Haltung auf ein Gedicht gleichen Titels im Zyklus "Welten" von 1937 deutend). In diesem Gedicht hat die Dichterin eine Gestalt des Nichthandelns entworfen, "als ein Inbegriff reinen Leidens und des Einverständnisses mit dem Geschehen" (Silvia Schlenstedt). Dieser Engel ist Symbol für eine geistig-seelische Verfassung, die die Dichterin in ihren letzten Jahren zu erringen suchte: ein Sein"außerhalb aller Wirklichkeit", durch das Ruhe und innere Harmonie gefunden werden kann. Es ist eine tief religiöse Haltung, die auf eine ganz eigentümliche Weise Selbstaufgabe und Lebensbejahung zu vereinen gestattet. 1941, nachdem sie zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war, sagte Gertrud Kolmar von sich, zu ihrer "Kraft zum Dulden" gehöre "etwas durchaus Aktives": der Glaube, "dass der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu verwandeln vermag, mit ihm ringen kann, wie Jakob mit dem Engel kämpfte." Das Verstehen des eigenen Schicksals, die Beziehung zu Gott und das große Verhängnis am Ende ihres Lebensweges sieht sie unter dem Bibelwort:"Ich lasse dich nicht, Du segnest es mich denn." - "..auch Schillers Wort gilt wohl für mich:'Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, und sie steigt von ihrem Weltenthron. 'Leider, leider und das ist es, was mich so niederdrückt, findet meine Auffassung, meine Einstellung, wo sie sich äußert, fast niemals ein Echo ..ich kann anderen Schicksalsgenossen von der seelischen Kraft, die ich besitze, nichts abgeben." Das Bild vom mit dem Engel kämpfenden Jakob taucht in den Briefen häufiger auf, so auch in einem der Briefe an Hilde:

"..der Glaube daran, dass der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu verwandeln vermag, mit ihm ringen kann wie Jakob mit dem Engel kämpfte:"Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn:" Ich kann solche Haltung gut verstehn; geht es mir doch mit meiner jetzigen Arbeit ähnlich, ob aber Dir das klar ist?" In einem anderen Brief liest man das erstaunliche Bekenntnis: "Ich habe niemals eine Enttäuschung erlebt, und die Wirklichkeit war stets unausdenkbar schöner als alle Illusionen. Glaubst du mir das? Es war so für mich. Nicht, als ob ich nie unglücklich gewesen sei, als ob ich keinen Schmerz erlitten hätte. Nein, ich bin sehr, sehr unglücklich gewesen; ich habe große und tiefe Schmerzen erduldet, die ich doch auch geliebt habe wie eine werdende Mutter die Qualen lieben kann, mit denen ihr Kind sie segnet. Aber ich hatte das alles vorher geahnt, es kommen sehn, im voraus schon auf mich genommen; ich kannte den hohen Preis, den ich zahlen würde, da gab es keine Enttäuschung. Ich hab' die Vokabeln 'ewig', 'beständig, 'treu' (soweit sie auf meinen Partner Anwendung finden sollten) von vornherein aus meinem Wörterbuche gestrichen. Wozu wohl auch schon der Umstand mich führte, dass ich niemals 'die Eine' war, immer 'die Andere'..Du magst mich für sehr anspruchslos halten; ich war es nicht...Ich habe Kleines, Kleinliches, Hässliches auch erlebt, ich habe durch allerhand Dreck hindurchwaten müssen. Aber hinterher sagt' ich immer und sag' es auch heute noch: Was war, war gut..."

In dem Verlangen, "dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn zu geben", vermochte die Dichterin gegen Verzweiflung und Einsamkeit Bilder einer Fülle und Diesseitigkeit herauszustellen, die ihren nie aufgegebenen Anspruch auf die Bewahrung des Humanen vermitteln.

An Susanne Jung richtete Gertrud Kolmar am 26.Oktober 1941 folgende Zeilen: "Glaube mir, dass ich, was auch kommen mag, nicht unglücklich, nicht verzweifelt sein werde, weil ich weiß, dass ich den Weg gehe, der mir von innen her bestimmt ist.. So viele von uns sind ihn, die Jahrhunderte hindurch, gewandert, warum sollte ich anders gehen wollen als sie! ...Diese Wanderung wäre lediglich eine durch äußere Umstände erzwungene, ich will vor dem nicht fliehen, was ich 'innerlich' soll. Ich habe bisher nie so wie heute gewusst, wie stark ich bin, und dieses Wissen erfreut mich."

Gertrud Kolmar war, wie Kafka und viele andere Juden, von der Vorstellung besessen, dass, wo eine Strafe ist, auch eine Schuld sein muss. Das bezeugen zahlreiche Gedichte und auch die Erzählung "Die jüdische Mutter". Das gleiche Bewusstsein einer unbenennbaren Schuld lässt Gertrud Kolmar wenige Tage nach ihrem Geburtstag am 15.Dezember 1942 in einem ihrer letzten Briefe an ihre Schwester folgende Worte finden: "So will ich auch unter mein Schicksal treten, mag es hoch wie ein Turm, mag es schwarz und lastend wie eine Wolke sein. Wenn ich es schon nicht kenne, ich habe es im voraus bejaht, mich ihm im voraus gestellt und damit weiß ich, dass es mich nicht erdrücken wird, mich nicht zu klein befinden.

Wie viele von denen, die heute im bloßen Anblicken eines für sie viel zu großen Schicksals zusammenklappen, haben sich denn gefragt, ob sie nicht irgendeine Strafe verdient haben, nicht irgendeine Sühne leisten müssen? Ich war nicht schlimmer in meinem Trachten und Tun als andere Frauen. Aber ich wusste, dass ich nicht lebte, wie ich gesollt und war immer bereit zu büßen. Und alles Leid, das über mich kam und über mich kommen mag, will ich als Buße auf mich nehmen, und es wird gerecht sein. Ich will es tragen, ohne Jammern und irgendwie finden, dass es ist, was zu mir gehört, das auszuhalten und irgendwie zu überstehen ich geschaffen ward und gewachsen bin mit meinem Wesen."

Bei Gertrud Kolmar nimmt das Opfer nicht nur das Leid, sondern auch noch die Schuld auf sich und lässt die Schergen ungeschoren. In der Gestalt der Martha Jadassohn ist diese Schuld sogar als Tat nach außen gekehrt. Die Mutter tötet ihre geliebte kleine Tochter, die von einem Vergewaltiger schwer verletzt worden ist. Ihr Tod in der Spree dient als Buße.

In Kolmars Werk wird Schuld immer wieder spürbar, ist unüberwindlich gegenwärtig und doch ist der Schuldige ebenso wenig auszumachen wie die Ursache der Schuld. Es ist unendlich viel Schuld in der Welt - das war Gertrud Kolmars feste Überzeugung, ja eigentlich kennt sie nur Schuldige, im Zweifel ist sie es selbst, die mit sich hadert und in dem, was ihr geschieht, Strafe sucht.

Zudem hat das Erbe ihrer Kindheit Gertrud Kolmar Zeit ihres Lebens aufs schwerste belastet: Eine unstillbare Sehnsucht nach der zu früh entbehrten innigen Nähe zur Mutter und das Bedürfnis nach Selbstaufopferung in der Beziehung zur Welt. Über Leben und Werk der Dichterin steht wie ein Symbol des Fehlenden Raffaels Bildnis der "Madonna Tempi" eine der größten Darstellungen der Nähe und Vertrautheit zwischen Mutter und Kind. Diesem Bild hat Gertrud Kolmar das erste Gedicht ihrer ersten Veröffentlichung von 1917 gewidmet.

"O Mutter! Deren Arm ein All umspannt! /

So süß entzückt, mit schüchternem Begreifen, /

So zitternd trägt ihr Blümlein deine Hand /

Und wagt es kaum, den zarten Schmelz zu streifen.. /

Ich knie nicht vor der Himmelskön'gin Thron, /

An einem Frauenglück möcht teil ich haben; /

Ich grüß die Mutter mit dem kleinen Sohn, /

Nicht die Madonna mit dem Jesusknaben."

("Madonna aus dem Hause Tempi, Strophe 1 und 5)

Die Rivalität zur Mutter war für Gertrud Kolmar von vornherein mit Schuld beladen.

Ihre Briefe schildern außerdem völlig unsentimental den Alltag der verfolgten Juden in Berlin und die Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik. Doch verschweigt sie, welchen Schikanen und Einschränkungen sie immer mehr ausgesetzt ist, welcher Unmenge von Verboten sie unterliegt. Das alles verschweigt sie in ihren Briefen, nicht nur wegen der Zensur, sondern auch aus Rücksicht auf die Schwester.

Ab 1939 dürfen Gertrud Kolmar und ihr Vater keine Theater, Kinos und Konzerte mehr besuchen. Durch jede neue Verordnung wird ihr Leben immer mehr ghettoisiert und sie selbst mehr und mehr vom Stadtalltag ausgeschlossen. Sie müssen wie alle Juden im Hitler-Regime ihren bürgerlichen Namen die Vornamen Sara und Israel hinzufügen und ab 1.September 1941 den Judenstern "sichtbar auf der linken Seite des Kleidungsstückes" tragen. Wiederholt schreibt Gertrud Kolmar von einem "Gefühl der Unwirklichkeit" ihres Lebens.

Als sie zur Fabrikarbeit gezwungen wird, klagt sie nicht direkt, aber man spürt zwischen den Zeilen, wie schwer und belastend der Alltag für sie wird, "zum Lesen komme ich jetzt nicht viel."

Ihr Wille zum Dienen - (eins ihrer Gedichte trägt die Überschrift "Dienen") -, ihr Pflichtgefühl und ihr hohes Verantwortungsbewusstsein für andere kommen in der Schilderung des Alltags gleichfalls deutlich zum Ausdruck sowie ihre persönliche Bescheidenheit und Zurückhaltung und ihre - wie ihre Schwester es nennt - sprichwörtliche Demut.

"Ich bin lieber in der Fabrik als zu Hause", heißt es einmal, denn bei den Männern fühlt sie sich wohler als bei den Frauen, obwohl die Arbeit leichter ist, aber das Geschwätz und Geschrei dort gehen ihr auf die Nerven, ähnlich wie die Mitbewohner ihrer Wohnung. Sie berichtet von den beengten Wohnverhältnissen; ihr ist "kein Zimmer für sich allein" geblieben. Die zwangseingewiesenen Mieter, Juden aus dem bürgerlichen Mittelstand, empfindet sie als oberflächlich und geschwätzig. Vom vergreisenden Vater entfremdet sie sich immer stärker. "Zu Hause", schreibt sie, "fühlt sie sich nur noch in der Fabrik, allerdings auch hier nur bei den Arbeitern, nicht bei den Damen ihres Standes. Als hätte mit dem Einzuge unserer Mieter jeder gute Geist unsere Wohnung verlassen; ich schau und höre nur Unnützes, Törichtes, Unliebsames, Schlimmes ..Und ich bin willens, mich jetzt nur noch an das Wesentliche zu halten und alles andere abzutun, wie ein plundriges Kleid." Hilde Wenzel bemerkt dazu im Nachwort von "Das Lyrische Werk": "..alles Zweideutige und Vulgäre war Gertrud zuwider, darin ihrem Vater gleich, der vom Tisch aufstehen konnte, wenn ein Gast eine zweideutige Geschichte erzählte.."

Oft zieht sich jetzt Gertrud Kolmar zurück und "errichtet wieder eine Mauer des Schweigens um sich."

Als Zwangsarbeiterin entdeckt sie indes eine andere Freude. Verrichtete sie doch die harte Fabrikarbeit durchaus gern und war stolz darauf, dass sie sich qualifiziert und einen Arbeitsplatz unter Männern zugewiesen bekommt, für die sie von diesen Anerkennung erntet. Zudem erlebt sie hier sogar eine Art neue Liebe. Denn zwischen ihr und einem 21jährigen Medizinstudenten, der wie sie in der Rüstungsindustrie arbeitet, entwickelte sich eine tiefere, wenn auch etwas wechselvolle Beziehung, die von ihr als letztes großes Liebesfest gefeiert wird.

In den letzten Monaten, nachdem der Vater abgeholt worden war, muss sich Gertrud Kolmar im "Judenhaus" in der Speyerer Straße sehr einsam gefühlt haben, vor allem um die Weihnachtszeit. Sie schreibt noch einige Briefe an die Schwester nach Zürich, verfasst einige nicht erhaltene Gedichte auf hebräisch, in der Sprache ihrer Sehnsucht.

Zwischendurch versichert sie brieflich ihrer Schwester, so am 7.November 1942:"... ich habe auch Freude.. nur ungetrübt ist sie nicht, was weder an ihm noch an mir liegt", und: "Ganz ohne Freuden bin ich freilich nicht."

Aber: "Soll ich bedauern, dass es nur noch Erinnerungen für mich gibt? Im Gegenteil, ich freue mich, sie zu haben; sind sie gleich nicht die Sommersonnenglut, so wärmen sie doch wie ein Herdfeuer, das an kalten Tagen wohl tut."

Ihrer Schwester Hilde bekennt sie zudem: "Du bist, offen gesagt, der einzige Mensch, zu dem sich meine Beziehungen seit seiner Auswanderung nicht verflacht, nicht bloß erhalten, sondern bedeutend vertieft haben" und: "Und sollten wir nicht sogar unsere Trennung irgendwie bejahen? Wären wir beide je einander so nahe gekommen, wenn uns das Schicksal so weit von einander entfernt hätte? Dass das Eine so bleiben und das Andere sich ändern möge, wünscht zum neuen Kalenderjahr Deine Trude." Offensichtlich stirbt tatsächlich die Hoffnung zuletzt.

Durch ihre Briefe ist mir die Dichterin ein gutes Stück näher gerückt, gerade weil diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, sondern nur an die jeweilige Adressatin oder den jeweiligen Adressaten gerichtet waren, ist mir die Dichterin durch ihre Korrespondenz mehr und mehr zugewachsen, wobei sich ein Gefühl der Verehrung, fast der Liebe auf Distanz einstellte, schwesterliche Gefühle. Gertrud Kolmars Briefe sind nämlich ein wahres Kleinod, ein kostbarer Schatz und waren mir beim Lesen in unserer so sehr auf Vergnügen ausgerichteten Spaßgesellschaft Labsal und Trost.

Nachdem Gertrud Kolmar abtransportiert worden war, schrieb Peter Wenzel an seine Frau Hilde Wenzel: "Berlin 12.März 1943. Ich weiß nicht, ob Trude Dir noch vor ihrer Abreise schreiben konnte; als ich jetzt einige Tage nach dem Luftangriff in ihre Wohnung ging, fand ich diese nicht so vor wie sonst in den letzten Monaten und wie ich sie vorzufinden hoffte. Obgleich man schließlich mit einem solchen Ereignis rechnen musste, wird Dich diese Nachricht schwer treffen. Aber ich kenne Deinen und Trudes Mut in den Schicksalsschlägen der letzten Jahre und ich weiß, dass Du auch diesen überwinden wirst. Näheres kann ich Dir im Augenblick nicht mitteilen; es ist ja auch belanglos."


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